Hoch zwei

Wir setzen auf Eile am Montagmorgen. Wir schlafen so lange, dass wir beim ersten Piepen des Weckers sofort aufstehen müssen, sonst verpasse ich meinen Zug und du deinen Bus. Während ich im Bad bin, schmierst du mir Brote; während du im Bad bist, packe ich. Wir brauchen 43 Minuten für unsere Routine, deswegen steht der Wecker auf 6:17 Uhr. Früher sind wir 6:15 Uhr aufgestanden, aber dann hatten wir nach dem Rasieren, Deodorieren und dem Tee noch zwei Minuten übrig. Du hast dich dann noch zwei Minuten zu mir gesetzt, wir haben zwei Minuten gesprochen oder ich habe zwei Minuten mit der Hündin gespielt. Dann ging es uns schlechter. Es hat sich bewährt, stattdessen zwei Minuten länger bewusstlos zu bleiben.

Ich ziehe den Reißverschluss bis unter die Nase, damit mir der Regen nicht in den Nacken tropft. Geradeaus gibt es nichts zu sehen; Dunkelheit ist schwarz und Kälte hat keine Farbe. Der Weg ist matschig und schmal, also fällt mein Blick auf den Boden.

Ich befürchte, spät dran zu sein, aber ich bin zu faul, die tief vergrabene Hand aus der Jackentasche zu ziehen um das zu prüfen; zumal ich dadurch nicht pünktlicher würde. Ich versuche mir einzureden, mich auf mein Talent zur Pünktlichkeit zu verlassen. „Sich auf ein Talent verlassen“ klingt besser als „ein Talent missbrauchen“. In Wirklichkeit will ich diesen Zug nicht erreichen; er fährt mich weg von dir. Er fährt mich an einen Schreibtisch, an dem ich der kleinen Uhr rechts unten fünf Tage lang beim Hochzählen zu sehen werde, bevor mich ein anderer Zug zurückbringt. „Wir brauchen das Geld“ klingt besser als „ich brauche meine Freiheiten.“

Mein Telefon vibriert in der Tasche. Du schreibst, dass du mich vermisst, obwohl ich deinen Bart noch auf meiner Wange spüre. Du schreibst, dass ich auf mich aufpassen soll, wenn du es nicht kannst. Das Handy nicht aus der Tasche zu nehmen, um deine Nachricht zu lesen, hat nichts mit Faulheit zu tun. Ich muss mich vorsehen, nicht auszurutschen; außerdem kenne ich deine Nachricht, denn ich kenne dich. Deshalb habe ich meine Pantoffeln nicht neben die Flurkommode gestellt, wo sie deiner Meinung nach hin gehören, sondern tief in den Schuhschrank gestopft. Deshalb habe ich meine Teetasse gespült, sobald sie leer war und selbst zurück in den Schrank gestellt. Und deshalb sieht mein Schreibtisch bei dir montagmorgens wie eine Blumenbank aus.

Etwas ist bunt im Schlamm und ich korrigiere meinen Schritt, um nicht darauf zu treten. Auf den ersten Blick ein Amulett, auf den zweiten ein eingeschweißtes ovales Stück Papier. Es wurde nicht weggeworfen sondern verloren, das ist eindeutig. Dementsprechend habe ich es nicht nur gesehen, sondern gefunden. Ich bücke mich und hebe es auf. Während andere Passanten an mir vorbei zur U-Bahn drängen, krame ich nach einem Papiertaschentuch, um meinen Fund zu reinigen.

Ich glaube, dass man durch Dinge, die man findet etwas über sich selbst erfahren kann. Wenn einem ein Ding nichts sagt, übersieht man es. Das ist wie, wenn man plötzlich nur noch Paare sieht, weil man gerade Single ist oder auf einmal nur noch Singles, weil man jemanden hat. Ich habe das ungelenk ausgeschnittene Porträt eines Mannes gefunden.

Ich trage das Taschentuch zum Papierkorb und betrachte das Bildnis im gelben Gaslaternenlicht. Ein väterlicher Mann. Mit vollem schwarzen Haar und einem stattlichen Bart, der an den Ansätzen weiß wird. Mit festem Blick, fast adlerhaft, wegen der schwungvoll gezogenen Augenbrauen. Mit einem hellen Schein um seinen Kopf, der kitschig in einen hellblauen Hintergrund ausläuft. Auf der Rückseite ein Name: Pater Pio. Darunter ein winziges schwarzes Quadrat. Ich streiche mit dem Daumen darüber und fühle die Erhebung unter der Folie. Es ist ein Stück Stoff, halb so groß nur, wie der Nagel meines kleinen Fingers. Es hat die gleiche Farbe wie das Gewand des Mannes auf der Vorderseite. Es ist ein Teil davon. Es war.

Ich komme zu spät zur U-Bahn, denke ich kurz, aber dann schwindet meine Hoffnung. Die U-Bahnen fahren zu häufig und ich bin zu früh los, als das mir dieses Stück Stoff dabei helfen könnte, meinen Zug zu verpassen. Zumal es ja jetzt, da ich diesen Gedanken gedacht habe, ohnehin kein Verpassen mehr wäre, sondern eine Entscheidung. Im Entscheiden bin ich nicht gut.

In der U-Bahn hole ich mein Telefon aus der Tasche. Pater Pio war Kapuzinerpriester. Er wurde heiliggesprochen weil er die Stigmata trug. Und weil er der Bilokation fähig war. Ich tippe auf das Wort „Bilokation“.

Wenn ich an zwei Orten gleichzeitig sein könnte, bliebe ich hier bei dir und würde nebenbei in die andere Stadt zur Arbeit fahren. Nachmittags würden wir gemeinsam mit der Hündin gehen, während ich meine Freunde treffe. Am Abend würde ich meinen Kopf auf deinem Schoß legen und mit dir fernsehen und anderswo mit den Jungs ausgehen. Nachts wäre ich ganz bei dir. Zusammen würden wir auf Reisen gehen und gleichzeitig das Geld dafür in unseren Büros verdienen.

Die Frau, die mir in der U-Bahn gegenübersitzt, schneidet mit einer Nagelschere das untere Ende eines schmalen Stapels Papier in Streifen. Später, wenn die Plakate an den Laternen hängen, kann man sich so leicht Schnipsel abreißen, auf denen ihre Telefonnummer steht. Die Plakate zeigen das Foto einer Katze und fragen „Wo ist Schrödinger?“. Ich frage mich, ob die Frau Quantenphysikerin ist. Ich habe gelesen von Schrödingers Katze. Das ist ein quantenphysikalisches Gleichnis, benannt nach dem Mann, der es sich ausgedacht hat:

Eine Katze wird in einen Karton gesperrt. Darin befindet sich außer ihr ein Fläschchen Blausäure, ein Hämmerchen, ein Geigerzähler und ein radioaktives Atom. Zerfällt das Atom, springt der Geigerzähler an und das Hämmerchen schlägt auf das Fläschchen: Die Katze stirbt. Ob das Atom aber zerfällt oder wann, kann niemand wissen. Den Gesetzen der Quantenphysik zufolge ist die Katze deshalb zugleich tot und lebendig. Bis sich einer entscheidet, nachzusehen.

Ich bin der Fähigkeit zur Bilokation so nahe, wie ihr jemand ohne Heiligenschein kommen kann. Ich habe zwei Adressen, zwei Kleiderschränke und zwei Paar Hausschuhe. Ich führe ein Junggesellen- und ein Eheleben und habe sowohl einen Hund als auch keinen. Ich begreife, dass keine Entscheidung und zwei Entscheidungen das Gleiche sein können. Ich bin verwirrt.

Wenn ich der Quantenphysikerin meine Hilfe beim Aufhängen der Plakate anbiete, würde sie vielleicht anschließend einen Kaffee mit mir trinken. Sie sieht nett aus und sie hat Humor: ihre Katze heißt Schrödinger. Außerdem sind wir Leidensgenossen: Sie vermisst ihre Katze, ich vermisse dich. Allerdings muss sie Plakate kleben, hoffen und bangen, während ich nur eine Entscheidung treffen müsste. Vielleicht könnten wir über Bilokation sprechen, damit habe ich ein Problem, fürchte ich.

Ich drehe die Reliquie zwischen meinen Händen und versuche es nicht albern zu finden: Man schneidet die Kutte eines Mannes in winzige Quadrate und verkauft sie an Pilger und Touristen. Ich stelle mir vor: Die Kleidungsstücke eines Heiliggesprochenen haben eine schützende Aura; beim Zerschneiden wird die nicht geteilt, sondern vervielfältigt. Mit dem Daumen streiche ich über die Erhebung und denke: Gewebe ist Gewebe, nichts sonst. Eine Aura kann man, wenn überhaupt, nur mit der Nase wahrnehmen. Sie verfliegt.

Als ich aufsehe ist die Frau ausgestiegen, jedenfalls ist sie nicht mehr da. Mein Telefon vibriert in meiner Hand. Nach einem augenzwinkernden Smiley schreibst du: „Du hast wieder meine Jacke genommen, oder?“ Ich vergrabe meine Nase im Kragen. Auf meinem Stammplatz im Zug angekommen antworte ich: „Dafür kannst du meine nehmen.“

Fay

Ich liege in der Dunkelheit, den Kopf auf meinen verschränkten Armen. Unsere Kissen sind auf den Boden gerutscht oder hinter das Bett. Durch den Spalt in der Tür fällt ein schmaler Streifen Licht auf die Stelle zwischen Bauch und Brust. Sie glänzt feucht als sie sich hebt und senkt: Ich atme und schwitze. Ich höre dir zu.

Ich lausche den Tropfen, die weich dein Haar treffen, denen, die scharf auf deine Schultern prasseln, denen, die harsch von deinem Nacken abprallen, von deinem Rücken, deinen Hüften, deinem Po. Ich unterscheide einzelne Tropfen, die an deinem Körper vorbei ungehalten auf die Emaille trommeln. Ich höre, wie sie vermischt mit weißem Schaum, der dir vom Körper fließt, deine Füße umschmeicheln und in den Abfluss sickern. Ich vernehme die Kreise, die deine Fingernägel auf deiner Kopfhaut ziehen, tief in deinem Haar, so dass die Striemen ungesehen bleiben. Ich lauere auf das Geräusch deiner Hände, wenn sie Seife auf deiner Brust aufschäumen, das Geräusch, wenn sie Seife auf deine Schenkel reiben, wenn sie Seife zwischen deine Zehen massieren und unter deine Achseln.

Ich rieche die Seife bis zu meiner Matratze. Mit geschlossenen Augen fülle ich meine Lungen und beim Ausatmen ärgere ich mich. Darüber, dass sie mich gekriegt haben, weil sie genau wissen, wie sie Seife machen müssen, damit wir sie mögen. Ich bin auch nur ein Mensch, wie du, aber eigentlich rieche ich dich lieber. Und eigentlich weiß ich nicht, warum du dich abseifst, denn was wir getan haben, war nicht schmutzig. Ich weiß nicht, warum du mich von dir spülst, während du auf mir trocknest.

Ich höre, wie die Flacons auf der Konsole klirren, als du den Rasierer greifst. Ich höre das Seufzen der Rasierschaumdose. Und während des Nichts, das ich dann höre, stelle ich mir vor, wie du das Gel in deinen Händen in feinen Schaum verwandelst, mit dem du deine Schienbeine umhüllst und deine Waden. Das klatscht ein bisschen, das höre ich wieder. Und kurz darauf, wie deine Haare von den Klingen durchtrennt werden. Ein Geräusch, als würde sich eine Katze die Krallen schärfen, an einer Mauer, ein Stückchen entfernt. Ich höre, wie der Rasierer über deine Haut fährt und stelle mir vor, wie er jedes Härchen schneidet, so zart es auch sei. Ich höre den Rasierer seine Bahnen ziehen und stelle mir vor, wie er jeden Flaum mit sich nimmt, jeden Schimmer, jeden Hauch, und wie er nichts zurückzulässt, als blanke, glatte Haut, blassrosa. Frierst du nicht? Ich friere.

Vorhin als deine Waden auf meinem Schoß lagen und meine Hand in dein Hosenbein wanderte, habe ich gekichert über das zarte, seidene Kleid unter meinen Fingern. Mir gefiel, wie deine Härchen die Grenzen deines Körpers aufweichten. Wem gehört die Luft, die du unter den Härchen erwärmst? Dir oder mir? Als Antwort hast du mit deinen spitzen Nägeln drei Haare von meinem Handrücken gezupft und zurückgekichert, als ich „Hey!“ rief. An Männern findest du Haare schön, sagst du, besonders meine, besonders, wenn sie schimmern im Gegenlicht. Dann hast du mein Hemd aufgeknöpft.

Ich höre die Dose wieder zischen und wieder klatscht es und es kratzt. Ich kneife die Augen zusammen, weil ich weiß, dass du gleich fluchen wirst: du fluchst. Du bist ungeschickt mit der linken Hand, aber du kannst dir die rechte Achsel nicht mit der rechten rasieren. Also zerschneidest du sie mit der linken? Bei den Beinen passiert dir das nicht, du verstehst nicht, wieso. Ich verstehe das auch nicht, nichts davon.

Vorhin hat dich mein Lächeln veranlasst – spöttisch, resigniert – mich vor die Wahl zu stellen. Will ich lieber mit einer schönen Frau sein oder mit einem Äffchen? „Lieber mit dir.“, habe ich geantwortet und beim Ausatmen habe ich mich geärgert, weil der Mann im Film das auch geantwortet hätte und ich weder klingen will, noch sein, wie Männer in Filmen. Also habe ich hinzugefügt, wie sehr ich das Äffchen liebe, das heute Morgen zu mir ins Schlafshirt gekrochen kam um mir in den Bauch zu beißen. Und dass du hoffentlich auch einen Affen lieben würdest, den King Kong nämlich, der dich gestern nach dem Zähneputzen huckepack genommen und ins Bett getragen hat. Da hast du mich geküsst.

Ich höre, wie du dich auf den Wannenrand setzt und die Dose ein drittes Mal seufzt. Ich höre, wie du deine Füße auf den Wannenrand stellst und mit dem linken versehentlich die Schampooflasche in die Wanne stößt. Ich höre, wie sich Tropfen von den Spitzen deiner Haare lösen und auf deine Knie platschen. Ich weiß, dass du das nicht hören kannst, weil du dich sehr konzentrierst. Ich weiß, dass du jetzt nicht zuckst, auch, wenn die Tropfen kalt und kitzelnd über deine Schenkel fließen. Ich mag deine Scham, wenn sie weich ist. Und wieso eigentlich Scham? Da ist nichts, wofür du dich schämen könntest.

Vorhin habe ich dich gefragt, für wen du das machst, für mich nämlich nicht, höchstens gegen mich. „Ich mach das für mich!“ hast du gesagt und ich habe mich geärgert, weil das die Frau im Magazin auch gesagt hätte und ich nicht will, dass du wie die Frauen in den Magazinen klingst oder bist. Du hast von Hygiene gesprochen und von Pflege, aber nur gelacht, als ich dich fragte, ob ich mich neben dir nun unhygienisch und ungepflegt fühlen soll. Du bist du, hast du dann gesagt, und ich war froh, weil das ja genau das ist, was ich will: Dich wie du bist. Aber nicht dich, wie sie dich wollen. Deine Freundinnen, die Jury, die Frauen aus der Werbung. Dann bist du ins Bad gegangen.

Als ich höre, wie der Zerstäuber einen Duft auf deine Haut keucht, richte ich mich auf und angle die Kissen vom Boden. Meines lege ich aufgeschüttelt auf deine Seite, deines stopfe ich zerknittert unter meinen Kopf. Du löschst das Licht. Auf Zehenspitzen schleichst du zum Bett, vorsichtig legst dich zu mir. Ich akzeptiere dein Angebot und stelle mich schlafend. Und obwohl du mir glaubst, streckst du und räkelst dich, bevor du dich zudeckst, ich höre das genau. Du gefällst dir in deiner Makellosigkeit und ich verstehe das. Aber ich verstehe nicht, was sie mit Rasieren und Parfümieren zu tun hat. Du magst dich in deiner Reinheit, aber ich vergrabe meine Nase in deinem Kissen, weil ich dich riechen will und nicht den Zeitgeist.

Endlich legst du die Decke über mich und noch bevor du dich zu mir herüberbeugst um meinen Hals zu küssen, schlinge ich sie fest um mich, damit du ja nicht die Liebe riechst, die noch an mir klebt und dort bleiben soll, wenn es nach mir geht.

In Gedanken

Bist du da?

Ja. Hey!

Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich unsere Freundschaft jetzt beende.

Was?

Oder was immer das ist. War.

Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Es war viel los.

Es ist immer viel los.

Ja. Aber es war wirklich viel los.

Ich will keine Entschuldigungen.

Aber du sollst wissen, warum du so lange nichts gehört hast von mir.

Es ist okay. Ich will es nicht wissen.

Ich hatte einen riesigen Auftrag für ein GPS-basiertes Fahrradverleih-System auf Mallorca. Ich habe nur programmiert.

Drei Monate? Warst du dort?

Nein, das war nicht nötig. Und ich hatte die Gürtelrose. Dieses Jucken und Brennen! Ich bin fast durchgedreht.

Das tut mir leid.

Ja. Und ein befreundetes Pärchen hat sich getrennt. Die Frau war völlig aufgelöst. Ich kenne sie noch aus Schulzeiten. Für sie war ich viel da, jetzt.

Wart ihr zusammen aus?

Wir haben geschrieben.

Natürlich.

Ich habe oft an dich gedacht.

Lass das.

Aber es stimmt.

Mein Telefon hat nicht geklingelt. Und meine Türklingel erst recht nicht. Seit einem Jahr willst du mich besuchen. Sagst du.

Ich hatte dir eine Nachricht geschrieben. Ist die nicht angekommen?

Nein.

Komisch.

Kein bisschen. Auch nicht originell. Eine Frechheit.

Was?

Deine Ausreden. Ich will keine Ausreden. Ich sage, dass ich keine Ausreden will. Ich bekomme: Ausreden.

Das sind keine Ausreden. Es sind Erklärungsversuche! Bitten um Entschuldigung.

Ich entschuldige aber nicht. Ich habe im letzten Jahr alle möglichen Entschuldigungen gehört von dir. Und akzeptiert. Sie langweilen mich. Außerdem geht es nicht um Schuld. Es geht um Enttäuschung.

Ich bin nicht gut im Kontakthalten.

Sag bloß.

Ich konnte das noch nie. Aber ich arbeite daran.

Du arbeitest daran? Wie arbeitet man an so etwas? Übst du Telefonate vor dem Spiegel? Belegst du einen VHS-Kurs zur Eingabe von Telefonnummern? Bei welcher Lektion bist du?

Hab bitte noch ein bisschen Geduld mit mir.

Nein. Ich habe lange genug auf dich gewartet. Ich hasse warten. Ich rufe dich an und warte auf deinen Rückruf. Ich weiß inzwischen, an welchen Stellen deiner Mailbox-Ansage du Luft holst. Ich schreibe eine Nachricht und warte auf deine Antwort. Mittlerweile lasse ich mir Sendeprotokolle schicken. Ich schreibe eine Mail und warte. Sogar eine Postkarte habe ich dir geschrieben.

Ich habe keine Mail bekommen.

Hör auf damit. Ich habe Jahreszeiten vergehen sehen, während ich auf dich wartete. Du wusstest, dass ich warte. Wenn du an mich gedacht hast.

Es tut mir leid.

Das glaube ich dir sogar. Mit einem schlechten Gewissen kann ich dich wecken. Das hat beim letzten Mal schon funktioniert.

Ich war so beschäftigt mit anderen Dingen. Ich habe das gar nicht gemerkt.

Ich weiß. Irgendwas ist immer. Alles um dich herum ist wahnsinnig dicht. Hundertfünfzig Kilometer sind zu weit weg um dich zu erreichen. Neunzig Minuten Zugfahrt sind dir zu lang.

Ich will mir mehr Mühe geben in Zukunft.

Bitte nicht. Du hast dir schon mehr Mühe gegeben nach dem letzten Gespräch zum Thema. Ich weiß ja nicht, ob du dich erinnerst.

Du lässt mir keine Chance.

Was denn für eine Chance?

Ein zweiter Versuch.

Es wäre der dritte. Aber das ist keine Talentshow, bei der du dich vor Aufregung versungen hast. Das sollte eine Freundschaft werden.

Stichwort Talent: Dir liegt der dramatische Abgang.

Ich wollte mich nur verabschieden.

Was soll das? Du hättest mich einfach von deiner Freundesliste werfen können. Fertig.

Stimmt. Das wäre weniger unangenehm für dich gewesen. Keine Diskussion – kein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich hättest du das erst in zwei Monaten gemerkt. Oder nie.

Hätte dir ja egal sein können. Jetzt habe ich eine Diskussion und ein schlechtes Gefühl und keine Lösung.
Jetzt hast du einen Abschied. Ich kann offene Enden nicht ausstehen.

Ich gratuliere: Das von dir inszenierte Gegenteil eines Happy Ends ist hinreißend. Kleine dramaturgische Schwäche: Meine Figur darf die ganze Zeit nur „Nein, bitte nicht!“ und „So, entschuldige doch!“ rufen. Aber es ist deine Show. Ich lasse mich geduldig weiter runterputzen, bis du das Gefühl hast, dass wir quitt sind. So sieht das dein Drehbuch vor, oder?

Wie schwer du es hast, weil ich so gemein zu dir bin! Weißt du, mein Drehbuch – um in deinem ausgefeilten Bild zu bleiben – hat deinen Einsatz vorgesehen. Ungefähr hundertmal in den letzten Monaten. Ungefähr tausend Zeilen Text. Die du nie gesprochen hast. Auf die ich gewartet habe.

Ich bin keine Figur in deiner Geschichte.

Aber der beste Schauspieler, den ich kenne.

Obwohl ich immer meinen Einsatz verpasse? Metaphern sind nicht deins.

Deine Leistung besteht darin, dass du überhaupt für die Rolle besetzt wurdest.

Für welche Rolle?

Du hast gesagt, dass wir im Herbst durch die Laubhaufen hüpfen würden. Dass wir rodeln gehen würden im Winter. Dass du mich besuchen würdest, wenn das Wetter wieder besser ist, damit wir auf meinem Motorrad zum Wannsee fahren. Ich wollte dir die besten Falafel der Stadt grillen. Wir wollten auf dem Balkon schlafen. Jetzt wird wieder Frühling. Du warst nicht hier.

Tut mir leid.

Du hast es versprochen.

Ich habe nichts versprochen.

Ich habe dir von meinem Unfall erzählt, so ausführlich wie noch niemandem. Wie komme ich dazu? Ich habe dir erzählt, wie ich allein im Straßengraben lag und meinen Körper nicht spürte und nichts hörte und nur den Himmel sah. Und wie sich diese vier Minuten wie für immer anfühlten. Ich habe dir erzählt, von meiner Befürchtung, dass da nichts kommt, wenn man stirbt, kein Tunnel und kein Licht und kein gütig grinsendes Empfangskomitee und niemand. Und wie ich mich fürchte vor diesem Nichts und vor diesem Niemand. Warum habe ich dir das erzählt?

Ich weiß nicht.

Weil es Dir gelingt, mir in einem Dating-Netzwerk ein Gefühl von Wärme zu vermitteln. Deshalb. Aber dann bist du verschwunden.

Ich wurde fortgetragen.

Wie ein Blatt im Wind. Stimmt’s?

Ich mag dich. Aber ich habe ein Leben neben dir.

Sicher, dass du mich magst? Woran machst du das fest?

An dem Gefühl, das ich habe, wenn ich an dich denke.

Brauchst du mich für dieses Gefühl?

Wie meinst du das?

Ist es notwendig, dass ich existiere? Für dich bin ich der lustige, dicke Kaninchenpapa mit den Motorrad-Klamotten und dem Nahtoderlebnis. Der sich für dich interessiert und deine Profilfotos mag. Der ein bisschen anstrengend ist und ein bisschen mysteriös. Den du anrufen könntest. Oder besuchen. Mit dem du mal knutschen könntest. Theoretisch. Du magst mich als Idee. Das reicht dir. Dir reichen die Dinge in Gedanken. Dir reichen Fotos.

Ja, es reicht mir. Kannst du bitte mal in deinem Drehbuch nachschauen? Was sage ich jetzt? Lebwohl, oder so?

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, auszusprechen, was ich denke.

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, erst fertig zu denken und dann zu sprechen. Mir ist immer noch nicht klar, warum wir dieses Gespräch führen.

Damit klare Verhältnisse herrschen. Damit du aufhörst an mich zu denken, falls du das tatsächlich tust. Und damit du aufhörst, dich zu fürchten.

Ich fürchte mich?

So sehr. Du unterwirfst dich deiner Furcht und verpasst dein Leben.

Huch, ein Psychogramm! Wovor fürchte ich mich denn?

Vor allem was dir passieren könnte.

Konkreter hast du es wohl gerade nicht?

Du fürchtest dich davor, berührt zu werden. Und vor der Liebe.

Schöner Schluss. Bisschen pathetisch, vielleicht. Aber schön.

Und dein Zynismus ist auch nur eine Rüstung.

Du hättest mich wohl gern nackt gesehen?

Ich hätte dich gern berührt.

wrocław.

kaum über den fluss hinüber
tauschen wir das wort gegen hand & fuß wie euro gegen zloty.
der wind bläst uns die köpfe frei,
zwischen den schiebetüren läuft der schaffner auf & ab,
locht uns ein in schneelandschaft und ruhige tage.

kilometerweit die spaziergänge am ufer des flusses,
hinweg über stege und zurück auf den asphalt,
stets im ohr das gemurmel der passanten,
das uns fremdsprachig nicht bekümmert und unbeirrt sorglos sein lässt.

sherry (selbstgebrannt), der gelbbraune kachelofen
und so manche hitzige gedanken wärmen unsere durchfrorenen körper.
wir kichern bei polnischenglischen unterredungen mit den einheimischen
& den ansässigen bronzegnomen der stadt.

tag um tag mit piroggen gefüllt unsere bäuche,
die glucksen, wenn wir erschöpft beieinanderliegen & überlegungen anstellen einfach zu bleiben,
hier in wrocław.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“

Der Belieber

Nach dem Aufwachen dreht sich der Belieber auf die Seite seines großen Wasserbettes und betrachtet den Körper, an dem er die Liebesleistung der letzten Nacht vollzogen hat. Vorsichtig streichelt er das schlafende Gesicht, dass sich ein leichtes Lächeln entspinnt. Dabei denkt er mit Genuss an die verschiedenen Gesten, die das Gesicht in der zurückliegenden Nacht hervorgebracht hat. Und es ist ihm eine allmorgendliche Befriedigung, die gesamten Liebeleien noch einmal detailliert in Gedanken zu wiederholen. Ist er mit dem Gedankenspiel fertig, hebt er mit Schwung das seidene Bettzeug über den schlafenden Körper, dreht sich zurück auf den Rücken und betrachtet sich im Deckenspiegel. Er beugt sich über den schlafenden Körper und haucht ihm einen Kuss auf den Nacken. Vergnügt steht er auf und schlendert ins Bad. Vor dem Spiegel streckt er die fast haarlose Brust heraus und versucht, die Verspannung, die er sich regelmäßig in den Nächten zuzieht, mit einer eigens entworfenen Gymnastik zu lösen. Hat er in der zurückliegenden Nacht außerordentlich gewagte oder gar gefährliche Liebestaten vollbracht, stellt er sich am anderen Morgen auf den Kopf und schüttelt seinen Unterleib bis ihm das dicke Gemächt an die Stirn stößt. Anschließend lässt er sich wieder auf den Boden sinken. Zusammengekauert rollt er auf dem Badvorleger auf und ab. Fühlt er sich wieder entspannt, springt er in den blasengebenden Whirlpool, in dem er die Liebesspiele der Nacht für gewöhnlich beginnt. Danach stellt er sich wieder vor den Spiegel und rasiert die Haare von Gesicht und Brust. Zum Schluss massiert er sich die Schläfen.

Ist er mit seiner morgendlichen Toilette fertig, föhnt er seinen Körper trocken und kleidet sich vor dem großen Bücherregal im Flur an. Dabei greift er in die Buchreihen und sucht eine kleine Erzählung, einen bunten Bildband oder einen klugen Ratgeber, der zum Wesen der jeweiligen seiner Liebschaften passt. Hat er das Buch gefunden, zieht er es heraus, greift zu einem der vielen Stapel Seidenpapier und umhüllt es kunstvoll. Er geht zum alten Holzkästchen, holt eines seiner vielen samtbestickten Haarbänder und umbindet das Papier. Anschließend schleicht er ins Schlafzimmer. Behutsam legt er das Büchlein mit einem Kuss und dem ehrlichen Wunsche, dass es seiner Nachtbekanntschaft im weiteren Leben helfen möge, auf das aufgeschüttelte Kopfkissen. Er öffnet die dicke Silberkette, die er Tag und Nacht um seinen Hals trägt und zieht die Schere und den Schlüssel, die ihm beide im allnächtlichen Liebestaumel als Metronom dienen, heraus. Er schneidet den Schlafenden eine Strähne oder Locke vom Kopfe, steckt sie in einen farbigen Briefumschlag und beschriftet diesen. Dabei geht er jedes Mal gleichermaßen vor. Er vermerkt zuerst den Tag, danach die Stunden, die angewandten Liebestechniken, die Sehnsüchte der Beliebten und zum Schluss seinen Zufriedenheitsgrad. Ausgiebig beleckt er danach den Brief, verklebt ihn sorgfältig und legt ihn in sein Archiv in den Wandtresor. Stolz addiert er die Zahlenkombination des Tresors um einen weiteren Nenner, denn nur so bleibt er auf dem aktuellen Stand. Nachdem er den Tresor wieder verschlossen hat, hängt er den Schlüssel und die Schere um den Hals und geht in die Küche zum Kühlschrank. Er greift zu einer der wohltemperierten Flaschen Champagner, öffnet sie leise und füllt deren Inhalt in zwei Gläser. Genüsslich trinkt er das erste Glas auf das Wohlergehen der Bekanntschaft aus. Mit geschickter Hand pflückt er drei Blumen aus den breiten Pflanzkästen, die er eigens für diese Stunden angelegt hat. Die erste Blüte arrangiert er liebevoll in das eingefüllte Champagnerglas, welches für seine Nachtbekanntschaft bestimmt ist. Die zweite platziert er gut sichtbar vor dem Badspiegel. Die dritte steckt er sich in den Mund. Mit der Blüte im Mund kocht er Kaffee, füllt ihn in die Thermoskanne, stellt Butter, Käse, viel frisches Obst auf den Frühstückstisch und das Champagnerglas dazu. Erfreut an dem beginnenden Tag, steckt er die Blüte ins Revers, schließt leise die Wohnungstür und rutscht vergnügt das Treppengeländer hinunter.

Der Belieber erscheint stets gepflegt. Schon auf den Fluren des Krankenhauses grüßt er mit übergroßem Lächeln den verschlafenen Pförtner oder die unsichere Reinigungsfrau.
Der Belieber ist höflich und zuvorkommend. Trotz, dass er seit Monaten auf Station seinen Dienst absolviert, klopft er mehrmals leise an die Tür und wartet, bis die jeweilige Stationsschwester ihr schnoddriges Herein ruft. Er öffnet die Tür einen Spalt weit, schiebt zuerst seinen Kopf, danach den schlanken Hals mit der dicken Silberkette und der Schere und dem Schlüssel hindurch und lächelt in den Raum. Erst danach gibt er der Tür einen kräftigen Schwung und betritt das Aufenthaltszimmer. Mit einer angedeuteten Verbeugung grüßt er zuerst die Stationsschwester und nach ihr dem Range folgend alle weiteren Schwestern. Hat er die Begrüßung artig abgeleistet, begibt er sich an das Ende des Tisches und küsst die ungeduldig wartenden Schwestern oder Pfleger. Zum Schluss gibt er ausgewählten von ihnen einen kräftigen Händedruck, einen kleinen Klaps auf die Schulter oder einen unerwarteten Puffer. Aber auch hier hält er eine unsichtbare Reihenfolge ein, deren Wertfolge nur für Eingeweihte erkennbar ist und erarbeiten werden muss. Hat er die allmorgendliche Prozedur vollzogen, hält er einen klitzekleinen Moment inne und setzt sich auf einen der angeboten Plätze zwischen eine der unglücklichen Schülerinnen oder Schüler. Er öffnet eine Flasche Möhrensaft und trinkt diesen in einem einzigen Zuge aus.

Der Belieber arbeitet korrekt. Ohne zu zaudern führt er die ihm übertragenen Aufgaben aus. Und keine noch so ekelerregende Tätigkeit weist er zurück. Vielmehr kämmt er vorab nochmal sein rotblondes, glattes Haar. Er zieht einen seiner samtbestickten Haarschnüre aus der Hosentasche, die wie zum Zeichen seiner Anwesenheit im gesamten Krankenhaus verstreut liegen und bindet den Zopf zusammen. Allzu gern sammeln arglose Schülerinnen die scheinbar verlorenen samtenen Schnüre als heimliche Souvenirs. Und nicht selten streiten Büroangestellte mit den Reinigungsfrauen teilweise heftig um deren Besitz. Neuerdings hat man auch Schüler die albernen Schnüre aufheben sehen.

Kommt der Belieber am Nachmittag nach Hause, schläft er sich erstmal gründlich aus. Am Abend, wenn die Mitarbeiter in die Stadt gehen, steht er auf, macht Fünfzig Liegestütze, Hundert Seilsprünge und mehrere Serien Hantelheben. Anschließend duscht er seinen Körper mehrmals gründlich ab. Er gönnt seinem Haar eine Heil-und Pflegekur und seinem Gesicht eine Honig-Gurken-Maske. Ist er damit fertig, feilt, lackiert, bürstet und cremt er sich für die Nacht zurecht. Zum Schluss rasiert er sich mit einer Schablone in den Intimbereich ein chinesisches Glückszeichen oder eine indianische Liebesformel, die die Beliebten in der kommenden Nacht beeindrucken sollen. Danach kleidet er sich modisch an und wartet ungeduldig auf seinen allabendlichen Besuch. Unruhig schreitet er auf dem ausgetretenen Parkettboden auf und ab, kneift sich in die zusammen geballten Hände, zieht sich an den Ohren oder kämmt sich wieder und wieder das schulterlange Haar. Erst das kurze Leuten der Klingel lässt ihn von seinen Handbewegungen innehalten und zur Tür hasten. Mit einem entspannenden Lächeln öffnet er sie und genießt die kommenden Stunden.

Der Belieber ist für seine gründliche Körperarbeit weltbekannt. Hat er Liebeshungrige erst einmal in seinem Wasserbett, begreift und beliebt er sie ausgiebig und von allen Seiten kunstvoll und ohne Unterlass. Und keine noch so kleine oder verborgene Stelle bleibt von ihm unbetastet.
Ist der Belieber nach vielen Stunden mit seiner Körperarbeit fertig, massiert und küsst er die erschöpften, säuselt ihnen erotische Formeln in verschiedenen Sprachen in die Ohren und schwingt die seidene Bettwäsche über sie. Sind sie eingeschlafen, steht er unbemerkt auf und reinigt ihre Schuhe oder bürstet ihre Sachen aus. Dabei greift er in die verstreuten Kleidungsstücke und bringt die Geldtasche an sich. Vorsichtig öffnet er die diese und prüft gewissenhaft deren Inhalt. Hat er sich von der Geldmenge überzeugt, steckt er kleine Münzen oder Scheine hinein, damit die Beliebten am anderen Morgen wohlbehalten nach Hause fahren können. Stets achtet er darauf, dass die eingelegten Münzen oder Scheine an genau den Positionen platziert werden, an denen sich gleichwertige befinden. Ist er damit fertig, schiebt er die Geldtasche zurück, legt sich ins Bett, lächelt erschöpft in den großen Deckenspiegel und schläft von der ausgiebigen Arbeit zufrieden ein.

Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?

“Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?”

Berger zieht die Augenbrauen zusammen. Ein Schweißtropfen schafft den Weg und rinnt Richtung Auge. Der rote Rahmen seiner Brille spaltet Zuckowski optisch den Schädel. Trotzdem schiebt er das breite Gestell langsam wieder Richtung Nasenwurzel. Er verwendet dafür den Mittelfinger der linken Hand. Er hofft, dass ihr Unterbewusstes diese Geste richtig deutet.

“Herr Berger?”

“Am 22. Juni.” Er pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht. “Ein Freitag.”

Zuckowski versucht ein gütiges Lächeln und legt den Kopf schief. Ihre blonden glatten Haare biegen sich auf den Schulterpolstern ihres hellblauen Blazers. “Die Frage zielte mehr auf die Art der Erfahrung ab.”

Der von seinen Wimpern gefilterte Schweißtropfen geht im Tränenfilm seines linken Auges auf. Obwohl es brennt, erlaubt er sich nicht zu blinzeln. “Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt.”

Bis auf die große Perle, die an einer silbernen Kette unter ihrem Ohrläppchen wackelt, verharrt sie völlig regungslos. Er findet Perlen pervers. Perlen sind Zysten, hat er gelesen. Muscheln bilden Sie unter größten Anstrengungen, um Fremdkörper unschädlich zu machen. Frau Zuckowski schmückt sich mit Zysten, denkt er.

Das Brennen in seinen Augen wird so stark, dass er sie fest zusammenkneifen muss. Jetzt erlaubt auch sie sich zu zwinkern. “Ist Ihnen warm, Herr Berger?”, ruft sie in betonter Überraschung.

“Am 22. Juni habe ich meinen engsten Geschäftspartner und besten Freund verloren.”

Ihre Lippen formen ein kindliches “Oh!”. Sie hält es, bis sie sicher ist, dass er die Fülle ihrer Lippen gebührend bewundert hat. „Soll ich die Klimaanlage einschalten?”, fragt sie dann.

“Das wird ihn mir nicht zurückbringen.” entgegnet er ohne Zögern.

Sie löst ihre übereinander geschlagenen Beine, erhebt sich, umrundet ihren gewaltigen Schreibtisch und geht an ihm vorüber zum Bedienelement für die Klimaanlage neben der Tür. Er findet es obszön, wie ihre nylonüberzogenen großen Zehen durch die Löcher an den Spitzen ihrer Schuhe luken. Ihrer Aufmerksamkeit für einen Augenblick entkommen, trocknet er sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Jacketts.

“Viel besser!” lobt sie sich. Ihr schwarzer Ledersessel seufzt, als sie wieder in ihm Platz nimmt. „Wo waren wir?“

„Er fehlt mir.“ sagt Berger ernst. „Nicht wegen des Geschäfts. Der Laden ist zu. Er fehlt mir als Freund.“

„Das tut mir leid.“ Die Worte sind längst verhallt, aber ihr Kopf nickt noch verständnisvoll. Als sie begreift, dass Berger sie für immer wortlos weiternicken lassen würde, fragt sie: “Gibt es etwas, das Sie aus diesem Verlust mitnehmen können?”

Im Rahmen einer Geste, die sie für ein Lächeln hält, zeigt sie ihm ihre großen weißen Zähne.
Er versteht ihre Drohung und braucht einige Sekunden, sich seiner Furchtlosigkeit zu erinnern.

„Ja.” sagt er dann als hätte er einen spontanen Einfall. „Ich kann daraus lernen, mit künftigen besten Freunden nicht zu vögeln.“ Langsam beugt er sich über den Tisch zu ihr herüber. „Das macht viel kaputt, glauben Sie mir.”

Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. “Ich verstehe nicht recht, glaube ich.” Erst als sie zu ihrem metallenen Kugelschreiber greift, den sie vorhin wie einen Strich unter eine Rechnung auf ihre Gesprächsnotizen gelegt hatte, findet sie wieder Halt.

“Nein, sicher nicht.” bestätigt er. „Nur die wenigsten wissen, wie es ist für zwei Männer, von morgens bis abends an einem Projekt zu arbeiten und gemeinsam ein Geschäft aufzubauen. Das schweißt extrem zusammen. Da entwickelt sich aus einer Freundschaft eine Bruderschaft. Wenn man zusammen ist, ist einfach alles gut. Merkt man aber erst, wenn einer fehlt. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich das alles in einer einzigen Nacht kaputtvögeln lässt.“ Er lehnt sich zurück und faltet die Hände hinter seinem Kopf. „Ist aber so.”

Sie starrt ihn an, als würde sie ein fremdartiges Insekt untersuchen.

“Es fing einfach an. Eines Tages ist mir aufgefallen, wie gut Matze riecht. Es war heiß in meiner Dachwohnung. Im Sommer ist es immer unerträglich heiß. Wir hatten den ganzen Tag nach einem Fehler im Code gesucht. Als ich ihn irgendwann fand, sprang er auf, kam zu mir herüber und drückte mich. Ich wusste ja, wie er riecht. Aber in diesem Moment war ich wie vom Blitz getroffen. Wie benommen.“

Sie ist wieder zu sich gekommen und schafft es, seinen Vortrag zu durchschneiden, obwohl er schneller spricht, als er denkt. „Herr Berger, was wollen Sie mir damit sagen?“

„Dass Sie ja nicht ahnen, wie sehr man die Macht der eigenen Gedanken unterschätzt!“ ruft er staunend. „Ich habe Matze seitdem als Freund oder Kollegen überhaupt nicht mehr ernst genommen. Ich habe ihn permanent sexualisiert. Plötzlich bemerkte ich die Haare auf seinen Unterarmen. Ich fing an, die Adern auf seinen Handrücken zu mögen. Seine runden, flachen Fingernägel. Heimlich studierte ich die Kontur seiner Brust in seinem offenen Hemd. Die Form seiner Lippen, wenn er darauf herum kaute, um sich besser konzentrieren zu können. Die Muskulatur seiner Schenkel, wenn er sich bückte, um uns Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Seinen Arsch. Ich dachte, kucken ist in Ordnung. Er merkt es doch nicht. Kucken tut niemandem weh. Kucken tut gar nichts.“

Mit erhobenem Zeigefinger schiebt er ihre Replik zurück in ihren offenen Mund. Als wären es vier separate Sätze spricht er: „Das stimmt aber nicht.“ Und dann weiter: „Kucken kann total gewaltvoll sein.” Für einige Sekunden zieht er theatralisch die Mundwinkel nach unten, als hinge das Gewicht des letzten Satzes wie Blei an ihnen.

„Herr Berger!“, ruft sie entrüstet aber zu langsam. „Warum erzählen Sie das?“

“Weil Sie gefragt haben.” antwortet er verblüfft. “Sie wollten wissen, was meine letzte Erfahrung war. Bitte sehr, das ist sie.”

“Herr Berger.“ Erneut sucht sie auf ihrem Stuhl nach Haltung. Sie findet die einer Insektenforscherin, die einem 10jährigen erklären muss, warum sie für ihre Arbeit Hummeln tötet. „Mit dieser Frage wollte ich herausfinden, was Ihnen wirklich wichtig ist und wie stabil sie sind.”

“Weiß ich doch.“ antwortet er, als hätte sie versucht, ihm einen misslungenen Witz zu erklären. „Und mit meiner Antwort wollte ich Ihnen vermitteln, dass mir Matze wirklich wichtig war, dass es aber meine Libido war, die mich noch stärker“ er unterbricht, um für den Bruchteil einer Sekunde die Lippen zu schürzen „umtrieb.“

„Das“, sagt sie fest, während sie mit dem Kugelschreiber auf ihn zeigt, „ist Ihnen gelungen, Herr Berger.” „Eindrucksvoll.“ schiebt sie nach, um sich noch ein paar Sekunden Stille zu verschaffen.

„Wollen Sie wissen, wie’s weiterging?”, fragt er vorsichtig, nachdem sie ihre Waffe ratlos hat sinken lassen.

„Ich finde Ihr Verhalten sehr unpassend.” ruft sie, während sie die silberne Oberfläche ihres Kugelschreibers auf Fingerabdrücke zu untersuchen scheint.

„Also ja?”, hakt er freundlich nach.

„Herr Berger, Sie sind eigentlich nicht in der Position hier Fragen zu stellen.” Sie beginnt, den Stift am Saum ihres knielangen Rockes sorgfältig zu polieren.

„Oh!“, er verzieht das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.“ Das Wort eigentlich sollten Sie eigentlich nicht verwenden.“ Dann flüstert er: „Es untergräbt ihre Position.”

„Es geht hier nicht um meine Position. Es geht um Ihre.”, versucht sie mit fester Stimme.

„Und die würde ich Ihnen gern darlegen.”

Ein Wink mit der flachen Hand, erteilt ihm das Wort. „Bitte.”

Er schnalzt, als er seinen roten Faden wiederfindet. „Ich habe dann angefangen von Matze zu träumen. Also nachts. Also von Sex mit ihm.”

„Herr Berger!” Sie seufzt, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme unter ihren großen Brüsten.

„Ich habe angefangen an ihn zu denken, wenn ich wichse.”

„Hören Sie sofort auf damit!” Sie schlägt mit beiden Handflächen auf die Glasplatte ihres Schreibtisches. Er erschrickt und erhöht sein Sprechtempo, als bliebe ihm nicht viel Zeit, alles zu erklären.

„Ich habe gedacht, das ist in Ordnung. Also, weil er davon ja nichts erfährt. Es ist aber nicht in Ordnung! Weil es mein Verhalten ihm gegenüber verändert hat. Es hat mein Verhältnis zu ihm verändert. Er war ein Freund, ein Bruder. Aber durch meine Gedanken wurde er zur Beute für mich. Ich habe ihn angelogen.“

Er schluckt. Sie untersucht mit gleichgültigem Blick die Deckenpaneele.

„Ich wollte ihm gefallen. Bevor er morgens kam, habe ich gebadet und mich rasiert. Manchmal habe ich eine Stunde lang vor meinem Kleiderschrank gestanden. Nebenbei habe ich mir überlegt, welche Geschichten ich ihm in den Arbeitspausen erzählen könnte, ganz beiläufig, um ihn zu beeindrucken. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, wie schäbig das war.” Langsam schüttelt er den Kopf.

„Wieso schäbig?” Die Insektenforscherin ist zurück in ihrem Gesicht.

Über ihr Unverständnis erschrocken sieht er sie ernst an. „Er war doch völlig arglos! Ich war sein Kollege, sein Kumpel! Er hielt mich für locker und aufrichtig. Für ihn war es ein Arbeitstag, für mich war es ein Date. Er kam unbewaffnet. Ich habe alle Register gezogen. Verstehen Sie denn nicht, wie hinterlistig das war?“

„Sie waren verliebt.”, sagte Sie schulterzuckend und mit einem verständigen Grinsen, das ihn ekelt.

„Ach Quatsch.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung wischt er ihre Küchenpsychologie beiseite. „Ich war nicht verliebt! Ich habe diesen man vor 10 Jahren im Studium kennengelernt. In allen Beziehungen, die er seither führte, war ich der beste Freund an seiner Seite. Ich weiß, was für ein Kind er ist. Was für ein Ja-Sager. Nach drei Monaten in einer Beziehung mit ihm wäre ich gestorben vor Langeweile. Aber dazu hätte es sowieso erst kommen können, nachdem mir große Brüste und blonde Haare gewachsen wären. Gott, wie hörig Matze gegenüber großen Brüsten ist!“ Er macht einen breiten Mund, als wäre ihm die Herleitung einer komplizierten mathematischen Formel gelungen.

„Ich wollte mit Matze vögeln, das war alles. Einmal mit ihm vögeln. Einmal wissen, wie es ist. Ob es stimmt, was seine Ex-Freundinnen so erzählen. Mir war nicht klar, wie viel das zerstören würde.”

Sie ist auf ihrem Grinsen hängengeblieben. Er befeuchtet ausgiebig seine Lippen. Dann sagt er langsam: „Sie hören ja zu.”, obwohl er „Geht es Ihnen gut?“ meint.

„Ich glaube, dass wir unser Gespräch hier beenden sollten.“ Sie schnaubt ein bisschen, als sie lacht. „Ja, ich denke, ich habe genug gehört.”

„Gut.” sagt er. Seine Anstalten aufzustehen beschränken sich jedoch darauf, die Hände klatschend auf seine Oberschenkel fallen zu lassen.

„Gut.” Sie sammelt seine auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen zusammen und bildet einen sauberen Stapel, den sie so behutsam wieder vor sich auf die Glasplatte legt, als dürfe dabei kein Geräusch entstehen.

„Herr Berger, warum haben Sie das getan?” Ihr Blick klebt weiter am Titelblatt seiner Bewerbungsmappe.

„Gute Frage!“ lobt er. Mit Daumen und Zeigefinger glättet er seinen Kinnbart. „Die Gelegenheit war günstig und ich packte sie beim Schopfe. Ich bin so. Matze trank immer zu viel, wenn wir mal zusammen aus waren. Aber wir waren nicht oft zusammen aus. Kurz, nachdem Matze diese Frau hier in Dresden kennengelernt hatte, ist er zu ihr gezogen. Programmiert haben wir immer in Leipzig, bei mir. Und wenn wir nach der Arbeit mal noch was trinken wollten, hieß das automatisch, dass Matze bei mir schlafen musste. Das gefiel seiner Freundin nicht. Die hatte sowieso beschlossen, mich nicht zu mögen. Obwohl wir uns nie getroffen haben. Sie hielt unser ganzes Projekt für Zeitverschwendung. Mich eingeschlossen.“

Sie will ihn unterbrechen, kommt aber nicht über lautes Einatmen hinaus.

„Ich weiß, ich verstehe das auch.“, wiegelt Berger ab. „Eine Beziehung zu pflegen braucht eben Zeit! Die gemeinsamen Abende müssen toll sein. Aber unsere gemeinsamen Abende waren auch toll! Wir haben niemanden gebraucht. Wir sind immer in unsere Stammkneipe zwei Straßen weiter und haben Gott und die Welt gerettet. An diesem speziellen Abend hat er mir sein Herz ausgeschüttet, weil er bezweifelte, dass seine Freundin an ihn glaubt. Keine Ahnung. Ich habe ihm einen Doppelten nach dem anderen bestellt. Und als sie um zwei die Musik ausgemacht haben, konnte er nur noch lallen. Da wusste ich: Jetzt oder nie. Torkelnd und grölend sind wir zu mir. Als sei es ein Witz unter Besoffenen, bin ich einfach zu ihm in die Dusche gestiegen.“ Er grinst wie ein schmieriger Gebrauchtwagenverkäufer, bevor er ruft: „Bingo!“

Sie starrt ihn ausdruckslos an. Wegen ihrer großen braunen Augen muss er daran denken, dass Kühe in Indien heilige Tiere sind. Bedrohlich leise sagt sie: „Ich meine nicht–“, sie presst die Lippen aufeinander, „die Sache mit ihrem Freund. Ich meine unser Gespräch. Warum haben Sie es so ruiniert?”

„Ich habe Ihnen nur geantwortet.“ sagte er aus dem niedlichsten seiner Dummerchen-Gesichter.

Sie schließt die Augen und spuckt „Ihr Privatleben interessiert mich nicht.” in die Luft.

„Naja.“, er lächelt versöhnlich. „Sie haben aber andauernd danach gefragt.”

„Mitnichten.”, zischt sie.

Als gäbe es Doppel-Ü ruft er: „Natürlich haben Sie das.“ Dann schaltet er eine Oktave höher. „Andauernd! Wie würden Sie sich als Mensch beschreiben? Was würden Ihre Freunde über Sie sagen? Was sind Ihre drei größten Stärken? Was ihre Schwächen? Sind das wirklich alle Schwächen? Wovor fürchten Sie sich? Was haben Sie in der Zeit getan, in der Sie nicht gearbeitet haben? Was tun Sie zum Ausgleich?”

„Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich Sie einstelle!” Ihre Hände sind flach nebeneinanderliegend an der Tischplatte festgefroren, was ihn beruhigt, weil sie so keinen Schaden anrichten können.

„Eben.“, schnarrt er, als sei sie schwer von Begriff. „Deshalb muss ich Ihnen ehrlich antworten.“

Als müsse das Adjektiv ganz ohne Vokale auskommen entgegnet sie: „Aber professionell.“

„Professionell ehrlich?“ rätselt er, während sie wieder auftaut.

„Wissen Sie, das Gespräch lief gut.“ Sie überfliegt ihre Notizen, bevor sie „Wirklich gut.“ nachschiebt. „Warum haben Sie dann alles kaputt gemacht?“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es so furchtbar werden würde.“, bat er um Entschuldigung.

„Aber was haben Sie denn erwartet?“, ruft sie, nicht einmal bemüht, ihre Erschöpfung zu verbergen.

„Völlig Unrealistisches, da haben Sie recht.“ gibt er kleinlaut zu. Dann setzt er zur Verteidigung an: „Aber so ist das ja immer mit glühenden Fantasien: Wenn sie Wirklichkeit werden, enden Sie in einer Katastrophe.“

Sie faltet geräuschlos ihre Hände und klemmt Sie sich vors Kinn.

„Naja, oder zumindest in einer Enttäuschung. Ich wusste, was ihn scharf macht. Ich habe mir ja Tausend Mal anhören müssen, was seine Freundin alles eklig findet. Als ich ihn soweit hatte, sind wir rüber ins Bett. Aber mir war überhaupt nicht klar, wie schwer er ist. Ich habe kaum Luft bekommen unter ihm, auch, weil er so fies nach Knoblauch und Alkohol stank. Als ich dann oben war, hat der angefangen zu schniefen, wie ein Walross. Ich dachte, der ist erkältet, oder so, dabei ist der einfach nur tierisch abgegangen. Und als ich gerade richtig in Fahrt war, brüllte der plötzlich wie ein Gorilla. Ich hatte echt Angst, die Nachbarn rufen die Polizei. Dann machte er ein Gesicht als hätte er ‘ne Herzattacke und dann war er fertig. Fertig! Das hat keine zehn Minuten gedauert. Natürlich hatte er sofort keine Lust mehr. Und ich musste mir selbst helfen. Vielleicht kennen sie das.“

„Das reicht, Berger!“ Sie legt ihren Kopf in ihre Hände, als wollte sie sich die Spitzen ihrer Zeigefinger diskret in die Gehörgänge stopfen.

„Das reichte nicht nur, das war einfach zu viel.“, korrigiert er. „Am nächsten Morgen wurde ich von der Wohnungstür geweckt, die krachend ins Schloss fiel. Ich habe Matze nie wieder gesehen. Auch nicht gesprochen. Ich habe hundertmal versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Er hat nur noch per E-Mail mit mir kommuniziert. Und seitdem das Geschäft abgewickelt ist, antwortet er gar nicht mehr. Der ist einfach zu feige. Das war’s.“

„Korrekt, Herr Berger: Das war’s. Sie gehen jetzt. Den Job haben sie nicht. Sie wollten ihn doch gar nicht wirklich, oder?“ Dann erschrickt sie. „Den Job!“

Berger erhebt sich und zupfte sein Jackett zu Recht. Dann sagt er lächelnd: „Tja also, ich fand’s interessant, dass wir uns kennengelernt haben.“

„Hier sind ihre Unterlagen, Herr Berger. Guten Tag und gute Reise.“

„Vielen Dank, und – sagen Sie schöne Grüße.“

Zum Festland, jeden Tag.

„Nur ein Traum.”
„Und was?”
„Nichts.“
„Nichts! Du hast geschrien!“

„Wir leben auf einer Insel. Du und ich.
Ich muss hinüber zum Festland, jeden Tag. Ich habe ein kleines Motorboot.
Es ist Winter. Das Boot liegt fest.
Der Eisbrecher zwischen der Küste des Festlandes und unserer:
Ich darf ihn nicht verpassen, er fährt nur einmal.
Ich warte am Steg, lange, vergebens.
Du kommst hinzu und legst mir die Hand auf die Schulter:
Das Eis ist zu dick geworden, es zu brechen.

Du läufst los, hinaus, weit, um mir zu zeigen, wie fest es trägt.
Ich folge dir, aber du bist schneller.
Du entdeckst zwei Löcher im Eis, zwei Eingänge, dicht an dicht.
Du tanzt um sie, wie ein Kobold.
Du lachst, dass ich ja darin oder darin Boot fahren könnte.

Dann rutschst du aus, strauchelst, schlitterst, stürzt.
Eines der Löcher verschluckt dich.
Wasser schwappt aufs Eis, gefriert, bevor ich blinzle.
Du wirst dir den Tod holen bei der Kälte, denke ich, nass, wie du bist.
Du wirst ersticken unterm Eis, denke ich, du kannst den Atem nicht halten.
Ich muss dich finden, denke ich, schnell, schnell.
Ich knie auf dem Eis, poliere es mit bloßen Händen, dich zu entdecken, irgendwo.
Ich trommle und trample, wo ich dich vermute.
Ich rufe und weine.
Eis bleibt:
Zwischen uns.

Ich taumele hinüber zum zweiten Loch und stürze mich hinab.
Kälte fährt in mich wie spitzes Metall.
Ich wage es, die Augen zu öffnen.
Sonnenlicht fällt blassgelb durch die Decke über mir.
Ich wage es, tiefer zu tauchen.
Wasser, hellblau, stürzt nach unten ins Schwarz.
Ich wage es, auszuatmen.
Luftblasen umgeben mich. Wie Perlen.
Schön, denke ich.“

„Aber du hast geschrien!“
„Weil du nicht da warst. Auch dort nicht.“
„Freilich war ich das.
Deck dich zu, ich mach uns einen Tee.“

wir schlagen auf eis

es friert um uns.
der kleine bär am nordhimmel,
streut die sterne aus dem pelz.
die wipfel biegen sich ein und wir
brechen uns die stalakmiten vom schopfe.

des federvieh-flug meridianabwärts,
und wir auf gefrierpunkt-zwischenstopp.

es klirrt um uns.
wir stapfen barfuß ins gestrüpp und kommen
mit zündhölzern wieder.
wir staunen über unsere atemschlote und bewahren
einander im hinterkopf.

wir schlagen auf eis.

Die Eismutter (II/II)

Sie schleicht vorsichtig in die Küche. Den warmen, kleinen Körper hält sie fest umschlungen in den Händen. Sie schaut in den Abfalleimer. Den hat sie heute vergessen. Sie setzt sich auf einen Stuhl und weint. Dann trägt sie den Körper ins Wohnzimmer. Danach wieder in die Küche. Vor der Gefriertruhe bleibt sie ruckartig stehen. Sie legt ihn mechanisch hinein. Den Einkauf packt sie obendrauf.

Erschöpft legt sie sich neben ihren Mann ins Bett. Er schläft geräuschvoll. Sie schiebt ihn sanft auf die Seite und flüstert: „Es ist alles wieder in Ordnung!“ Danach dreht sie sich auf die andere Seite zur Wand. Das ist ihre Lieblingsseite. Dort hängt ihr Hochzeitbild. Sie schaut es jeden Abend an bevor sie einschläft. Auch heute schaut sie in ihr umkränztes Lächeln und schließt schnell die Augen. Sie weiß, daß sie ihre Familie gerettet hat. Sie weiß, dass sie eine gute Mutter ist, und eine gute Ehefrau auch! Sollen doch die Leute im Dorf reden. Die reden über jeden. Sie weiß, das sie nie wieder schwanger werden wird!

Sie spielt mit dem Großen. Manchmal trägt sie ihn Huckepack zum verlassenen Spielplatz. Sie mag es, wenn er sie in die Nase kneift. Dann zeigt sie der Kleinen wie das geht und spricht mit ihr in der Kindersprache.

Sie ist 22. Und sie ist wieder schwanger. Das Andere liegt noch in der Truhe. Sie hat es nicht vergraben. Manchmal arbeitet er im Garten. Sie hat Angst in den Wald zu gehen, dort könnte sie jemand beobachten. Dann wäre es mit ihren Kindern vorbei, und der Ehe auch. Sie weiß, in der Küche wird es sicher sein. Sie legt das Neue einfach hinzu. Und die Leute tratschen wieder im Dorf, sie würde ihre Babys für viel Geld verkaufen. Und sie, sie hofft dass sie nie, nie wieder schwanger wird. Das hat sie sich dieses Mal ganz fest vorgenommen.

Und wieder kniet sie im Bad. Und wieder unter ihr die blutbefleckten Fliesen. Und wieder geht sie in die Küche. Sie öffnet die Gefriertruhe und sortiert zwei Einkaufsbeutel. Den leblosen Körper packt sie einfach dazu. Danach legt sie sich wieder auf ihre Seite neben ihren Mann ins Bett. Sie zieht wieder die Decke weit über den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Nachdenken kann sie schon lange nicht mehr. Sie hat aufgegeben, nach einer Lösung zu suchen.

Sie steht am Fenster und blickt auf den Hof. Sie zündet eine Zigarette an. Der Große durfte heute anrufen. Die Großeltern haben es ihm erlaubt. Er hat gefragt, ob man da gar nichts machen kann. Sie hatte geschwiegen. Dann hat er gesagt: „Ich hab dich lieb, ganz doll lieb!“ und aufgelegt. 15 Jahre hat der Richter gemeint. 15 Jahre! Warum sie keine Pille nahm. Und warum sie niemanden davon erzählt habe. Und warum sie keine Hilfe geholt habe. Und ob sie sich bewußt wäre, dass das Töten von 3 Kindern ein Verbrechen darstelle. Sicherlich, richtig war es nicht, das mit den anderen, aber ein Verbrechen. Nein, das versteht der Richter nicht, denkt sie. Alle haben auf einmal so viele Fragen. Im Fernsehen kommen Sondersendungen, nur über sie. Die Leute im Dorf sind entsetzt. Die schütteln die Köpfe und antworten in die Kameras, dass sie immer so nett zu den Kindern war. Alle nennen sie nur: „Die Eismutter“. In der Hand hält sie ihre Zeitung. Auch die nennt sie nur “Die Eismutter“ und zeigt sie auf Bildern, wie sie tanzt und lacht, obwohl die Kinder schon lange tot sind.
Sie schließt das Fenster. Mechanisch blättert sie die Fernsehkanäle durch. Danach schaltet sie den Fernseher aus. Sie setzt sich an den Tisch und spielt wortlos mit ihren Händen. Das Telefonat beunruhigt sie jetzt. Sie drückt nach einem lautem Atemzug die Zigarette aus. Die unbenutzte Zeitung wirft sie in den Mülleimer. Sie schaut auf das Foto an der Wand und löscht das Zellenlicht. Sie legt sich in ihr Bett. Die Decke zieht sie weit über den Kopf.
23, ist sie jetzt.

Ein kaputter Topf und ein kaputter Deckel

Es ist fünf Uhr morgens und du horchst wie der Wecker tickt. Du weißt, du müsstest dich auf den Bauch drehen, den einen Arm unter das Kopfkissen legen und die Augen würden dir zufallen. Stattdessen stehst du auf und tappst barfuß in die Küche. Du suchst eine Mülltüte. Die Küchenlampe knipst du nicht an, der bärtige Mann aus der Wohnung gegenüber wirft dir oft Blicke über die Fenster hinweg, dass dich ein kleiner Schauer erfasst − so als bekäme man Gänsehaut. Das hochgestapelte Geschirr erkennst du schemenhaft und der Geruch, der davon ausgeht, verrät, dass du es gestern schon hättest abwaschen sollen. Dir fällt ein, dass du die Mülltüten vergessen hattest, beim Einkauf letzte Woche. Du nimmst dir stattdessen eine Einkaufstüte vom Küchenstuhl, die Moritz dort achtlos hingeworfen hatte.
Er war bestimmt gerade erst aus dem Club zurück. Die Zimmerwände sind nicht dicker als die Hartfaserrückwände eines Schranks. Und so kennt ihr euch besser, als euch manchmal lieb ist. Ihr hört die Lieblingssongs des Anderen genausooft mit, bringt einander Salbeitee, wenn die Hustenanfälle unerträglich werden und die nächtlichen Begegnungen des Anderen versucht ihr mit Oropax so intim wie möglich zu halten und grinst euch dann am Frühstückstisch an: „Na, ne tolle Nacht gehabt?“ „Hmm.“
Du drückst die Zimmertür leise zu. Der Laptop läuft noch. Du hast Sigur Ros´ gehört die ganze Nacht. Damit hatte alles begonnen. Ihr wart beide auf einer Informationsveranstaltung der Jusos. Du warst neu. Er war neu. Resi war neu. Resi mit ihren seltsamen Weltansichten, dass doch durch das Abschalten von Atomkraftwerken Arbeitsplätze verloren gängen, ließ euch beide die Augen verdrehen. Ihr habt darüber diskutiert bei Salzstangen und Bier. Du mochtest ihn sofort. Er war genau dein Typ. Lockige braune Haare, Bart und politisch interessiert. Du fragtest ihn, ob er dir vielleicht seinen Schlafsack borgen könnte. Warum, fragte er zurück. Du würdest nächste Woche nach Berlin zu einem Konzert von Sigur Ros´ fahren und müsstest dir noch einen Schlafplatz besorgen. Klar, kriegst du meinen Schlafsack, sagte er, aber nur, wenn du mich mitnimmst. Ihr wart also gemeinsam zum Konzert gefahren. Ihr habt euch Bandnamen hin- und hergeworfen und ward erstaunt gewesen, wie ähnlich doch euer Musikgeschmack war. Ihr seid spazieren gewesen am Spreeufer, habt Enten mit Pistazienschalen beworfen und seit Hand in Hand vor ihnen davon gelaufen, als sie euch mit ihren Schnäbeln in Rücken und Arme pickten. Ihr seid zum Flughafen gefahren und du hast das erste Mal ein Flugzeug von so nah gesehen. Ihr habt euch auf den buntbekreisten Sitzen der BVG aneinandergelehnt und auf einem unbefahrenen Bahnhofsgleis Kürbiskernbrötchen gegessen und mit einem großen Pappbecher Kaffee auf den Sonnenaufgang gewartet. Ihr nahmt den ersten Zug nach Leipzig. Ihr ward verknallt.
Du schaltest die Nachttischlampe an, obwohl es schon langsam hell wird draußen. Du öffnest die Tüte und wirfst die ausgebrannten Teelichter hinein, die vertrockneten Gänseblümchen, das Silberpapier von der Bio-Schokolade neben deinem Bett. Du frierst und eine Träne rinnt dir die Wange hinunter. Du musst an die erste gemeinsame Nacht denken, als er ein Porträt von dir malte. Zwei Stunden hattest du dich bemüht, still zu sitzen und hübsch auszusehen. Als Belohnung gab´s Spagetthi Bolognese. Die Teller habt ihr auf den Boden gestellt und „Dogville“ angeschaltet. Ihr seid eingeschlafen auf dem furchtbaren Sitzsack. Schlafen konnte man das auch nicht nennen, eher genießen einander nahe zu sein, egal wie unbequem es auch war. Als der Soundtrack zum hundertsten Male lief, bist du aufgestanden und hast den Laptop auf Standby geschalten. Er stand plötzlich hinter dir. Er legte seine Arme um deine Hüften und du hast dich umgedreht. Ihr habt euch geküsst.
Du hockst auf dem Bett und suchst nach einer Packung Taschentücher. Du kannst nicht aufhören zu weinen. Seine Paper liegen noch auf dem Nachttisch. Du hattest ein Kuli-Herz auf die Innenseite gemalt, als er sie neu gekauft hatte und du hattest am Abwaschbecken gestanden und dich verstohlen auf sein überraschtes Gesicht gefreut, als er sich eine Zigarette drehen wollte. Du schmeißt das Päckchen wütend in die Tüte. Und diese tausend Klebezettel, die hier im ganzen Zimmer verteilt sind, willst du ebenfalls reinschmeißen. Du reißt sie von der Wand über deinem Schreibtisch, vom Nachttisch, einen vom Radio und drei von der Tür. Dein Blick bleibt am Hocker hängen, auf dem sein blaues T-shirt liegt. Das hatte er einmal zum Trocknen bei dir gelassen, als ihr im strömenden Regen vom See nach Hause geradelt ward. Wenn du ehrlich warst, hattest du nie vor, ihm dieses Shirt zurückzugeben. Es roch nach seinem Aftershave und Sommerregen. Als er eine Woche paddeln war mit seinen Freunden, hattest du das Shirt über ein Kissen bezogen und dir vorgestellt, er würde jetzt neben dir liegen. Das hatte dich beruhigt. Sein Geruch und seine Wärme hatten dich immer beruhigt. Und wenn du Alpträume hattest und im Schlaf zu sprechen und zu weinen anfingst, dann hatte er dich geweckt und geküsst und dir die Haare aus dem Gesicht gestrichen.
Du läufst in die Küche. Die Kirchenglocke müsste gleich sechs schlagen. Du schaltest den Wasserkocher an. Ein Tee wäre gut. Hunger hast du nicht. Du kramst im Regal und die Schachtel Pfefferminztee fällt dir entgegen. Es gab Tage an denen er depressiv war und du wusstest nicht, wie du damit umgehen solltest. Du hattest dann gesagt: Komm, wir gehen spazieren und ihr lieft stundenlang schweigend Hand-in-Hand durch die ganze Stadt. Manchmal hast du ihm einen Gummi-Schlumpf gekauft und er hatte lächeln müssen. Manchmal aber hast du ihm einfach nur eine große Kanne Pfefferminztee gekocht und ans Bett gebracht. Du wirfst die Schachtel mit in die Einkaufstüte. Du mochtest ihn nie.
Du rufst E-Mails ab. Keine neuen Nachrichten. Du klappst den Laptop zu. Den aufgeklebten Zettel auf dem Laptoprücken hattest du tagelang verstört angesehen: Ich kann das nicht. Es tut mir leid. T.
Du reißt ihn ab. Du reißt ihn in viele Stücke, bis er sich nicht mehr zerreißen lässt. Nichts mehr willst du davon lesen können. Du schlägst plötzlich im Wechsel mit beiden Fäusten auf deine Oberschenkel, immer schneller und schneller. Du pustest, so kräftig wie deine Wut es zulässt. Es regnet. Es regnet Konfetti.

mein fotografisches Gedächtnis


Während man im Radio jene beziffert, die auf der anderen Seite des Planeten bei der schlimmsten Überschwemmung ertrunken sind, tropft mir der Honig vom Brötchen in die Hand. Die Serviette löst sich in einzelne Lagen, als ich mich abputze, so dass die äußeren Schichten zu Knäueln verkleben, während das Innere unberührt bleibt. Ich lecke meinen Handballen, ausgiebig schmatzend, wie sich dein Hund seine Pfoten leckte, und freue mich über dein entsetztes Gesicht. Du zischst, was denn die Leute denken sollen, und ich setze an, dir „Was sie wollen.“ zu antworten, aber als es süß schmeckt und salzig erinnere ich mich.

Daran, wie du geschmeckt hast, gestern, als sich dein Schweiß mit dem Regen vermischte, der den Tag kurz vor seinem Ende achtlos in die Gullis spülte. An die Tropfen, die in deinen Haaren hingen, und den Widerwillen unserer Haut, als sich dein Hals von meinem löste. Du hast mich berührt, daran erinnere ich mich. Aber nicht an diesen Ort.

Rückwärts im Zug haben wir durch Fotos geblättert. Du hattest mich gebeten, nach ihnen zu suchen, als feststand, wohin die Reise ging. Bestimmt wäre da meine Mutter drauf, mein Lausbubenlächeln und die 80er Jahre und vieles, was du noch nicht weißt. Ich fand sie in einer Kiste im Keller zwischen Münzen und Marken in einem Album – halbvoll. Tatsächlich zeigen sie meine Mutter, meine Igelfrisur und die DDR. Vor allem aber vieles, was ich nicht mehr weiß.

Als du das Album aufschlägst, findest du, dass es nach Kleber riecht, nach fremdem Zuhause ein bisschen und nach vergangener Zeit. Ich rieche Keller, Feuchte und Schimmel, und greife schweigend nach dem ersten Seidenpapier.

Ein Junge lehnt an einem Geländer am Hafen.
Am Steg heißt ein Schiff „Völkerfreundschaft“.
Am anderen Ufer ein Campingplatz.

Ein Junge steht im Brunnen am Marktplatz.
Ein Hering aus Stahl speit auf seine dicklichen Waden.
Die Rathausuhr sagt, es sei dreiviertel drei.

Ein Junge sitzt auf einem Koffer am Bahnhof.
Am Kiosk hinter ihm gibt es Fischbrötchen
und Bockwurst mit Senf für 0,8 Mark.

Der Junge bin ich, du siehst das sofort. Du findest, dass ich süß bin. Ich frage dich, wann. Du zeigst mir den Stempel auf der Rückseite eines Fotos und sagst Juli Neunzehnsechsundachtzig. Ich frage nach heute. Du lachst und bist schön.

Wir blättern weiter:
Meine Mutter raucht in den Abendhimmel.
Ihre roten Lippen haben den Filter gefärbt.
Die hellgrünen Lider passen perfekt zum Blouson.

Meine Schwester schaukelt gegen das Licht.
Ihr Haar hat die Farbe von reifem Getreide,
ihr Kleid lacht über himmelblau.

Ihr Mann klettert in einen Kirschbaum.
Sein Bart maskiert ihn als Freiheitskämpfer.
Seine nackten Füße haben schwarze Sohlen.

Heute ist meine Mutter nicht mehr und meine Schwester geschieden. Aber nicht von diesem Mann, der ist in den Jahren verloren gegangen. Und ich? War schonmal hier. Und weiß es nicht mehr.

Das ist in Ordnung, sagst du, völlig normal. Und nicht wahr, versprichst du, es ist alles noch da. Finden wir die Orte, finden wir auch die Geschichten. Du wettest, ich zweifle. Wir wollen suchen gehen.

Du wickelst zwei Brötchen mit gelber Konfitüre in frische Servietten und nennst sie Proviant. Ich leere meinen Malzkaffee bis auf den Satz, um dich anzugrinsen mit schlammigen Zähnen. Und in dein Lachen auf das ich zählte, frage ich trotzig, was dieser Moment wert war, wenn er dir nicht bleibt. Momente bleiben nicht, dozierst du, nur die Geschichten, die aber für immer. Und weil ich das schön finde, aber nicht glaube, ziehen wir los, mit den Fotos und deiner Kamera und dem Proviant, die Orte zu finden, an denen ich in die Sonne blinzelte, fünfundzwanzig Jahre vor heute.

Den Schlüssel zu unserem Zimmer lässt du am Tresen in ein dunkles Fach hängen, damit er nicht verloren geht, wie manches. Währenddessen stecke ich meine Hand bis zum Gelenk ins Bonbonglas, um zwischen den Drops nach den Toffees zu angeln, die du so liebst. Du bist sehr erwachsen, aber ich kann manche deiner Traurigkeiten mit Bonbons vertreiben. Das hat im Frühling funktioniert als dein Hund weg ist, und du ihm nachwolltest. Wenn auch nur ein bisschen. Und heute muss es wieder funktionieren, denn ich werde mich nicht erinnern.

Bei unserer Ankunft gestern Abend, Gleis vier, hast du gesprochen, und ich geschwiegen. Du hast vom Garten deiner Oma erzählt, der auch an Gleise grenzte, so wie die Gärten, die wir gerade passierten. Einmal war der Bach so weit über seinen Lauf getreten, dass ihr Kinder, in einer Badewanne aus Holz durch die Sträucher geschippert seid, um die Aprikosen zu ernten.

Ich mochte die Geschichte, aber ich kannte sie schon, und so suchte ich still in der Umgebung nach Dornen, an denen ich meine Erinnerung hätte ritzten können.

Als wir uns vor dem Bahnhof wie durch einen Irrgarten, durch die parkenden Autos schlängelten, habe ich gesehen, dass dort kein Kiosk mehr steht. Fischbrötchen muss man heute bei Nordsee kaufen. Auf dem Weg zur Pension habe ich das Rathaus entdeckt, hinter Gerüsten und Planen, und den gepflasterten Platz mit seinen Geranien, und dem Wochenmarkt. Aber ohne Brunnen. Und als wir vor Mitternacht unten am Hafen das Gewitter grüßten, das wir aus dem Radio kannten, haben wir gespottet, dass die Schiffe heute „Sea Princess“ heißen. Als dann der Blitz einschlug, in dich und mich, war da kein Geländer.
Das weiß ich, denn ich hätte eines gebraucht.

Mit den Füßen im Wasser liegen wir am Ufer und ich mit meinen Haaren auf deinen, auf dass auch meine Haare nach Regen riechen. Wir sind erschöpft, weil du dich verrannt hast in alten Bildern, und ich mir in neuen Schuhen Blasen gelaufen habe.

Am Bahnhof gibt es keine Bockwurst mehr und auf dem Markplatz keine Wasserspiele. Der Campingplatz ist ein Einkaufszentrum und die Rathausuhr zeigt nicht mehr die Zeit. Du bist traurig, weil nichts mehr da ist, die Orte nicht und nicht die Geschichten und auch sonst nichts, an das ich mich erinnern könnte. Und ich streichle deine Wange und seufze
und bin da.

„Wenn doch alles verschwindet -“ fängst du an, als ich endlich einen Toffee zu fassen kriege und ihn sofort in deine Hand lege, damit du ruhig bist. Ich bin auch ruhig und sage dir nicht, dass du eine Wette verloren hast, denn ich habe nichts gewonnen. Und während auch ich ein Trosttoffee kaue, überlege ich, ob es ein Wort gibt für dieses Gegenteil eines Déjà-vu.

Da nimmt mir der Wind das Papier aus den Fingern und legt es aufs Wasser und trägt es davon. Und als ich das sehe, frage ich erst mich und dann dich, was uns trauriger macht: dass die Geschichten fehlen oder die Bilder noch da sind. Und weil du schweigst, setz‘ ich mich auf, nehme die Fotos aus dem Dunkel der Tasche und zerreiße das erste in zwölf kleine Quadrate. Da setzt du dich auf, schnappst dir neun Teile und fragst mich, ob ich denn von allen guten Geistern verlassen sei. Von dir nicht, flüstere ich und gebe dir kampflos die restlichen drei.

Und als ich das letzte Stück zurück ins Puzzle lege, küsst du mich und lobst mein fotografisches Gedächtnis. Wir lachen. „Bleib so!“, rufst du, greifst zur Kamera, legst deinen Arm um mich und nimmst ein Bild auf.

Erschossen haben sich schon so viele.

„Wir sind alle Sternenstaub. Weißt du das?“
„Das stimmt nicht. Es gibt keinen Sternenstaub. Sterne sind aus Gas.“
„Dann eben Planetenstaub. Alles ist Planetenstaub!“
„Von mir aus.“

Die vier sechsgeschossigen Neubaublöcke, die sie umgeben sind wie Wände.
Der abgesteckte Würfel Luft ist ihr Raum.
In der Mitte steht eine Tischtennisplatte aus Beton.
Darauf liegen sie und starren in den Himmel.
Die einzige Richtung, in der ihr Blick nicht an einer Mauer endet, ist himmelwärts.

„Aber das ist doch toll! Wir sind aus dem gleichen Stoff, wie das Funkeln dort oben!“
„Nein. Was du siehst sind Sterne. Wir sind aus Planeten. Aber Planeten leuchten nicht.“
„Doch, die Venus leuchtet. Du hast sie mir gezeigt! Da, rechts neben der Antenne der blassgelbe Punkt.“
„Die Venus leuchtet nicht. Sie reflektiert nur. Weil sie von der Sonne angestrahlt wird!“
„Ist mir egal, warum die leuchtet. Hauptsache, sie tut‘s. Was ist denn los mit dir?“

Mit lautem Hauch lässt Mathias den Rauch aus seinen Lungen entweichen. Weil die Luft still ist, schwebt die Wolke noch lange über ihnen.
Achtlos aber gekonnt schnippt er den Zigarettenstummel ins Gebüsch.
Er räuspert sich.

„Wenn du dich umbringen wolltest: Wie würdest du es anstellen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Ja, aber wenn du wolltest, wie würdest du es machen?“
„Keine Ahnung. Ich will leben.“
„Los jetzt, gib dir mal Mühe!“
„Geht doch alles erst los gerade. — Schlafmittel?“
„Funktioniert nicht mehr. Die mischen mittlerweile irgendwelches Zeug unter die Tabletten. Du musst kotzen, wenn du zu viele nimmst.“
„Mofa gegen Baum setzen?“
„Zu gefährlich. Wenn das schief geht, endest du als Krüppel im Rollstuhl. Ist beim Aufhängen das Gleiche.“
„Pulsadern aufschneiden?“
„Dauert ewig. Und am Ende rufst du dir doch einen Krankenwagen.“
„Vor einen Zug würde ich mich jedenfalls nicht werfen. Der Lokführer kann ja nichts dafür. Wofür eigentlich? Wieso willst du dich umbringen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Und worüber reden wir dann?“
„Darüber, wie ich es tun würde, wenn ich wollte.“
„Aha. Und wie würdest du es tun?“
„Ich würde von einem Hochhaus springen.“

Es war ein heißer Tag.
Inzwischen ist die Luft soweit abgekühlt, dass sie sich wie ein feuchtes Tuch auf die Körper der Jungen legt.
Der Stein der Tischtennisplatte hat noch Wärme.
Bereitwillig gibt er sie in ihre Rücken ab.

„Ich stelle mir das toll vor. Der Moment, wenn du an der Kante stehst, mit den Zehen schon darüber. Dein T-Shirt flattert im Wind und deine Haare. Und dann breitest du die Arme aus, holst tief Luft – zum letzten Mal – und lässt dich ganz langsam nach vorn fallen.“
„Und dann bist du tot.“
„Nein! Erst fliegt der Horizont nach oben aus deinem Blick, dann merkst du, wie die Gravitation dich anzieht und du immer, immer schneller wirst. Dann dröhnt der Fallwind in deinen Ohren. Dein Gesicht fängt an zu schlabbern. Und dann siehst du keine Bäume, Autos, Menschen mehr sondern nur noch Streifen und dann – Bamm! – ist es dunkel.“
„Aber dann bist du tot.“
„Ja. Kann aber sein, dass ich das gar nicht mehr mitkriege, weil ich schon im Flug ohnmächtig geworden bin. Wegen dem Schock und dem Adrenalin und so. “
„Wenn du tot bist, kriegst du sowieso nichts mehr mit. Ist doch scheiße.“
„Aber vielleicht kriege ich den Aufprall noch mit. Wie meine Knochen brechen und mein Schädel.“
„Auch scheiße.“
„Aber ein cooler Abgang.“
„Was ist denn daran cool?“
„Keiner traut mir so etwas zu. Riesending. Alle werden von mir reden.“
„Werden?“
„Würden.“
„Du spinnst doch!“
„Alle würden kapieren, dass ich doch mutig bin und – krass.“
„Aber daran zweifelt doch niemand!“
„Und alle würden kapieren, dass sie mir gar nichts zu sagen haben. Dass sie mich am Arsch lecken können, weil ich mein eigenes Ding mache.“
„Du machst gar nichts mehr!“
„Und dann würde ich ihnen fehlen und es würde ihnen leid tun, dass sie so scheiße zu mir waren und sie würden mich vermissen.“
„Wer?“
„Was?“
„Wer war scheiße zu dir?“
„Weiß nicht. Alle eben.“
„Sag mir, wenn jemand scheiße zu dir ist.“
„Und dann?“
„Dann kriegt er paar aufs Maul.“
„Von dir!“

Simon tastet nach seinem Rucksack auf dem Boden.
Er angelt eine Dose Bier heraus und öffnet sie.
Es zischt. Mathias kann ihn trinken hören.
Dann reicht ihm Simon die Dose herüber.

„Es ist wegen Steffi, oder?“
„Merkt man das?“
„Ich bin doch nicht doof.“
„Wissen es die anderen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es.“
„Ich liebe sie.“
„Mann!“
„Was denn?“
„Sie liebt dich nicht. Die merkt nicht mal, dass es dich gibt.“
„Aber warum nicht?“
„Weil sie eine eingebildete Ziege ist?“
„Sie ist toll!“
„Nein, sie ist dämlich.“
„Wieso denn?“
„Weil sie dich nicht will.“

Der Blick ins Weltall wird nicht erwidert.
Der Mond klebt am Himmel, wie eine Mandrinenspalte.
Es riecht nach Gewitter, aber es sieht nicht danach aus.

„Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“
„Wann?“
„Vor zwei Wochen.“
„Was stand drin?“
„Na, dass ich sie mag und ob wir mal zusammen klettern gehen wollen.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat sie geantwortet?“
„Gar nichts.“
„Ich sag’s doch: Das ist eine blöde Ziege.“
„Ja, vielleicht.“

Mathias setzt sich auf und trinkt.
Er zielt auf den Mülleimer am Sandkasten.
Er versenkt die Dose scheppernd.
Als er sich wieder niederlegt, landet sein Kopf auf Simons Arm.

„Wir können ja zusammen klettern gehen.“
„Aber du hast doch Höhenangst.“
„Ja. Aber da sind doch Seile und Gurte und so. Oder?“
„Da! Hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe!“
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen.“

Jonathan hat ein Foto zu seinem Album hinzugefügt

S: In diese Einöde? Mit Sack und Pack?

J: Jawohl. Und mehr als einen Koffer werde ich nicht mitnehmen.

S: Du machst Witze!

J: Nein. Ich mache Ernst. Neue Kleider kriege ich dort. Ich werde nur ein paar Fotos und ein Tagebuch behalten.

S: Und dein Rechner?

J: Bräuchte Strom.

S: Und dein ganzes Zeug?

J: Kannst du haben, wenn du willst.

S: Okay, nehme ich.

J: Wirklich?

S: Klar, weißt du,  ich leihe mir den Transporter von Andreas und komme nächste Woche einfach mal vorbei.  Wenn ich in meinem Zimmer eine Zwischendecke einziehe, kann ich deine Möbel auch noch stellen…

J: Tolle Idee. Ich fliege aber schon am Sonntag.

S: Du hast die Tickets schon?

J: Das Ticket. Ja.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

J: Ich lasse alles hier. Du kannst dir holen, was du magst. Was übrig bleibt, fährt Jens irgendwann zum Sperrmüll.

S: Nichts dabei, woran dein Herz hängt?

J: Doch. Aber ich will ein freies Herz.

Sarah ist online.

S: Hast du noch mehr Bilder?

J: Natürlich. Sekunde.

Ziehe Fotos, Musikstücke oder Videos auf diese Fläche, um sie mit Sarah zu  teilen.

S: Herrje, gibt es außer dieser Hütte noch irgendetwas anderes dort?

Klicke hier, um die Ortsmarkierung an einen Freund zu senden.

S: Jonathan, dieses Nichts wird dich auffressen! Du wirst umkommen vor Langeweile!

J: Ganz im Gegenteil: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.

S: Du verarschst mich doch!

J: Wieso?

S: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat? Ganz ehrlich: Schreib diesen Satz auf einen Zettel und wenn du wieder nüchtern bist, lachen wir gemeinsam darüber.

J: Was meinst du?

S: Was meinst DU? Jonathan, wer ist „man“? Du? Du willst „man“ sein? Das ist lächerlich!

J: Kapiere ich nicht.

S: Ist ganz einfach: Du bist nicht „man“. Du bist Jonathan. Der, der im Sommer Strickmützen trägt und im Winter Sneakers. Der, der sich rasiert, weil alle Jungs Bart tragen.  Der, der sich eine Fee auf den Oberarm tätowieren lässt, weil das sonst keiner hat. Seit ich dich kenne, tust du alles um Jonathan zu sein! Und bloß nicht „man“!

J: Sind doch alles Äußerlichkeiten.

S: Ah, verstehe! Äußerlichkeiten spielen keine Rolle mehr, plötzlich?

J: Genau.

S: Moment:  Als ich dich zum letzten Mal besucht habe, standen zwei  Riesendosen Muskelaufbau-Eiweißpulver neben der Hantelbank in deinem Zimmer. Was ist DANN passiert?

J: Nur die Hütte ist passiert. Seitdem ich dort war ändert sich alles.

S: Das merke ich. Gefällt mir nicht.

Jonathan ist online.

S: Und die Wahrheit ist: Ich glaube dir nicht! Du hasst Alltag! Du willst kein geregeltes Leben führen! Das bist nicht du!

J: Das bin nicht ich. Gefällt mir. Doch, ich will ein geregeltes Leben. Mit fester Struktur und klaren Notwendigkeiten.

S: Mit Müssen? Jonny, du bist allergisch auf Müssen! Sehr.

J: Ich meine nicht Müssen.

S: Dinge, die notwendig sind, muss man.

J: Ich werde eine klare Rolle haben. Eine Aufgabe. Mit Bedeutung für andere.

S: Weißt du schon welche?

J: Sie brauchen einen Wasserträger.

S: Nee, is klar.

J: Um das Wasser vom Brunnen in die Hütte zu bringen.

S: Und dafür hast du studiert? Um hauptberuflich Wasser für Grüntee ranzuschleppen?

J: Nicht nur für den Tee. Auch für die Waschungen. Und die Speisen.

S: Oh, das sehe ich ein! Bei so viel Wasser braucht man ein abgeschlossenes Studium.

J: Natürlich nicht. Ich brauche kein Studium mehr.

S: Außer Selbststudium, nehme ich an.

J: Das stimmt. Achtsamkeit, Konzentration, Meditation, Beten.

S: Gerade gefiel dir noch Nicht-Ich-Sein. Jetzt willst du dich selbst studieren. Ich sag’s nur.

J: Ich will endlich zu mir kommen.

S: Mir wäre ja lieber, du würdest zu mir kommen.

Sarah lächelt.

Jonathan lächelt.

S: Und dann? Wenn du bei dir bist?

J: Dann will ich mich überwinden.

Sarah lacht laut.

J: Man MUSS zu sich kommen, um sich zu überwinden. Ich glaube das!

S: Und warum? Und was soll das bedeuten?

Jonathan ist online.

J: Ich selbst sein hat jedenfalls nicht funktioniert.

S: Weil du dich nie getraut hast!

J: Und du so?

S: Es geht um dich, gerade.

J: Es geht immer um mich, Sarah! Das ist ja, was so nervt!

S: Häh?

J: Mein Leben ist ein Hoppserlauf von Strohfeuer zu Strohfeuer. Deine Worte.

S: Hab ich gesagt, ich weiß. Sehe ich immer noch so. Finde ich mittlerweile aber völlig in Ordnung. Solange. Du. Brennst.

J: Ich brenne nur nieder. Ich entfache nichts.

S: Das ist esoterisches Geschwurbel, Jonathan! Was soll das heißen?

J: Ich weiß nicht, wozu ich hier bin.

S: Und da dachtest du dir: Mensch, auf der anderen Seite des Planeten suchen sie einen Wasserträger, das wär‘ doch was für mich!

J: Die brauchen einen Wasserträger. Er fehlt dort. Ich bin hier zu viel.

S: Schaff dir Kinder an, wenn du zu viel Zeit hast!

J: Ich will keine Kinder, bevor ich weiß, worum es geht.

S: Es GEHT um Kinder, Jonathan! Es geht immer um Fortpflanzung! Überall!

J: Das ist sinnlos.

S: Und wenn schon. Es funktioniert.

J: Nicht für mich.

S: Jonny, Sinn ist eine Erfindung der Menschheit. Juckt die Natur kein bisschen, wenn der fehlt.

Jonathan ist online.

S: Bei Wikipedia steht, dass die nur miteinander sprechen, wenn es unbedingt nötig ist. Übst du wohl schon?

Jonathan lächelt.

J: Ich habe jedenfalls nichts zu sagen, gerade.

S: Du wirst das nicht aushalten, wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast. Alles, an das du dich jemals gewöhnt hast, hast du aufgegeben.

J: Ich weiß. Aber diesmal –

S: Mich auch.

J: Ja.

Jonathan küsst Sarah.

Jonathan ist offline.