Gut, gut; danke, danke

Ich brauche Chilis, ich brauche Erdnusstofu, ich brauche Kokosmilch; im Kopf gehe ich meine Einkaufsliste durch. Die Glastüren des Supermarktes öffnen sich, ich sehe auf und entdecke eine schöne Jacke. Ich brauche auch eine neue Jacke, denke ich, eine schöne; vielleicht eine wie die da, in einem so hellen, freundlichen Blau, kräftiger als der Himmel. Meine Jacke ist zehn Jahre alt, ihre lackierten Druckknöpfe sind abgewetzt und in der rechten Tasche ist ein Loch, durch das immer wieder Münzen ins Futter rutschen. Ich sehe den Mann in der Jacke und denke, ja, die Jacke steht ihm, gute Wahl; und dann sehe ich, dass sogar die Schuhe des Mannes zu seiner Jacke passen. Erst jetzt begreife ich, es ist deine Jacke, es sind deine Schuhe, es sind deine Augen: du bist es.

Sofort spüre ich den Impuls, mich abzuwenden; mich plötzlich sehr zu interessieren für das Vogelfutter, dass auf der Saisonfläche im Eingangsbereich aufgestapelt ist; den Impuls, dir den Rücken zuzuwenden, mich hinunter zum Vogelfutter zu bücken und aufmerksam die Zutatenliste zu studieren, damit du mich übersiehst oder ohne Peinlichkeit übersehen kannst oder mir wenigstens glaubst, dass ich dich übersehen habe. Dann aber – noch in der Hocke – rufe ich: Hey! Ich brauche kein Vogelfutter und ich möchte nicht daran erinnern müssen, mich einmal im Vogelfutter vor dir versteckt zu haben.

Du bleibst stehen, siehst zu mir herunter, machst ein überraschtes Gesicht und sagst: Hey. Du erkennst mich sofort; schade, denke ich, einmal möchte ich mich so sehr verändern, dass die Leute überlegen müssen, wenn sie mich treffen; dass sie staunend Fragen müssen: Korbinian, bist du es; fast hätte ich dich nicht erkannt. Ich habe ein paar Kilo zugelegt, seit unserem letzten Treffen, darüber hinaus hat es keine wesentlichen äußerlichen Veränderungen gegeben, wahrscheinlich sehe ich ein bisschen älter aus; ich bin ein bisschen älter. Du erkennst mich also, kein Wunder, aber in deinem Lächeln steckt etwas Vorsicht, immerhin.

Ich überlege, ob ich dich drücken soll. Wir haben uns immer gedrückt, wir waren ja Freunde, enge Freunde. Für eine Weile waren wir vielleicht mehr als das, also du für mich. Was ich für dich war weiß ich nicht, das müsste ich dich fragen; aber welchen Sinn hätte das, alles ist so lange her. Du überlegst kein bisschen und drückst mich, wie immer. Ich drücke zurück, fest. Schön, dich zu treffen; du bist dünn geworden.

Ich frage, wie es dir geht; doch, doch, es interessiert mich wirklich, aber es ist eine heikle Frage bei dir. Du warst krank, sehr krank, vielleicht bist du es noch, ich weiß es nicht, auf Facebook hast du nichts davon geschrieben, aber so etwas schreibt man auch nicht auf Facebook. Du verstehst die Frage als Floskel und antwortest nett, gut, gut, danke, danke; ich hake nicht nach.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es in Wien war. Du hast dich eingecheckt in einer Konzerthalle; ich habe sofort gegoogelt, wer dort spielt, aber nur um zu prüfen, ob meine Vermutung stimmte; sie stimmte. Um diese Band live zu sehen, bist du auch vor zehn Jahren schon 500 Kilometer gefahren, und zwar nur für diese Band; manchmal saß ich auf dem Beifahrersitz im Gegensatz zu dir aber nicht, weil ich deren Musik so mochte, sondern weil ich gern neben dir im Zelt schlief. Du staunst, dass ich von Wien weiß; ich behaupte, ich habe es zufällig auf Facebook gelesen, aber ich werde rot und komme mir wie ein Stalker vor. Dass ich davon las war alles außer zufällig: ich lasse mich benachrichtigen wann immer du etwas postest.

Du erzählst von der Hinfahrt und von den Leuten, die dich begleitet haben, von der Band und vom Stadtrundgang. Ich höre dir zu, aber die Leute, die dich begleitet haben, interessieren mich nicht; viel mehr interessiert mich das Label deiner Jacke, das in schnittigen Lettern auf die Brust gestickt ist. Wie machst du das, frage ich mich, wieso hast du so ein Händchen für Mode; du bist immer so beiläufig schick, als würdest du gar nicht darüber nachdenken, während ich viel nachdenke, auch über Mode, und trotzdem immer das gleiche anhabe.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es mit der Arbeit läuft; gut und schlecht sagst du und erzählst von sechsstelligen Einnahmen und sechsstelligen Ausgaben und hohen fünfstelligen Bilanzierungsfehlern, die euch vielleicht in den Ruin treiben könnten, aber du lächelst dabei. Du nimmst es nicht so schwer, wie du nichts schwer nimmst, sogar wirklich Schweres nicht. Wenn du lächelst, ziehen sich neuerdings strahlenförmig Fältchen von deinen Augenwinkeln aus über dein Gesicht bis hinunter zu deinen Wangen. Das sind Lachfältchen, denke ich, aber kann das sein; kann jemand, der so krank war wie du, Lachfältchen kriegen, die so lang sind, wie deine? Und wieso kriegt jemand, der gesund ist wie ich, statt Lachfältchen eine Furche über der Nase, die so tief ist, wie bei mir? Du hast aufgehört zu sprechen und starrst in meinen leeren Einkaufskorb. Tja, also, gut, sage ich, und denke, dass es gut ist, dass du arbeitest, weil es bedeutet, dass du gesund bist. Ich atme durch, aber nicht zu tief, denn deine Wangenknochen sind hervorgetreten und obwohl ich finde, dass dir das steht, ist es kein gutes Zeichen.

Du erzählst von deinen Katzen, wahrscheinlich, weil du meinen Blick in deinen Einkaufskorb als Frage verstanden hast; darin liegt außer zwei Packungen Katzenstreu nur ein großer Smoothie mit Stachelbeeren. Deine Katzen waren jetzt zwei Tage allein, du warst ja in Wien; deswegen musst du dann auch los, denn seit du aus Wien zurück bist, warst du noch nicht zu Hause. Du hast zuerst Malin besucht, sagst du; Malin, du weißt schon, mit der wir in der Schule waren.

Ich weiß, wer Malin ist, wir haben neulich ein paar Nachrichten hin und her geschrieben, es geht ihr gut, also frage ich nach deiner Freundin – die heißt Sophie. Sophie ist in Afrika zum Forschen, ihr Projekt sollte ein Jahr laufen, aber jetzt sind schon zwei Jahre rum und sie ist immer noch nicht zurück. Jedenfalls nehme ich das an, denn du hast nichts über ihre Rückkehr geschrieben und ich habe keine Einladung, zu einer Wiedersehensparty bekommen; obwohl, wer weiß, ob ihr mich einladen würdet. Du hörst auf zu lächeln und erzählst, dass Sophie im Sommer zurückkäme; vielleicht, wie du anfügst. Bis dahin wirst du aber umgezogen sein, in das Viertel, in dem wir aufgewachsen sind, in einen dieser Wohnblöcke, in denen ein Schulfreund von uns gewohnt hätte; von dort wäre es nicht so weit zu deiner Arbeitsstelle und außerdem wäre es auch nicht so weit zu Malin. Weil du nichts fragst, frage ich, ob das für Sophie okay sei und du fragst zurück, was Sophie denn schon dagegen tun sollte.
Ich weiß, dass du Malin liebst, ob immer noch oder schon wieder, das weiß ich nicht, und auch nicht, ob dir klar ist, dass es so ist. Ich aber kann es eindeutig in deinen Augen sehen, die strahlen unverschämt glücklich, wenn Du sie erwähnst und ich kenne Dich, zumindest kannte ich dich Mal und auch, wenn das alles lange her ist, weiß ich genau, was dieses Strahlen bedeutet. Dass ich angesichts dieses Strahlens nicht mehr klar denken konnte, wurde einst zu einem Teil unseres Problems, also meines Problems, ich weiß nicht, ob du je eines hattest mit mir; du hast eigentlich keine Probleme, du löst sie.

Ich richte meinen Blick an deinem Kopf vorbei in die Obst- und Gemüseabteilung; Mandarinen sind heute im Angebot, eine Kiste für nur fünf Euro; wer soll denn eine Kiste Mandarinen essen, frage ich mich, aber dich brauche ich das nicht zu fragen. Du magst keine Mandarinen; das feine weiße Netz in das die Spalten gehüllt sind, findest du bitter und die Pulerei nervt dich. Du schaust an meinem Kopf vorbei auf den Parkplatz, dann holst Du dein Telefon aus der Tasche und zeigst mir die schöne neue Hülle, die du dafür gekauft hast; eine Hülle mit einer modernen Leipzig-Illustration, ich mag sie. Ich hole daraufhin mein Telefon aus der Tasche, es hat die Farbe deiner Jacke, also die Farbe deiner Augen, also deine Lieblingsfarbe, also deine Farbe, aber leider ein inkompatibles Betriebssystem, wie du feststellst, was ich so passend finde, dass ich durch die Nase lachen muss; du bist irritiert.

Als du eine Weile von der unglaublichen Geschwindigkeit dieses neuen Mobilfunkstandards erzählst, fasse ich mir ein Herz, sehe dir in die Augen und frage dich, wie es dir geht, also gesundheitlich jetzt. Du siehst mich an und schweigst eine Sekunde; bis vor kurzem ging es dir gut, sagst du, jetzt aber haben sie wieder was entdeckt, einen Knubbel in deinem Rücken, nicht sehr groß, wie eine Kirsche ungefähr, den haben sie rausgeschnitten, tatsächlich war er nicht gut. Gut aber, dass er weg ist sagst du, und dann zuckst du mit den Schultern und ergänzt, dass es auf die eine Narbe mehr auch nicht mehr ankommt. Das finde ich auch, denn es geht nicht um deine Narben; deine Schönheit hat nichts mit deiner Haut zu tun. Das sage ich nicht, stattdessen sage ich, dass ich finde, dass du das richtig gut machst, also wie du mit deiner Krankheit umgehst. Du siehst an mir vorbei hinaus auf den Parkplatz und sagst, dass es eben vorbei ist, wenn es vorbei ist. Und dass es, wenn es vorbei ist, egal ist, ob du dich vorher verrückt gemacht hast oder nicht. Manche glauben dir diesen Pragmatismus nicht, aber ich glaube ihn dir; Du magst es eindeutig und unkompliziert, das hat es schwierig zwischen uns gemacht, als bestimmte Sätze ausgesprochen waren, denn manchmal bin ich ambivalent und komplex; und du hasst schon die beiden Worte. Du denkst nach, um mit dem Denken fertig zu werden; ich werde mit manchem nicht fertig, weil ich zu viel darüber nachdenke. Ich finde es wirklich toll, wie du das machst, sage ich nochmal und du siehst mich an, ernst, und fragst, wie du es denn sonst machen sollst.

Ich muss los, ich bekomme Gäste zum Abendessen, sage ich und dein Blinzeln verrät mir, du hältst es für eine Ausrede, dabei ist es wahr. Natürlich, natürlich, sagst du und erinnerst an die Katzen. Ich denke noch, dass ich das nicht sagen sollte, aber dann sage ich es schon: Wir sollten uns mal wieder treffen, also richtig. Tja, von mir aus, sagst du und legst die Stirn in Falten, als sei das Loch in unserer Freundschaft nicht deine Schuld. Es stimmt, du hast mich in der Silvesternacht angerufen und ich bin nicht rangegangen, weil ich mich nicht fühle, als wäre ich der, den du nach 20 Minuten im neuen Jahr anrufen würdest. Ich habe auch nicht zurückgerufen; ich hätte das dann mit dir besprechen müssen und du besprichst sowas nicht gerne. Immer wenn ich dir sowas sage, sagst du, na dann sag doch was. Ich muss nachdenklich aussehen, aber da drückst du mich schon zum Abschied und ich hätte sowieso keine Diskussion angefangen. Bevor du gehst, klopfst du mir noch zweimal kurz auf die Schulter. Ich ärgere mich, denn ich habe mir erst kürzlich vorgenommen, dich nicht mehr zu sehen. Es gelingt mir ja doch nicht, nicht mehr in dir zu sehen als du bereit bist, zu sein.

Deutschlandhalle

Sie öffnete den Mund, streckte ihre Zunge heraus, legte die Tablette auf die Zungenspitze und spülte sie mit einem Glas Wein herunter. Sie atmete tief ein, nahm die zweite, der in Reihe gelegten Tabletten vom Tisch und schluckte auch diese. Sie mochte weder den Weißwein, den sie im letzten Jahr zu ihrem Geburtstag vom Zivi geschenkt bekommen hatte und den sie anfangs vereinzelt vor dem Zubettgehen, später beim Mittagessen und seit einigen Wochen regelmäßig auch zum Frühstück trank, noch die Tabletten die sie unter dem Bett ihres Sohnes im Jugendzimmer gefunden hatte und die sie seit seiner Flucht fast täglich probierte. Sie öffnete wieder den Mund, schluckte eine weitere Tablette herunter und hoffte, das die Wirkung des Weines und die beruhigende Wirkung der Tabletten heute besonders schnell einsetzten. Sie nahm die Geburtstagskarte vom Küchentisch, drehte sie auf den Kopf und flüsterte: “Jetzt bin ich einundachtzig Jahre und einen Tag alt!“. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch, griff die schwere Armbanduhr ihres Schwiegervaters und hob sie vor ihre Augen. Sie küsste auf das beschädigte Glas und lächelte. Sie streichelte mit beiden Daumen über die zerkratzte Oberfläche, roch an ihr und glaubte die wohlriechende Haut ihres Schwiegervaters zu spüren. „Elf Jahre“, flüsterte sie auf das Glas,“ Elf Jahre hast Du jeden Handgriff, den ich hier in der Küche gemacht habe, von dem hohen Sofa unter dem Fenster mit vielen Komplimenten beobachtet. Elf Jahre habe ich Dich dafür bekocht und gepflegt!“ Sie verglich die Zeit auf der goldenen Uhr, auf dem bunten Küchenwecker und dem weißen Zifferblatt des Kirchturmes: es war viertel Zwölf. Sie knöpfte die gemusterten Dederonschürze auf, zog sie aus und faltete sie über die Stuhllehne. Sie streifte ihre beiden dünnen Eheringe vom Finger, hielt sie vor ihre Augen, überflog die kaum lesbaren Gravuren und legte sie auf das Kopfkissen des Sofas. Seit der Schwiegervater auf diesem Sofa verstorben war, vermied sie, sich darauf zu setzen oder wenn sie von ihren Hausarbeiten müde wurde, darauf zu legen. Sie saß viel lieber auf der hellblauen Sitzfläche des Küchenstuhles, an dessen Griffen lederne Handtaschen und Plastikbeutel klemmten und über dessen Lehne sich in den Jahren Schürzen aufgetürmt hatten. Sie konnte auf diesem Stuhl stundenlang zu den drei Kinderbildern im Buffet schauen. Sie konnte, wenn es dabei dunkel geworden war, ohne ein einziges Wort an dem Tag gesprochen zu haben aufstehen und ins Bett gehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah sich prüfend in der Küche um: der Mülleimer war geleert, der Fußboden gewischt und gebohnert, die Gardine gewaschen und gestärt, die Gläser poliert und zu exakten Reihen in den Schränken verstaut, das Gas abgestellt, die Wohnungstür verschlossen. Sie stand auf, ging zum Buffet und schob den Stecker des Radios in die Steckdose. Seit Jahren schaltete sie mit diesem Trick den Kasten mit den vielen Knöpfen an und aus. Sie hörte Applaus aus dem Lautsprecher. Sie stellte das Radio leise. Seit sie in einer Dokumentation sich als HJ-Mädchen in der Deutschlandhalle wild applaudierend wiedererkannt hatte, mochte sie weder politische Reden noch das widerliche Geräusch des Applauses zu Partei-oder Brigadeveranstaltungen. Sie fühlte sich seit diesem Tag um ihre wunderbaren Erinnerungen von Damals betrogen und konnte bis heute nicht verstehen, dass er das, was die über ihn behaupteten, zugelassen hatte. „Wir haben viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“ klang die Frauenstimme zur Festtagsrede zum 65. Jahrestag der Republik. „Angela“, sprach sie zur Skala des Radios schauend, “Angela“, so hätte meine Tochter ursprünglich heißen sollen. Sie strich sich die nicht vorhandenen Falten aus ihrem Kleid und ging zurück zum Tisch. Sie sah auf das vergilbte Weiß der Tapete und hörte für Sekunden wieder die schrille Stimme ihres verstorbenen Ehemannes, der beim Einzug in diese Wohnung auf dem Weiß aller Decken und Wände bestanden hatte. Sie zuckte zusammen, beugte sich für einen Moment nach vorn und sah aus dem Fenster zu jener Stelle am Haus, an der er über die Jahre ihre Dinge zerschlagen hatte. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie stellte sich an das Fußende der Betten, streckte die Händen auf die frisch bezogene Wäsche und streichelte über das Lieblingsmuster ihres Ehemannes, das sie am Morgen aufgezogen hatte: weißer Stoff mit blauen Wolken. Sie ging an sein Kopfkissen, betrachtete das Wolkenmuster und verließ, wie er es von ihr stets gefordert hatte und wie sie es seit jeher gewohnt war, auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Sie schloss mit einem Zeigefinger, den sie zwischen Türblatt und Rahmen schob, die Tür und ging zurück in die Küche. „Unsere Republik hat sehr viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“, klang die freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir leben in einem Land, das jedem Wohlstand und Sicherheit garantiert!“ Applaus! Sie schlich noch einmal zur Schlafzimmertür, öffnete sie leise und warf sie mit einem Krachen zu. Sie ging zurück in die Küche und hörte wie der Applaus verstummte. „Im Namen der Bundesrepublik gratuliere ich Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ Sie stellte das Radio, aus der die freundliche Frauenstimme klang, laut und sah in die Kindergesichter, die aufgereiht im Küchenbuffet abgelichtet standen. Sie zog die Schublade auf und holte die rote Wäscheleine mit dem Seemannsknoten heraus. Sie tastete über den Knoten den sie von ihrem Großen gelernt hatte und den sie seit Monaten vor dem Buffet stehend fast täglich übte. Sie hatte dabei sehr oft an die denen schönen Abende denken müssen, an denen der Große Seemannsgeschichten erzählte, die damals alle bezweifelten und die sie gegen jeden Zweifler heftig verteidigte. Sie erzählte noch Jahre danach ihrem Mann, der wenige Wochen nach seiner Pensionierung eines Morgens im Bett liegen geblieben war, diese wunderschönen Geschichten. Sie erzählte diesem Ehemann, der keine dunklen Farben ertrug, der stets eine Schaufel, eine Flasche Wasser, etwas Essen und eine Taschenlampe unter dem Bett liegen hatte, an jeden Morgen und an jeden Abend diese Geschichten, um ihn endlich wieder zum Aufstehen zu bewegen. Selbst mit dem Tag, an dem sie allein in dem Bett  lag, erzählte sie sich diese Geschichten und ertappte sich, wie sie diese oder jene Begebenheit durch neue Inhalte variierte. Sie erzählte die Geschichten ihres ältesten Sohnes, wenn sie im Bett liegend an diesen denken musste, manchmal so oft und so laut, dass sie glaubte, dieses lachende Gesicht im Küchenbuffet aus dem Schiff herausholen zu können. Sie legte die rote Wäscheleine in die Schublade zurück und schob die Lade zu. Sie ging zum Tisch, setzte sich auf den Stuhl, seufzte und wischte mit der flachen Hand über die giftgrüne Wachsdecke mit den pinkfarbenen Pusteblumen. Sie mochte weder die Farben noch die neumodischen Formen. Sie hatte anfangs kleine, später große Einrichtungsgegenstände in den Farben und Formen, die ihre Tochter liebte, gekauft, um, wenn sie endlich einmal käme, sie damit beeindrucken zu können. Sie schob eine weitere Tablette, die das letzte Kinderbild tütenweise unter der Matratze zurückgelassen hatte auf die Zungenspitze,  goss mit einen kräftigen Schwung Weißwein in ihr Glas, spülte die Tablette herunter und hoffte wieder, dass die wohltuende Wirkung der letzten Wochen und Monate heute besonders schnell einsetze. Sie lachte. „Wie beim Arzt“, sprach sie belustigt zu den Kinderbildern! Sie sah zu dem dritten Kinderbild und war sich immer noch nicht sicher, ob sich der Jüngste noch auf der Flucht vor den schlechten Freunden befand, ob er eine Offizierskarriere wie der Große begonnen hatte, oder ob er…. Sie lallte: „Ein guter Junge bist du, ein Guter, du bist der Beste von allen. Bestimmt bist du auch Offizier geworden, wie der Große!“ Sie öffnete das Kuvert mit den vielen Geldscheinen die sie über die Jahre von ihrem ältesten Sohn geschickt bekommen hatte und war sich für einen Moment nicht sicher, ob es für ein ordentliches Begräbnis reichen würde. Sie spürte wie die Tabletten des Jüngsten endlich zu wirken begannen. Sie griff nach den verbliebenen zwei Tabletten, drehte die Zunge heraus und warf belustigt eine der beiden in den Mund. Sie hob die zweite in die Luft, küsste sie laut, schob sie zwischen ihre Zähne und biss darauf. Sie schlürfte mit offenem Mund Weißwein. Sie würgte und brach die beiden Tabletten wieder heraus. Sie beugte sich nach vorn und tastete nach den Tabletten. Sie nahm sie in die Hand, wischte sie trocken, schob sie wieder in den Mund und schluckte sie mit dem Rest Wein herunter. Sie hörte wie die Kinderbilder im Buffet zu sprechen begannen: Das erste Bild rief: Mama, wo ist mein Lexikon; Das zweite weinte: Mama, meine Farben sind alle; Das dritte rief: Mama, ich habe wieder eine Fünf und einen Eintrag bekommen. Sie hielt sich die Ohren zu und sah wie die lachenden Kinderbilder sich übereinander schoben. Sie hörte wie die Bilder durch ihre verschlossenen Ohren im Kinderchor sangen: „Mama, wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Durst!“ Sie riss die Hände von den Ohren und drückte sie vor ihre Augen. „Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und sind jetzt ein in aller Welt geachteter Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren“, hörte sie die freundlich klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagen. Applaus! Sie hob ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf. Sie presste beide Hände wieder auf ihre Ohren. Sie starrte auf den grauen Fliesenboden und sah ihren Ehemann aus einer der Fliesen mit einer Schaufel herausklettern. Sie drehte den Kopf ruckartig zur Seite, blickte hinüber zum hohen Sofa unter dem Fenster und sah den Schwiegervater in seiner hochdekoriert Uniform. Sie ging zum Fenster, setzte sich auf das Sofa und fühlte wie er seine weiche, wohlriechende Hand mit der schweren, goldenen Armbanduhr, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte unter ihr Sommerkleid schob. Applaus! Sie stand auf und ging zurück zum Tisch. Sie hörte aus dem Applaus eine kräftige Stimme rufen “Mein Sohn, mein Sohn ist ein jämmerlicher Versager. Applaus. Wir Deutschen lassen uns vom Iwan nicht unterkriegen. Applaus. Wollt ihr den totalen Krieg? Stürmischer Applaus. Du hättest mich, mich und nicht diesen elenden Volksverräter heiraten sollen!“ Sie hörte den Applaus verstummen und die Hymne in der Deutschlandhalle erklingen. Sie stand auf, hob noch einmal die Hand nach oben und winkte. Sie öffnete die Augen und verglich die Zeiger auf der Kirchturmuhr, auf dem Küchenwecker und der Armbanduhr. Sie spürte zwei kräftige Glockenschläge auf ihrer Stirn; sie spürte den Sekundentakt in ihren Ohren; sie spürte das Armband um ihrer Brust. Sie nahm die Hand herunter und ließ sich auf die hellblaue Sitzfläche des Stuhles zurückfallen. Sie beugte sich über die grüne Wachsdecke, griff die Armbanduhr und presste sie wie den Orden, den sie damals von ihm bekommen hatte, zwischen ihre Handinnenflächen. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss. Sie holte tief Luft und atmete zufrieden aus.

Die Besungene

Hört die Besungene die ersten Töne aus dem kleinen Radiowecker, dreht sie sich auf ihrem durchgelegenen Schlafsofa müde auf die Seite. Sie schielt auf die blinkende Leuchtziffernanzeige und vergleicht die Zeit mit der auf dem Ziffernblatt ihrer ramponierten Armbanduhr. Hat sie sich von der Richtigkeit der Zeitangabe überzeugt, löst sie die Armbanduhr vom Handgelenk und schiebt sie unter das Kissen. Gähnend zieht sie die Wolldecke weit über den Kopf und massiert im Halbschlaf ihre Waden. Ist sie an den Füßen angelangt, tastet sie behutsam über die vielen schmerzenden Stellen auf den Fußsohlen. Wird dabei im Radiowecker ein Liebeslied gespielt, träumt sich die Besungene unter der dicken Decke liegend, in das Schicksal der Besungenen hinein. Erschrocken hält sie den Atem an oder drückt die zierlichen Hände kichernd auf ihre schmalen Lippen oder die immer noch faltenfreie Stirn. Voller Mitgefühl beginnt sie zu weinen und reibt die Augen rot.

Kommt die Besungene endlich unter der Wolldecke hervor, schleicht sie ins Bad, zieht ihr vollgeträntes Nachthemd aus und sucht einen leeren Platz auf der Leine, die sie spinnennetzartig über die Badewanne gespannt hat. Noch in tiefer Trauer befindlich, schlurft sie zurück ins Schlafzimmer, stellt sich mit gebeugtem Rücken vor den Spiegel und betrachtet ihr verheultes Gesicht. Will sie ihr Gesicht nicht mehr sehen, öffnet die Besungene die Türen des Kleiderschrankes und macht sich für den Tag zurecht. Dabei orientiert sie sich stets am Text des ersten Liedes. Wählerisch wühlt sie in den Stapeln der Regalfächer und Schubladen. Wurde im ersten Lied von einem glücklichen Ausgang der Liebenden gesungen, tanzt die Besungene in einem dünnen Sommerkleid aus schimmerndem Stoff vor dem Spiegel und dreht sich selbstverliebt um die eigene Achse. Hatte hingegen einer der Verliebten ein tödliches Ende gefunden, zieht sie schweigend einen schwarzen Hosenanzug an und tupft sich fortwährend Tränen aus dem verweinten Gesicht. Ist sie endlich angekleidet, schließt sie die Schranktür mehrfach ab und versteckt den Schlüssel in einen der unzähligen Kartons unter dem durchgelegenen Schlafsofa. Anschließend geht sie in die kalte Küche und trinkt ein Glas Cranberrysaft oder schlürft angewidert an der Zitronenlimonade.

Auf dem Weg zur Arbeit durchlebt die Besungene immer und immer wieder das gehörte Lied. Oft schüttelt sie heftig den Kopf und überlegt, wie sie das Unfassbare zu einem guten Ende hätte führen können. Hat ihr hingegen der Text gefallen, pfeift sie aufgeregt auf ihrem Stuhle sitzend das Liebeslied. Sie winkt den vorbeieilenden Passanten freundlich durch das Straßenbahnfenster und schwelgt sich in die starken Arme des Sängers hinein. Dabei reibt sie ihre blonde Zopffrisur am Fensterglas oder am Kopf des verdutzten Vordermannes oder der kreischenden Vorderfrau. Und mehr als einmal hat sie wegen der starken Arme die Haltestelle verpasst und eine ernste Ermahnung von der Wäschereileiterin erhalten.

Schon von weitem erkennt der Pförtner den Inhalt ihres Morgenliedes. Steht sie in Tiefschwarz vor ihm, drückt er sie minutenlang fest an sich heran. Steht sie hingegen im grellen Gelb, im feurigen Rot oder gar in Azurblau an seiner Seite, verneigt er sich, nimmt ihre Hand und tanzt mit ihr um den herabgelassenen Schlagbaum. Danach öffnet er ihn, schreitet mit ihr feierlich hindurch und bringt sie höchstpersönlich bis an die Tür.

Kommt die Besungene in die dämmsige Wäscherei, wühlt sie zu Beginn ihres Dienstes den Stapel Mitarbeiterwäsche nach absichtlich abgelegten Zettelchen durch. Findet sie auch an diesem Tage wieder keine an sie adressierte Nachricht, sucht sie emsig in den Körben mit Patientenkleidung nach vergessenen Fotos, Handys oder anderen persönlichen Dingen. Manchmal wühlt die Besungene so unermüdlich in dem Berg verschmutzter Kleidung, dass sie die Pause vergisst und von der Leiterin an die Heißmangel strafversetzt wird. Nur widerwillig legt sie dort die Bettbezüge zusammen, nutzt jedoch jedes Mal die Möglichkeit, handgeschriebene Nachrichten in der gebügelten Wäsche zu verstecken. Mit der Morgenmusik auf den Lippen, belädt sie im Anschluss die Wäschekisten und fährt sie auf die Stationen. Sind die Mitarbeiter oder Patienten beim Frühstück, greift sie blitzschnell Fotos vom vollgestellten Schreibtisch der Schwestern oder den unaufgeräumten Nachttischen der Patienten. Herzklopfend stopft sie die Fotos in die Tasche oder die leeren Wäschekisten. Hat sie alle eingesammelt, geht sie auf die Nachbarstation, um auch dort unbeobachtet Fotos von gut aussehenden Männern an sich zu bringen. Hastig rumpelt sie mit den leeren Kisten die langen Gänge zurück, hinunter in die Wäscherei. Sie schließt sich auf der Toilette ein und holt die Taschenlampe und das Vergrößerungsglas aus ihrer Jackentasche. Mit großen Augen und offenem Mund betrachtet sie die mitgenommenen Männerportraits. Findet sie einen der portraitierten Männer unattraktiv oder meint sie zweifelsfrei zu erkennen, dass er zu keinerlei aufrichtiger Liebe fähig sei, zerreißt sie von ihm angeekelt das Foto und wirft es zerschnipselt in die Toilette. Empört zieht sie ihre Hose herunter, setzt sich auf die Toilettenbrille und presst sich notdürftig ein Geschäft ab. Und meist schläft sie darüber ein und holt für kurze Zeit einen Teil ihres fehlenden Nachtschlafes nach. Kommt die Besungene am Nachmittag nach Hause, geht sie in die Küche und reiht die eingeheimsten Fotos an der Mittelfalte des Leinentuches auf. In aller Ruhe betrachtet sie die Portraits und ordnet sie nach einer ihr unerklärlichen Wertigkeit. Ist sie mit der Bewertung fertig, liebkost sie gründlich jedes Portrait mehrfach ab. Akribisch notiert sie auf der Rückseite die erküsste Liebesfähigkeit und ordnet sie bestimmten Liedern oder Interpreten zu. Sorgsam steckt sie die Portraits in die unzähligen und nach Jahreszahlen beschrifteten Schuhkartons. Den persönlichen Tagesfavoriten hingegen schiebt sie in die große Sichtfläche ihrer Brieftasche oder legt ihn gut sichtbar auf den Nachttisch. Und so mancher Mitarbeiter behauptet beharrlich, die Besungene des Öfteren im Laden beobachtet zu haben, wie sie sich in die längere Warteschlange einreiht und das Kleingeld in der Brieftasche mehrfach mit einem Lächeln abzählt. Hat die Besungene endlich alle Fotos zugeordnet, steht sie zufrieden vom Küchentisch auf und wischt mit einem Seufzen über die Mittelfalte des nun leeren Leinentuches. Im Stehen isst sie schnell ein trockenes Brötchen und trinkt dazu heißen Kakao. Noch mit vollem Mund stellt sie die Tasse und den Teller in die Spüle, hebt den Stuhl auf den Tisch und schiebt ihn an den Schrank. Ungeduldig streift sie die glitzernden Hausschuhe ab und wirft sie in die Ecke. Sie lässt das Rollo herabsausen und hängt die bunte Diskoleuchte und die Lichtschlange ins Fensterkreuz. Leise schließt sie die Küchentür, löscht das Licht und schaltet das Radio an. Sie stellt sich auf die Stelle mit dem abgenutzten Linoleum und beginnt zu tanzen. Behutsam umgreift sie ihre Schultern und streichelt sanft über Ohren und Nacken und die immer noch schlanke Taille. Ohne sichtbare Müdigkeit träumt sie sich barfuß in die besungenen Schicksale hinein. Und bis weit nach Mitternacht hört die Besungene Lieder, die sie seit Jahren allesamt auswendig kann.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er gutmütig den Kopf schütteln und meinen, dass man der Träumerin einfach nicht böse sein kann. Außerdem würde er sagen, dass er selbst an seinen freien Tagen früh morgens noch vor ihrer Weckzeit bei verschiedenen Radiostationen anruft und romantische Liebeslieder bestellt.

statt Glückwünschen

Statt Glückwünschen sage ich euch heute, sage ich jedem Einzelnen von euch, sage ich Dir:

Du wirst scheitern.

Es wird Dir nicht gelingen, Deine in jahrelanger Lehre erworbenen Fertigkeiten zum Erhalt und zur Entfaltung unserer Freiheit einzusetzen, denn dieser Einsatz ist kräftezehrend und frustrierend. Stattdessen wirst Du Deinen Scharfsinn, Deine Gewandtheit, Deinen Eifer bereitwillig eintauschen gegen Augenmasken und Ohrenstöpsel, um in den leidenschaftslosen Halbschlaf des Unterhaltenwerdens und Beschäftigtseins herabzusinken, in dem sich Dein Umfeld außerhalb dieser Institution längst befindet.

Das ist nicht meine Schuld, wahrlich: Ich versuchte, was in meiner Macht stand, Dich zu einem wachen, mündigen, mutigen Menschen zu bilden – und ich vermeide an dieser Stelle ganz bewusst das Wort Bürger, weil das Wort Bürger unwillkürlich einen Bezug zum Staate herstellt, der unser Staat sein will, der bei Lichte betrachtet aber Teil, wenn nicht gar Urheber der Ideologie des selbstbezogenen Wohlfühlens ist, welcher auch Du erliegen wirst. Nein, ich knüppelte Dich nicht ins Normalmaß hinein.

Aber Du wirst das tun. Allmählich, schulterzuckend, ohne Not. Du wirst kein Wort darüber verlieren, zumal es dankbare Alternativthemen gibt: eine Regierung von Konzernmarionetten, eine Hochkultur auf Rummelplatzniveau und das Wetter, dass in diesem Jahr die tollsten Kapriolen schlägt.

Aber falls Du darüber reden musst, gut vorbereitet und hübsch zurecht gemacht auf einem Klassentreffen; aus heiterem Himmel am Frühstückstisch, dereinst mit Deinen pubertierenden Nachkommen; oder weil Du mir nichtsahnend auf der Straße begegnest, als klapprige Greisin, weil ich Dir aufgelauert habe, weil ich Dich geradezu gestellt habe, so dass Du mir erschrocken und mit roten Wangen gegenüberstehst und um Atem ringst, und mehr noch um Worte, während Du beim einleitenden Geschwätz, das ich Dir der Überraschung halber gewähren werde, verzweifelt nach einer Ausrede suchen wirst, die die lackbeschichtete Einkaufstasche in Deiner Rechten rechtfertigt und die Fernbedienung für die Zentralverriegelung Deines allradbetriebenen Straßenkreuzers in der Linken; wann immer Du also in die Verlegenheit kommen wirst, darüber sprechen zu müssen, wirst Du es schamlos herunterspielen, und wann immer Du gezwungen sein wirst, Dich zu erklären, weil da eine ist, die fragt und nicht locker lässt, wirst Du versuchen, Dich rauszureden.

Von der Nachfrage am Arbeitsmarkt wirst du sprechen, die jedem Kompromisse abverlangt, der erfolgreich sein will, obwohl Erfolg viel mehr bedeutet, als ein üppiges Salär, weil Erfolg in Zahlen oder Hierarchie-Ebenen nicht gemessen werden sollte, und wahrer Erfolg nur in der nachhaltigen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen bestehen kann, wie Du betonen wirst, da Dir diese Parole aus Studientagen einfallen wird, während Du Dich freisprichst, und Dir auch einfallen wird, dass Du diese Parole einmal wie Deinen Namen im Munde geführt hast. Von den vielen Rechnungen, wirst Du sprechen, die schließlich bezahlt werden müssen, und für die Deine Eltern immer weniger bereitwillig das Portmonee geöffnet haben, je älter Du wurdest, was ihnen ja niemand verdenken kann, da es ihren ohnehin mickrigen Wohlstand zusätzlich schmälerte und ihr kleiner Wohlstand doch aber alles war, was sie hatten. Und auch von den bescheidenen und später dann weniger bescheidenen Wünschen wirst Du berichten, die ja ganz normal seien. Und obwohl Du Dir das heute nicht vorstellen kannst, wirst Du das Wort „normal“ ohne jegliches Problembewusstsein verwenden. Auch Du wolltest New York sehen und Südafrika. Auch Du wolltest ein Eigenheim und – Warum denn nicht? – einen Pool. Deine Wünsche waren nicht besonders; besonders war, dass Du in der glücklichen Lage warst, sie Dir erfüllen zu können. Teils als Belohnung für das Geleistete – ohne dabei zu spezifizieren, was das denn sein könnte – teils aber auch als Trostpflaster, mit Hilfe dessen Du Dich über die Unbarmherzigkeiten des Alltags hinwegzutrösten versuchtest: Überstunden, Steuererklärungen, die Alterung Deiner Haut.

Und hinter Deinem freundlichen Lächeln, das Du schauspielern wirst, und dessen einziger Zweck es sein wird, mich für Dich zu vereinnahmen, damit ich Dich nicht auf Deinen dicken Bauch anspreche oder auf den Kaschmir-Mantel mit dem Du ihn verhüllst, hinter diesem falschen Lächeln weggesperrt also, wird unter Asche ein schlechtes Gewissen flackern und ramponierte Traurigkeit.

Und beides wird sich aus Deiner Erinnerung speisen, aus Deiner Erinnerung an diesen augenblicklich verstreichenden Moment, der seiner Natur nach ein feierlicher sein sollte, und von dem Du erwartet hattest, dass ich ihn dafür nutzen würde, Dich zu den erzielten Leistungen zu beglückwünschen, Dir Mut zu machen, für das, was vor Dir liegt oder um Dich als neue Elite dieses Landes zu preisen.

Du wirst diesen Moment als einen Ankerpunkt in Deiner Biographie erinnern, an dem Du trotzig beschlossen hast, Du selbst zu bleiben, ausgefüllt von dem naiven aber liebenswerten Glauben, einerseits zu wissen, wer Du bist und andererseits überhaupt jemand zu sein, dessen Kern unveränderlich, klar umrissen und beschreibbar sei, und eben gerade nicht zu werden, wie die Anderen – wohlgemerkt, ohne Dir auch hier die Mühe zu machen, zu definieren, wer diese Anderen denn seien, und worin ihre unverzeihlichen Verfehlungen bestünden – sondern immerfort Deinen Idealen treu zu bleiben, also Deinem Versprechen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, einem Versprechen, dessen Blauäugigkeit und Albernheit sich Dir heute noch nicht erschließt, und sich Dir, so hoffe ich, viele Jahre lang noch nicht erschließen wird. Denn wenn es Dir nicht gelingt, Dich dauerhaft am Tropf der alltäglichen Zerstreuungen zu narkotisieren, wird Dich die Erkenntnis dieser Albernheit eines Tages treffen wie ein Schlag, dessen Härte und Schwung geeignet ist, was Du Dir aufbautest, einzureißen und Dich wach aber nackt auf ein neues, leeres Feld zu schleudern, so wie es mir selbst und anderen meines Kalibers geschehen ist.
Wenn mein Plan aufgeht, wirst Du diesen eben verstreichenden Moment, in dem Dich nur Deine Höflichkeit und die Konvention des Protokolls auf Deinem Stuhle hält, als einen Moment der Wut verinnerlichen, in dem Dir eine unsympathische, nicht nur desillusionierte, sondern in ihrer Arroganz regelrecht altersboshaft gewordene Lehrerin jegliche Standhaftigkeit abspricht und jeden Charakter; in dem sie Dir persönlich nicht nur die Fähigkeit, sondern gar den bloßen Willen zu Veränderung oder wenigstens zum Widerstand gegen das Bestehende abspenstig macht, in dem sie Deine ganze Generation zu einer Generation der gut ausgebildeten aber zu früh zu bequem gewordenen Mitläufer degradiert, die es sich gemütlich machen wird, im ererbten Wohlstand, und die diesen Wohlstand für nichts anderes verwenden wird, als sich abzuschotten, sich vollzustopfen, sich zu amüsieren und an die sich in einhundert Jahren niemand erinnern wird, weil diese Generation nichts vollbringen wird, das es wert sein wird, erinnert zu werden. Nichts, als sich verführen zu lassen, von den Versprechen der Technologie und des Besitzes, die unhaltbar sind und deren Preis zu hoch ist. Du bezahlst Technologie und Vernetzung mit der Fähigkeit zu präzisem Fragen und konzentriertem Denken. Du bezahlst Besitz mit der Fähigkeit, kompromisslos zu antworten und in der Konsequenz zu handeln. Du bezahlst Sicherheit mit Freiheit.

Ich hoffe inständig, dass diese Erinnerung wie ein Dorn in Deinem Fleisch sitzen wird, dessen Spitze trotzig schmerzt, wenn Du stehenbleibst und quälend sticht, wenn Du Dich setzt, damit Du fortkommst und wach bleibst und weitergehst, auf dass ich hernach aus Zeitungen, Ausstellungskatalogen, Theaterkalendern oder Wahlprogrammen erfahre, dass doch etwas aus Dir geworden ist, weil Dich der Trotz stur gemacht hat, weil Du vom Spott zäh geworden bist und weil Du ums Verrecken nicht werden wolltest, wie ich.

Dann werde ich mich rückhaltlos meiner Schmach hingeben, das verspreche ich. Denn dies ist die glücklichste Zukunft, die ich denken kann: Ich hätte doch viel erreicht.

Ich könnte heute in Ruhe und Dankbarkeit abtreten.

Erschossen haben sich schon so viele.

„Wir sind alle Sternenstaub. Weißt du das?“
„Das stimmt nicht. Es gibt keinen Sternenstaub. Sterne sind aus Gas.“
„Dann eben Planetenstaub. Alles ist Planetenstaub!“
„Von mir aus.“

Die vier sechsgeschossigen Neubaublöcke, die sie umgeben sind wie Wände.
Der abgesteckte Würfel Luft ist ihr Raum.
In der Mitte steht eine Tischtennisplatte aus Beton.
Darauf liegen sie und starren in den Himmel.
Die einzige Richtung, in der ihr Blick nicht an einer Mauer endet, ist himmelwärts.

„Aber das ist doch toll! Wir sind aus dem gleichen Stoff, wie das Funkeln dort oben!“
„Nein. Was du siehst sind Sterne. Wir sind aus Planeten. Aber Planeten leuchten nicht.“
„Doch, die Venus leuchtet. Du hast sie mir gezeigt! Da, rechts neben der Antenne der blassgelbe Punkt.“
„Die Venus leuchtet nicht. Sie reflektiert nur. Weil sie von der Sonne angestrahlt wird!“
„Ist mir egal, warum die leuchtet. Hauptsache, sie tut‘s. Was ist denn los mit dir?“

Mit lautem Hauch lässt Mathias den Rauch aus seinen Lungen entweichen. Weil die Luft still ist, schwebt die Wolke noch lange über ihnen.
Achtlos aber gekonnt schnippt er den Zigarettenstummel ins Gebüsch.
Er räuspert sich.

„Wenn du dich umbringen wolltest: Wie würdest du es anstellen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Ja, aber wenn du wolltest, wie würdest du es machen?“
„Keine Ahnung. Ich will leben.“
„Los jetzt, gib dir mal Mühe!“
„Geht doch alles erst los gerade. — Schlafmittel?“
„Funktioniert nicht mehr. Die mischen mittlerweile irgendwelches Zeug unter die Tabletten. Du musst kotzen, wenn du zu viele nimmst.“
„Mofa gegen Baum setzen?“
„Zu gefährlich. Wenn das schief geht, endest du als Krüppel im Rollstuhl. Ist beim Aufhängen das Gleiche.“
„Pulsadern aufschneiden?“
„Dauert ewig. Und am Ende rufst du dir doch einen Krankenwagen.“
„Vor einen Zug würde ich mich jedenfalls nicht werfen. Der Lokführer kann ja nichts dafür. Wofür eigentlich? Wieso willst du dich umbringen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Und worüber reden wir dann?“
„Darüber, wie ich es tun würde, wenn ich wollte.“
„Aha. Und wie würdest du es tun?“
„Ich würde von einem Hochhaus springen.“

Es war ein heißer Tag.
Inzwischen ist die Luft soweit abgekühlt, dass sie sich wie ein feuchtes Tuch auf die Körper der Jungen legt.
Der Stein der Tischtennisplatte hat noch Wärme.
Bereitwillig gibt er sie in ihre Rücken ab.

„Ich stelle mir das toll vor. Der Moment, wenn du an der Kante stehst, mit den Zehen schon darüber. Dein T-Shirt flattert im Wind und deine Haare. Und dann breitest du die Arme aus, holst tief Luft – zum letzten Mal – und lässt dich ganz langsam nach vorn fallen.“
„Und dann bist du tot.“
„Nein! Erst fliegt der Horizont nach oben aus deinem Blick, dann merkst du, wie die Gravitation dich anzieht und du immer, immer schneller wirst. Dann dröhnt der Fallwind in deinen Ohren. Dein Gesicht fängt an zu schlabbern. Und dann siehst du keine Bäume, Autos, Menschen mehr sondern nur noch Streifen und dann – Bamm! – ist es dunkel.“
„Aber dann bist du tot.“
„Ja. Kann aber sein, dass ich das gar nicht mehr mitkriege, weil ich schon im Flug ohnmächtig geworden bin. Wegen dem Schock und dem Adrenalin und so. “
„Wenn du tot bist, kriegst du sowieso nichts mehr mit. Ist doch scheiße.“
„Aber vielleicht kriege ich den Aufprall noch mit. Wie meine Knochen brechen und mein Schädel.“
„Auch scheiße.“
„Aber ein cooler Abgang.“
„Was ist denn daran cool?“
„Keiner traut mir so etwas zu. Riesending. Alle werden von mir reden.“
„Werden?“
„Würden.“
„Du spinnst doch!“
„Alle würden kapieren, dass ich doch mutig bin und – krass.“
„Aber daran zweifelt doch niemand!“
„Und alle würden kapieren, dass sie mir gar nichts zu sagen haben. Dass sie mich am Arsch lecken können, weil ich mein eigenes Ding mache.“
„Du machst gar nichts mehr!“
„Und dann würde ich ihnen fehlen und es würde ihnen leid tun, dass sie so scheiße zu mir waren und sie würden mich vermissen.“
„Wer?“
„Was?“
„Wer war scheiße zu dir?“
„Weiß nicht. Alle eben.“
„Sag mir, wenn jemand scheiße zu dir ist.“
„Und dann?“
„Dann kriegt er paar aufs Maul.“
„Von dir!“

Simon tastet nach seinem Rucksack auf dem Boden.
Er angelt eine Dose Bier heraus und öffnet sie.
Es zischt. Mathias kann ihn trinken hören.
Dann reicht ihm Simon die Dose herüber.

„Es ist wegen Steffi, oder?“
„Merkt man das?“
„Ich bin doch nicht doof.“
„Wissen es die anderen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es.“
„Ich liebe sie.“
„Mann!“
„Was denn?“
„Sie liebt dich nicht. Die merkt nicht mal, dass es dich gibt.“
„Aber warum nicht?“
„Weil sie eine eingebildete Ziege ist?“
„Sie ist toll!“
„Nein, sie ist dämlich.“
„Wieso denn?“
„Weil sie dich nicht will.“

Der Blick ins Weltall wird nicht erwidert.
Der Mond klebt am Himmel, wie eine Mandrinenspalte.
Es riecht nach Gewitter, aber es sieht nicht danach aus.

„Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“
„Wann?“
„Vor zwei Wochen.“
„Was stand drin?“
„Na, dass ich sie mag und ob wir mal zusammen klettern gehen wollen.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat sie geantwortet?“
„Gar nichts.“
„Ich sag’s doch: Das ist eine blöde Ziege.“
„Ja, vielleicht.“

Mathias setzt sich auf und trinkt.
Er zielt auf den Mülleimer am Sandkasten.
Er versenkt die Dose scheppernd.
Als er sich wieder niederlegt, landet sein Kopf auf Simons Arm.

„Wir können ja zusammen klettern gehen.“
„Aber du hast doch Höhenangst.“
„Ja. Aber da sind doch Seile und Gurte und so. Oder?“
„Da! Hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe!“
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen.“