Unter dir (Teil VI)

Ich lege das rote Samtbündel auf dein Kopfkissen, streichle mit meinen Fingernägeln über deine Handrücken, klopfe auf die Bettdecke und schiebe meine Zunge zwischen den Mundwinkeln hin und her. Lass uns anfangen, sage ich, lass uns endlich anfangen, sonst ist die Nacht vorbei und wir haben es immer noch nicht hinter uns gebracht. Ich sehe auf die Uhr und sage Mist, die kommt jetzt zur Jahresendrunde bevor sie sich auf die Nachbarstation verkrümelt, um literweise Kaffee und Sekt in sich reinzuschütten. Mit einem Schwung rutsche ich vorsichtig unter das Bett und wundere mich nicht, dass ich wieder an dem blöden Metallgestell anecke. Wie vorhergesagt, höre ich das Klappern ihres Schlüsselbundes im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Die Schwester hustet mehrmals, klopft an die Tür, fragt, ob du fertig bist und steckt den Kopf mit dem blonden Pferdeschwanz hindurch. Sie dimmt das Licht an und fragt in die Länge gezogen, ob du deinen heißen Traum schon beendet hast. Sie hustet noch einmal gekünstelt, kommt herein, schaut zum Monitor, geht zurück, haucht dir einen ihrer komischen Luftküsse entgegen und meint beim Lichtausmachen, dass sie nun erst im neuen Jahr wiederkommen wird. Ich schüttle über so viel Übermut den Kopf, sage dir, dass ich ihr Verhalten merkwürdig finde und ich sie selten so aufgekratzt erlebt habe wie heute und denke, dass sie jetzt schleunigst ihren Sekt trinken gehen sollte, ehe sie noch Schaden anrichtet.

Ich räkle mich unter deinem Bett, schlage mit den Fersen abwechselnd auf das gebohnerte Linoleum und merke, dass ich Lust auf dich bekomme. Ich greife zwischen meine Schenkel und beginne an mir rumzuspielen. Am liebsten würde ich meine Finger reinstecken, so wie du es früher immer bei mir gemacht hast und so wie ich es auch oft unter diesem Krankenhausbett extra für dich mache, um dir zu zeigen, wie wild ich immer noch auf dich bin. Da mir das Rumspielen heute nicht gelingen will, morse ich dir an dein blödes Bettgestell, wie einfach ihr Kerle es im Leben habt, dass quietschvergnügt Tag und Nacht an euch rumfummeln könnt und dass ihr euch zur Not auch auf dem Marktplatz neben einer Imbissbude an den Glocken rumspielen würdet. Ich rolle mich unter dem Bett hervor, ziehe mich am Bettgitter hoch, klatsche mir auf den Hintern und zwinkere deinen beiden Bettnachbarn zu. Ich greife dir an deinen Schwanz und flüstere dir ins Ohr, dass ihr Kerle es guthabt, und dass mich das schon früher interessierte und ich dich deswegen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob du es dir schon mal gemacht hast. Ich ziehe an deinem Schwanz, hauche dir über die Stirn und erinnere dich, wie du bei meiner Frage früher so wunderbar rot geworden warst. Ich sehe dich an, streichle dir über die blassen Wangen und wünsche mir, dass du zur Abwechslung auch mal wieder rot werden könntest. Mir gefiel das damals so gut, dass ich dich auf unserem Hofpausenrundgang nochmal gefragt hatte, ob du dir´s in der Zwischenzeit wieder gemacht hast. Und wie beim ersten Mal, wurdest du rot, stottertest und verrietest mir ungewollt, was ich wissen wollte. Seit diesem wunderbaren Ereignis lauerte ich dir jeden Tag auf den Schulweg auf, um von dir zu erfahren, was du tags zuvor gemacht hattest, rempelte dich beim Mittagessen ausversehen an und setzte mich an deinen Tisch oder passte dich auf dem Nachhauseweg ab und verwickelte dich in Gespräche über deine und auch meine Zukunft. Ich brachte dich nach unserem dritten oder vierten zufälligem Treffen dazu, dass du mich zu mir nach Hause begleitet hast. Dabei bemerkte ich, wie simpel es war, dich zu führen und die Oberhand zu haben. Und das faszinierte mich. Ich hörte dir neugierig zu, dass du in deiner Freizeit, Orgel, Klavier und Gitarre spielst, zum Modellieren und Zeichen gehst, soeben einen Goldschmiedekurs bei deiner Tante gemacht hattest und an den Wochenenden mit deinem Cousin Bergsteigen oder Kanu fahren gehst. Von der Art, wie du mir das alles erzähltest, war ich völlig perplex. Keine Angebernummer wie bei den anderen Jungs der Schule, kein Gelaber oder blöde Kinderei über Titten und Schneckenkram. Nichts. Du erzähltest mir von deinen Schwierigkeiten beim Zeichnen und Musizieren, was du alles noch nicht beherrschst, du noch alles ändern musst und was ich denn zu alledem sage und welche wertvollen Tipps ich dir dazu geben könne. Du sahst mich mit deinen braunen Augen an, wühltest in deiner schwarzen Lockenmähne, zuppeltest an deinem Bärtchen und bohrtest fortwährend in deinem linken Ohr. Weil ich dir überhaupt nichts antworten konnte und ehrlich gesagt auch völlig neidisch neben dir stand, dachtest du, ich fände dich genauso bescheuert wie die anderen Jungs aus der Schule. Du entschuldigtest dich beim nächsten Treffen mit einem selbst geschriebenen Lied. An diesem Tag hatte ich mich in dich verknallt. Ich war verknallt in deine ungekämmte Lockenmähne und die Haare, die über deine Schultern und über deine Brust hingen. Ich war verknallt in deine braunen Augen mit den fast zusammengewachsenen Augenbrauen, in dein Lächeln mit den zwei schiefen Zähnen im Oberkiefer. Und ich war verknallt in deine langen Finger, die du immerzu in Bewegung hieltest und in die Hosentaschen stecktest, wenn du bemerktest, dass ich auf sie sah. An diesem Tag wusste ich, dass ich dich will, koste es was es wolle. Und ich wusste sofort, dass ich dich, wenn ich dich erst einmal habe, nie und nimmer an irgendeine andere hergeben werde.

Weil du immer noch nicht rot wirst, schlage ich dir links und rechts auf die Wangen und freue mich, dass endlich deine langweilige Blässe verschwindet. Ich frage dich, ob du dich noch erinnern kannst, dass ich dich, als wir zusammen waren, so lange über das Onanieren genervt hatte, bis du aufgabst und mir brav erzähltest, dass du an die wackelnden Brüste der ach so sportlichen Volleyballspielerinnen gedacht hattest, an die ach so supernette Musiklehrerin oder an die ach so durchtrainierten Kanumädels mit denen du Morsekurse übtest. Ich war sauer. Stinksauer. Um mich von dem Gedanken abzulenken, schnipse ich mit den Fingern auf deine Wangen und frage dich, ob du dich auch noch daran erinnern kannst, dass du mir damals gesagt hast, dass du ab und zu an mich gedacht hast und gemacht hattest. Ich hatte dich gefragt, wie oft du an die Volleyballspielerinnen und wie oft du an mich denken musst. Du bliebst mir die Antwort schuldig, an wen du mehr dabei denken musstest und ob du es lieber auf dem Bauch oder auf dem Rücken machst. Was ist das für eine Frage, hast du gesagt, natürlich im Stehen, natürlich vorm Fenster und natürlich in die Vollmondsilhouette. Weil ich mich über die Antwort auch heute noch ärgere, halte dir die Nase zu, schnipse nochmal mit meinen frisch lackierten Fingern kräftig auf deine roten Wangen und flüstere dir ins Ohr, dass du mir schon damals in entscheidenden Fragen ausgewichen bist und ich das in Zukunft nicht mehr dulden werde. Dabei wollte ich doch damals eigentlich nur wissen, mit welchen Mädchen du es vorher getrieben hattest. Du hast mir zwar gesagt, dass wir beide uns entjungfert hätten, aber ich glaube dir das bis heute nicht. Zu viele Mädels schwirrten um dich herum. Außerdem gab es da ein Gerücht, du hättest die hässliche Gruftiliese mit den ungewaschenen schwarzen Haaren und dem Metallzeug im Gesicht aus der Parallelklasse während der Klassenfahrt gevögelt, zumindest hatte sie dieses widerliche Gerücht in der Hofpause unter die Mädels gestreut. Ich war damals so wütend, dass ich erst dich und danach mich vergiften wollte. Und du kannst von Glück reden, dass ich in dem Moment nicht wusste, wie das geht und was man dazu alles braucht. Chemie ist nun mal nicht meine Stärke. Zur Strafe habe dich danach solange mit dem Runterholen genervt, bis du es endlich vor mir gemacht hast. Ich hatte mich mit verschränkten Armen vor dir aufgestellt, dich aufgefordert, mit den Händen geschnipst und gewartet bis es endlich kam. Dann habe ich mich etwas von dir weggestellt, dir zugerufen, ist das alles und dich ein weiteres Mal aufgefordert, dass du es nochmal machen sollst, dieses Mal aber noch weiter als vorher. Als das dann nicht genau vor mir runterkam, fragte ich dich, warum du nicht ordentlich gekommen bist. Bin ich ein Zuchtbulle, bin ich ein Elefant, hattest du geschrien. Ja, hatte ich gesagt, ja, du hast doch gesagt, dass du einen Dinoschwanz hast und immerzu an die Volleyballmädels, die Musiklehrerin und die Kanuliesen in ihren kurzen Hosen denkst. Das war Spaß, einfach nur Spaß, hattest du wütend gesagt. Ich fand das damals gar nicht witzig, überhaupt nicht. Na dann kommst du eben noch einmal, hatte ich geantwortet. Wie oft soll ich denn noch kommen, ich bin doch keine Maschine. Ich glaube, so wütend warst du sonst nur, wenn ich nach den Mitschülerinnen fragte. Da konntest du unendlich genervt sein.
Ich streichle über die Stelle der Bettdecke, unter der dein Ding ist und überlege, wie das ist, einen steifen Penis zu bekommen und wie es wäre wenn mir jetzt so ein riesiges Ding wachsen würde. Dann würde ich jetzt zum Silvesterabend mit so einem harten Teil hier durch das Zimmer wandern.

Der Lauscher

Der Lauscher will von sich nicht viel erzählen, er hört gern andere reden. Überall wo es etwas zu hören gibt, ist er zu Haus´. Um die ganze Welt ist er schon gekommen. Keine Hitze und keine Kälte machen ihm zu schaffen, wenn er nur die Möglichkeit hat, ein paar Wörter zu erhaschen. Auf dem Rücken trägt er dafür stets einen Rucksack, der ihm den Lauschangriff leichter macht. Ein Klapphocker für die optimale Lauschsitzhaltung findet darin ebenso Platz wie ein großes schwarzes Fernglas. Letzteres lässt das Lippenlesen auch vom Hotelzimmer aus zu und vermittelt ihm neben dem gesprochenen Wort zusätzlich ein mimisches Ausdrucksspiel. Am Wichtigsten aber sind dem Lauscher die Ohren. Er ist ein Ohrenspitzer. Unter höchster Konzentration zieht er dafür die Stirn nach oben, rümpft kurz die Nase, klappt die Ohrmuscheln einmal um, öffnet sie wieder und lauscht. Es gibt niemanden, der die Ohren besser spitzen könnte als er.

Die Hauselfe

Die Hauselfe fliegt nicht, sie schwirrt umher. Jeden Tag ab fünf treibt sie sich emsig im Haus herum und flitzt die Treppen hinauf und hinab, den Wischmopp in der einen und den Staubwedel in der anderen Hand. Sie saust wie der Wind in die Zimmer, wirbelt die Staubkörner eifrig in die Luft, zieht Betten ab und auf, schrubbt Badewannen und poliert die Klinken. Die Hauselfe ist tüchtig. Kein Gast konnte sich bisher über sie beschweren, denn keine Hauselfe ist so gründlich wie sie. Sie kennt jeden Winkel des Hauses, ihr bleibt nichts verborgen, nein, denn sie kennt jeden Gast persönlich. Sie weiß von seinem Leiden, wenn sie die Haare büschelweise im Waschbecken findet. Sie weiß von seinen Vorlieben, wenn sie die sieben Flakons anhebt, um die Fliesen darunter gründlich zu reinigen und ihr jedes Mal ein anderer Duft entgegenschlägt. Und sie weiß sogar von seinen unzähligen Krawatten, die sie farblich sortiert im Schrank vorfindet. Aber all das behält die Hauselfe für sich, sie verrät niemanden, so ist sie nicht. So schnell wie sie gekommen ist, saust sie auch schon wieder aus dem Zimmer und schwirrt ins nächste, jeden Tag, treppauf, treppab, den Wischmopp in der einen und den Staubwedel in der anderen Hand.

Das ist Politik

Sie entschuldigen, Sie haben da eine witzige Tätowierung am Arm. Eine Mickey Mouse habe ich ja noch nie als Tätowierungen gesehen.

Ach, das, das ist gar nichts. Schau mal, hier hab´ ich Popeye und hier ist Donald Duck. Und guck mal, hier über dem Rücken, da hab ich ´ne Frau drauf, ganz groß, mit hammermäßigen, naja, du weißt schon. Tja, ich war schon immer einer, der mit Frauen gut kann. Weißt du, ich weiß wie man die richtig flach legt.

Waren Tätowierungen zu DDR-Zeiten überhaupt erlaubt? Ich kannte einen, dessen Tätowierungen wurden fotografiert und katalogisiert und der hatte deswegen Scherereien.

Ja, ja, das war aber erst wenn du in den Knast reinkamst. Da haben die bei mir dann auch mit dem Kram angefangen. Die drei haben sie am Anfang nicht fotografiert, denn die habe ich mir schon mit elf machen lassen, da hatten die Bullen noch nichts zu sagen. Popeye war meine erste Tätowierung, denn den fand ich saukomisch. Und Mickey war ´ne Idee von meinem Kumpel.

Mit elf? Da macht man doch andere Sachen, ich meine…

…Och nö, nö, da habe ich mit `nem Kumpel lieber sowas gemacht. Wir zwei waren schon immer kreativ. Und mit ein bissel Tinte und ner angefeilten Feder von ´nem geklauten Füller kriegste alles hin. Uns konnten sie ja nicht belangen. Ich war elf und mein Kumpel war zehn.

Zehn?

Tja, warum nicht. Alles andere war mir zu langweilig. Meine Mutter hat zwar gebrüllt, aber was wollte sie machen. Wieder eine in die Fresse hauen? Irgendwann ist das auch durch und dann wirkt´s nicht mehr, weißt du.

Also, der den ich kenne, der hat mir gesagt, dass sie ihn bestraft haben, wenn er sich wieder eine neue Tätowierung hat stechen lassen. Wie war das bei Ihnen?

Ja, weißt du, das hat mich irgendwann nicht mehr gestört. Die haben mir sowieso immer eine in die Fresse gehauen, die Bullen. Ich hab die mal gefragt, warum sie mir immer eine reinkloppen, wenn ich die Wahrheit sage und warum sie mir ´ne Zigarette geben, wenn ich lüge. Da haben die mir gleich noch eine reingedroschen. Die waren schon komisch die Bullen. Ich hab die nie verstanden.

Der, den ich kenne, der meinte, dass die Gefangenen untereinander oftmals brutaler waren.

Ach, bei mir nicht, die kannten mich ja irgendwann alle. Ich hab am Fenster geschlafen und meine Ruhe gehabt.

Aber, der den ich kenne, meint, am Fenster durfte nicht jeder schlafen. Das waren die begehrtesten Plätze. Wie sind Sie denn an das Fensterbett gekommen?

Weißt du, wenn ich kam verscheuchte der Stubenälteste den Typen aus dem Nest, der grad drin lag. Und dann war das wieder mein Platz. Nö, nö, Probleme hatte ich nicht. Weißt du, und meinen Arsch haben ´se auch in Ruhe gelassen. Am Anfang war´s schwer, da konntest du keine Nacht ruhig schlafen. Weißt du, da habe ich jede Nacht höllisch aufpassen müssen. Aber dann, dann war´s geklärt. Und so einer, der im Knast erst mit den Kerlen rummacht und dann draußen wieder mit den Weibern anbändelt, nö, nö, so einer war ich nicht. Der Stecher von meiner Mutter, der war so einer. Den hatte ich im Knast kennen gelernt und irgendwann mit nach Hause geschleppt. Warum meine Mutter sich mit dem eingelassen hat, das hab´ ich nie verstanden. Meine Mutter war schon irgendwie krass. Die schickte mich vor der Schule immer Klauen. Weißt du, ich war der Älteste von uns fünfen. Und Hunger, Hunger hatten wir fünf immer. Wenn ich nicht genug mitgebrachte hatte, kriegte ich eine. Wollte mich aber einer ihrer Männer verdreschen, stellte sie sich vor mich hin und ließ nichts auf mich kommen. Das fand ich dann Spitze. Meine Mutter war schon krass. Seit ein paar Jahren telefoniere ich sogar einmal die Woche mit ihr. Weißt du, ihr geht’s nicht mehr so gut. Und außer mir hat sie niemanden. Die anderen Geschwister wollen mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ich bin doch der Große, weißt du, ihr Großer.

Also, der, den ich kenne, der meinte, die wären im Bautzenknast untereinander besonders brutal gewesen. Erst im Stasiknast hatte er etwas Ruhe.

Nö, nö, bei mir war´s andersrum. Die haben gleich Stunk gemacht. Deswegen hab´ ich´s ja auch mit die Nerven, bin wegen die Psyche in die Rente geschrieben. Die haben mich geärgert und ich hab´s wieder mal nicht verstanden, was die eigentlich von mir wollen. Die Bullen waren schon immer komisch. Irgendwann war mir das dann alles zu viel, weißt du. Das habe ich dann nicht mehr geschafft und versucht mich zu vernichten. Da haben die von der Stasi dann Schiss bekommen, mich entlassen und mir sogar ´ne Bude besorgt. Aber das hat mir dann auch nichts mehr genützt. Das erste, was ich gemacht habe, als ich in der Bude saß, ich hab wieder versucht mich zu vernichten. Naja, seit der Wende leb ich mit ´nem Hooligan und Nazi zusammen. Da bin ich wenigstens nicht mehr ganz allein. Die gucken ab und zu nach mir ins Zimmer und erledigen ein paar Wege, die ich nicht mehr kann, weiß du. Hat schon was, wenn einer mal nach dir guckt.

Sie haben eine WG? Sind die beiden Mitbewohner nicht… anstrengend?

Nö, nö, weißt du, die habe ich im Griff. Bei mir wird nicht gekloppt. Ich mach das nicht mehr. Und deswegen will ich es auch nicht mehr bei die Demos haben. Ich bin jetzt politisch geworden, weißt du, so richtig politisch. Mir kann keiner mehr was.

Politisch? Sie engagieren sich… politisch? Das, das find ich… vom Prinzip her gut.

Weißt, du, die haben gerade heute im Fernseher gebracht, dass immer mehr Leute politisch mitmachen, weil sie die Schnauze vollhaben von allem. Mehr als 10 Prozent machen jetzt mit, und es werden immer mehr.

Wie meinen Sie das? Es gibt doch mehr Menschen die sich politisch engagieren und…

…sag ich doch. Es werden immer mehr. Ich bin jetzt auch dabei seit der Politische bei mir wohnt.

Ähm, Sie sagten doch, Sie wohnen mit einem Hooligan und einem… einem Nazi…

…einem Politischen zusammen. Der wird verfolgt weil er in der NPD ist. Versteh´ ich nicht. Der kloppt sich nicht mehr rum, ist friedlich, geht arbeiten, macht jetzt in Politik mit. Und seit ich den kenne und wir uns angefreundet haben, kloppe ich nicht mehr und bin jetzt auch politisch. Der hat mich überzeugt. Deswegen wohnt er auch bei mir. Weißt du, bei mir sind die friedlich obwohl die beiden sich nicht ausstehen können. Hoolis wollen kloppen und Nazis wollen das alles politisch klären. Die Nazis sind zu Unrecht verschrien. Die haben mit Hitler auch nichts am Hut. Ich auch nicht. Das war ein Riesenarschloch. Der hat unserer Sache nur geschadet.

Aber wenn Sie mir jetzt hier während unseres Armbades erzählen, dass Sie eine Rente beziehen, wo liegt ihr Ziel bei den Demos, ich meine, was machen Sie auf den Demos?

Du meinst meinen Rollstuhl?

Ach so, Sie fahren, ähm, Sie haben einen, einen Rollstuhl. Ich dachte, Sie sind wegen einer Herzerkrankung hier…

…und wegen der Bandscheiben und wegen meiner Wirbelsäule und wegen dem Knie und wegen dem anderem Knie auch. Alles vom Kloppen. Das geht nun nicht mehr. Deswegen bin jetzt politisch, weißt du.

Sagten Sie nicht soeben, dass Sie im Stasiknast waren?

Ja, weißt du, ich hab das nie begriffen, ich war immer ein Politischer, schon früher, ob ich wollte oder nicht. Und jedes Mal habe ich Ärger bekommen, wenn ich erzählt habe, dass wir zu Hause nichts zu Fressen haben, dass wir arm sind und ich Futter klauen muss. Ich versteh´ nicht, warum die Bullen was dagegen hatten, dass ich das überall rumerzählt habe. Ich hab doch nicht gelogen. Ich kapier´s selbst heute noch nicht. Jetzt wollen die Bullen wieder was von mir, jetzt wollen die mir ´ne Volksverhetzung dranhängen. Versteh ich auch nicht. Ich will doch nur, dass die Ausländer genauso ihre Steuern zahlen wie wir Deutschen. Ich muss doch auch meine Steuern zahlen. Weißt du, wenn die arbeiten gehen, sich benehmen, unsere Kultur achten und nicht ständig ein Haufen Kinder machen und überall ihren Scheiß hinschmeißen, dann sind sie mir völlig egal. Ich kauf auch bei meinem Türken um die Ecke. Der weiß, dass ich ihn so nenne und lacht nur. Ich ess´ gern auch mal ´nen Döner oder so. Also Steuern zahle ich dabei immer, das hat mir der Politische erklärt. Der Türke muss meine Steuern nur an den Staat ordentlich abgeben wie sich´s gehört und nicht ins letzte Kaff nach Anatolien schmuggeln, sagt der Politische. Weißt du, mehr will ich doch nicht.

Aber was hat das mit Politik zu tun?

Weißt du, der Nazi bei mir in der Wohnung, der sich um mich kümmert, der hat mir das mit der Politik mal so richtig erklärt. Und seitdem er mir das ganz genau erklärt hat, versteh ich, wie Politik geht. Weißt du, wenn ein Bulle einem Ausländer eine ordentlich auf´s Maul haut, dann ist das politisch. Und Bullen dürfen nicht politsch sein, die müssen unpolitsch bleiben. Deswegen kloppen die auch keinen Ausländer mehr eine auf´s Maul. Wenn der hingegen einem Deutschen eine auf die Fresse kloppt, dann zählt das nicht als Politik, dann bleibt er unpolitisch. Und weil der Bulle nur den Deutschen eine aufs Maul haut, haut der Hool dem Bullen eine auf´s Maul. Und dann kommen die Bullen zu uns, stören unsere Demo und hauen uns wiederum eine rein. Weißt du, ich kann doch nicht mehr richtig wegen meinem Rollstuhl, deswegen will ich meine Ruhe haben. Wenn die aber Stunk machen, dann schnapp ich mir zur Strafe so ´nen kleinen verkackten Hool und hau ihm eine rein, weißt du, so richtig eine rein und frag ihn dabei, was der Scheiß eigentlich soll. Wir sind jetzt politisch. Wir machen ab jetzt nichts Verbotenes mehr. Uns kann keiner was. Weißt du, das ist Politik. Ich find Politik gut, richtig gut. Aber jetzt muss ich erst mal hier meine zwei Infarkte kurieren. Weißt du, ich bin das erste Mal zur Kur. Warst du schon mal in Kur?

Ja.

Und waren da auch so viele Ausländerärzte wie hier?

Meinen Sie die Ärztin von der Inneren? Bei der Aufnahmeuntersuchung erzählte sie mir, dass sie in den nächsten zehn Jahren keine Stelle in Serbien bekommen wird und sich eher zufällig hier beworben hatte. Wissen Sie, Kureinrichtungen scheinen nicht unbedingt das zu sein, was deutsche Ärzte suchen.

Sag ich doch. Die verdrängen unsere deutschen Ärzte. Und dann musst du dir von so einer, die kaum Deutsch reden kann, helfen lassen. Weißt, du, ich hab nix gegen die. Aber wenn ich krank werde, dann will ich auch unbedingt deutsch behandelt werden. Im Moment komme ich hier nicht weg. Du siehst doch, ich kann nicht mehr richtig laufen und komme früh kaum aus dem Bett. Und die verfluchte Pumpe, die macht nun schon das zweite Mal schlapp. Deswegen muss ich mir die Ausländerärztin auch gefallen lassen. So, ich muss jetzt zur nächsten Anwendung. Aber vorher, vorher da will ich schnell noch eine Durchziehen. Wir sehen uns beim Essen im Speisesall. Und dann können wir uns weiter über Politik unterhalten.

Hat man Ihnen nicht erklärt, dass nach frischen Infarkten eine einzige Zigarette reicht, um einen neuen Infarkt auszulösen.

Weißt du, den Quatsch wollte mir die Ausländertussi heut´ Morgen auch einreden.

Der Büchernarr

Der Büchernarr ist ein Besessener. Kein Tag vergeht, an dem er nicht ein Buch herbeischleppt. Er kauft sie sich, er leiht sie sich, er stiehlt sie sich. Der Büchernarr liest seine Bücher aber nicht, nein, so viele Jahre würden ihm gar nicht bleiben, ihnen auf diese Weise gerecht zu werden. Der Büchernarr häuft die Bücher lediglich an und sorgt sich um sie. Sobald er ein neues Exemplar ausfindig machen konnte, ergreift er es freudig mit seinen schwitzenden Händen. Er umstreicht es zärtlich einmal von vorn und einmal von hinten. Er schlägt es auf und atmet den Geruch des Buches tief ein. Das liebt er, ein jedes Buch hätte seinen ganz eigenen Duft, behauptet er. Es riecht nach Druckerschwärze, Papier und vor allem nach seinen Vorbesitzern. Hocherfreut ist der Büchernarr, wenn das Buch nach vielen Besitzern riecht. Denn dann glaubt er, seinem Buch einen besonderen Gefallen getan zu haben, er hätte es dann errettet, und es dürfe nun bei ihm, dem Büchernarr unbehelligt seinen Lebensabend verbringen. Einmal im Jahr unternimmt er eine große Reise. Er begibt sich weltweit auf die Suche nach vielgelesenen Büchern und sichert sich alle Bestände der Stadtbibliotheken und Schulen.
Entzückt über seinen Fund packt der Büchernarr die Koffer und lässt die empörten Wirtsleute zurück. Schon wieder wäre aus jedem Zimmer das Gottesbuch entfernt worden. Eine Unverschämtheit wäre das. Aber der Büchernarr ist besessen und deshalb eilt er seinem Nachruf auch schon voraus.

Die Schläfrige

Die Schläfrige kann den Tag nur schwer ertragen. Kaum ist sie erwacht, ist sie auch schon von Müdigkeit geplagt. Mühsam öffnet sie ihre verklebten Augen und schließt sie beunruhigt wieder, als sie die Lichtstrahlen blenden. Es ist noch viel zu früh, sagt sie und dreht sich auf die andere Seite. Doch die Sonnenstrahlen kitzeln sie in der Nase und mit einem lauten Hatschi sitzt sie plötzlich aufrecht in ihrem Bett. Nun, dann wird sie aufstehen. Langsam hebt sie ihre müden Beine aus dem Bett, streckt sich gemächlich und gähnt. Aber erneut nickt sie auf der Bettkante sitzend ein. Kurz bevor sie herunterzufallen droht, öffnet sie ihre Lider. Sie schüttelt das Kissen auf und begibt sich schlurfenden Schrittes in den nebenan liegenden Frühstücksraum. Noch im Nachthemd gekleidet, sitzt sie nun zwischen all den anderen Gästen und schmiert sich ein Marmeladenbrot. Doch bereits als sie den ersten Bissen hinunterschluckt, überkommt sie der Schlaf. Erst als ihr Tischnachbar sie unsanft am Ärmel zupft und nach der Butter fragt, erhebt sie sich träge. Das Marmeladenbrot noch in der Hand, sucht sie mit schon geschlossenen Augen ihr Zimmer auf. Gerade noch rechtzeitig erreicht sie ihr Bett und sinkt erschöpft nieder.

Überposis

Halt, Stopp! Ey, Schaffnerin! Gut, dass ich sie gleich erwische! Ich muss erstmal durchatmen. Ich bin den ganzen Weg vom Flughafen-Shuttle – puh! Ich komme gerade aus New York! Ich war die ganze Nacht im Flieger. Bin total drüber. Ich weiß nicht, ob das das Jetlag ist oder die Medikamente. Ich hatte gestern eine Zahn-OP. Mit Zahn ziehen, Eiter ausspülen und nähen und so. Fies. Jedenfalls musste ich bar bezahlen. Ich hab‘s vorm Start nicht mehr zum Automaten geschafft. Und nach der Landung auch nicht. Kann ich trotzdem mitfahren? Geht das? Ich meine, ohne Geld?

Wir machen das so: Ich fahre mit bis Leipzig. Dort steige ich aus und flitze zur Western Union. Da hebe ich das Geld aus New York ab. Dann komm ich zurück und bezahle das Ticket. Okay? Ich lasse ihnen bis dahin meinen Pass da. Als Pfand. Sie geben ihn mir zurück, wenn wir quitt sind. Keine Tricks. Und keine Sorge: Ich brauche meinen Pass. Ohne Pass bin ich erledigt.

Machen Sie doch mal eine Ausnahme! Kommen Sie schon! Bitte! Das wäre super, wenn wir das so machen könnten. Echt? Sie sind richtig cool. Ich setze mich da vorn hin, dann habe ich es nachher nicht so weit zur Tür. Ist doch frei bei dir, oder? Super! Kann ich die Tasche unter deinen Sitz stopfen? Hilfst du mir? Dann packe ich die andere hier hoch! Wehe du illerst mir unters Shirt! Jetzt guck nicht so erschrocken. Spaß!

Du, ich hoffe, ich stinke nicht. Ich bin total durchgeschwitzt. Eigentlich müsste ich mein T-Shirt wechseln. Guck mal, das sind Schweißflecken und das hier sind Schampusränder. Sehen genauso aus. Einen Fächer könnte ich jetzt gut gebrauchen. Wie der Lagerfeld. Naja, der OP-Bericht hier wird es auch tun. Ist der auch mal zu was gut. Alter Schwede: 2.500 Dollar für das bisschen Zahn ziehen. Hat das jetzt wieder zu bluten angefangen? Es schmeckt so süßlich, irgendwie. Die haben das zwar genäht, aber das ist ja nicht blutdicht. Blutdicht – gibt es das Wort? Kannst du mal gucken, ob du da was siehst? Hinten rechts unten. Da wo der Zahn fehlt. Siehst du die Naht? Blutet das? Jetzt guck mich mal an. Nee, frontal. Ist das noch geschwollen? Fass mal an, das ist total heiß! Alter, mit so einer Beule im Gesicht kriege ich nie wieder einen Job! Keine Ahnung, was passiert ist. Gestern früh bin ich mit Zahnschmerzen aufgewacht und gestern Abend sah ich aus, als hätte ich eine aufs Maul gekriegt. In der Klinik haben die den Zahn sofort rausgemacht. Das hat übelst geknirscht! Die haben gesagt: No sports! I mean it: No sports! Aber wenn ich jetzt nicht geflitzt wäre, hätte ich den Zug verpasst. Klar, ich hätte auch den ICE nehmen können, aber im ICE kommt man mit so einer Nummer nicht durch.

Ist dir auch so heiß? Boah, guck mal, in meinem Bauchnabel kocht das Wasser! Hier! Ein Schweißtropfen-Rennen! Schluss jetzt, ich zieh mir was Frisches an. Halt das mal. Fuchsia oder Pistazie? Fuchsia, oder? Weißt du, alle denken immer, ich trainiere wahnsinnig hart. Aber das stimmt null. Ich habe fünf Jahre Fußball gespielt. Ewig her. Mein Körper hat sich das irgendwie gemerkt. Also, dass ich Sportler bin. Der sieht einfach weiterhin so aus. Du hast da bisschen Pech, aber mach dir nichts draus. Dafür ist dein Gesicht gut. Das sind die Gene. Ich mache überhaupt keinen Sport. Ich darf nicht trainieren, die haben mir das regelrecht verboten. Ich habe mal ein paar Wochen gepumpt, aber ich kann ja zugucken, wie bei mir die Muckis wachsen. Die von der Agentur haben dann gesagt, ich soll aufhören, sonst passe ich nicht mehr in die Slim-Fit-Hemden. Ist ja alles Slim Fit. Wenn du zu fett bist, bist du zu fett. 65 Kilo ist das Limit. Ich könnte höchstens Joggen gehen. Aber da habe ich gar keine Zeit für. Ich würde mich ja auch nur verlaufen.

Na gut, ich esse nicht so viel. Aber das ist auch nur wegen dem Stress. Denn wenn ich was esse, Alter, esse ich echt nur Fastfood. Am Liebsten die Schinken-Ananas mit der Mozarellakruste von Pizza Hut. Ey, Pizza Hut gibt es überall: in Mailand, London, Kopenhagen, New York, Moskau, überall. Die Pizza heißt natürlich immer anders. Ananas prosciutto in Mailand, zum Beispiel. Aber das hast du schnell raus. Schmecken tut sie überall gleich. Ich fühl mich immer zuhause, wenn ich die esse.

Dabei war ich jetzt wochenlang nicht zuhause. Voll fies, dass die Modewochen so kurz hintereinander sind. Manchmal weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich bin. Ist auch egal. Von den Städten kriege ich sowieso nichts mit. Früher haben meine Freunde gefragt Wo ist es denn am Schönsten? Keine Ahnung, Mann. Ich bin da nicht zum Sightseeing! Jetzt komme ich aus NYC. Fashion Week. Bin drei Shows gelaufen. Donna Karan, Issey Miyake und Hermès, das wird wie Hermes geschrieben, ist aber Französisch, deswegen spricht man das H nicht. Hermès.

Drei Shows in einer Woche. Klingt nicht viel, ne? Ich weiß nicht, was du arbeitest, aber nur an drei Tagen die Woche ins Büro, klingt bestimmt wie Urlaub für dich. Stimmt ja auch. Also ich habe abends jedenfalls keinen Muskelkater von der Schufterei, oder so. In Wirklichkeit ist das Business ja nur Warten, ne? Manchmal sitzt du vier Stunden rum und es passiert gar nichts. Dann kommt jemand und schminkt dich drei Stunden. Dann guckst du in den Spiegel und denkst: Krass, wer ist das? Oder vier Design-Studentinnen ziehen dich den ganzen Tag an und aus und zuppeln an dir rum. Manchmal musst du sechs Stunden vor so einer Show da sein. Und wenn du dann raus gehst und läufst, dauert das 30 Sekunden. Echt ey, sechs Stunden wegen 30 Sekunden. Hammer. Aber Arbeit ist das eigentlich nicht. Obwohl, letztes Jahr in Mailand hatte ich mal vier Shows an einem Tag. Da geisterst du bei 40 Grad 12 Stunden durch Mailand, das schlaucht wie Sau. Und trotzdem ist das Gewarte natürlich langweilig. Deswegen wird auch viel gekokst. Ey, wenn du nichts von der Stadt weißt, ne, wo die Dealer stehen, weißt du. Dann geht einer los, kauft bisschen Puder und dann wird Party gemacht. Die Partys sind geil, aber du musst immer aufpassen, dass kein Typ anfängt, dich zu befummeln oder sich mit dir rumzubeißen. Gibt halt viele Homos in dem Business, weißt du ja.

Klar kannst du auch ohne Puder Party machen, aber du kennst ja niemanden, dort. Das sind nicht deine Freunde. Ich dachte immer: Models, Fotografen, Designer, das ist doch eine Familie. Aber Models sind für die der letzte Dreck, wie Putzfrauen für dich. Jeder will modeln, und wer rumzickt, fliegt eben raus, draußen warten schon drei Neue. Du kannst dich nicht darauf verlassen, jemals jemanden wiederzutreffen. Also feierst du einmal schön mit denen und dann verschwindest du.

Krass ist, wenn die Party vorbei ist. Dann sitzt du in einem Raum mit zwei Dutzend Leuten und bist trotzdem allein. Du kannst dich ja auch nicht unterhalten mit denen, weil die alle kein Deutsch können. Und mein Englisch ist echt panne, besonders, wenn ich drauf bin. Hat mich nie interessiert, Englisch. Naja, ewig kannst du das nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es überhaupt machen kann.

Ich habe ja keine Ausbildung oder so. Bin mit der 8. Klasse von der Schule, weil ich keinen Bock mehr hatte. Gab nur Beef mit den Lehrern. Und war halt öde. Naja, mein Elternhaus war nicht das Beste, da gab es nicht so viel Support. Ich habe dann bisschen Fight Club gemacht, um Kohle zu verdienen und gedealt. Eigentlich war ich immer blank.

Und dann war ich eines Tages bei einem Kumpel in Berlin. Wir waren fett feiern und am nächsten Morgen, also eigentlich schon Nachmittag, gehe ich zum Bäcker und da werde ich von so einem Typen angesprochen. Das war ein Scout. Der hat krudes Zeug gefragt. Was ich so mache und ob ich Bock hätte, dass er mal eine Sedcard mit mir fotografiert. Ich hatte keinen Plan, was das ist, aber es klang nach Kohle und ich brauchte Kohle. War goldrichtig, ey.

Kennst du Heidi Klum? Ich bin jetzt bei der gleichen Agentur. Mal kucken, wie lange. Ich bin schon 25. Aber ich sage immer, ich bin 21. Kann ich doch machen, oder? Ich sehe halt jünger aus. Naja, ein paar Jahre wird das schon noch laufen. Die Opis in der Branche sind so 35. Danach kommt nur noch der Otto-Katalog oder die Apotheken-Umschau. Da musst du vorher den Absprung schaffen. Ich will zum Film. Wie Mark Wahlberg. Schaffen nicht viele. Die meisten stürzen total ab. Deswegen: Jetzt schön Kohle scheffeln. Noch geht‘s.

Sagt meine Freundin auch immer. Die macht irgendetwas mit Marketing für eine Pharmabude, aber kriegt nur Dreizehnhundert im Monat. Raus. Das mache ich in einer Show! Da hab ich zu ihr gesagt, zieh‘ doch bei mir ein und spar die die 500 Tacken Miete. Kauf dir lieber was Schönes. Keine Ahnung, schickes Auto oder so. Hat sie gemacht. Jetzt wohnt sie bei mir in Delitzsch. Ja, ich weiß, Delitzsch, krass. Aber ich bin dort geboren und ich will nicht weg. Da sind ja auch meine ganzen Leute. Theoretisch.

Boah, ich freu mich so, die heute Abend zu sehen. Ich habe ihr bisschen Bling-Bling gekauft. Die wird sich freuen. Wobei ich aufpassen muss, dass ich die nicht so verwöhne. Ich will keine verwöhnte Zicke. Ich brauche eine echte Frau. Weißt du, wenn ich meiner Süßen auf den Arsch haue, dann wackelt der noch in drei Monaten. Darauf stehe ich. Und das weiß die auch. Deswegen ist die auch nicht eifersüchtig. Die verhungerten Kokshühner interessieren mich nicht. Ich brauche was zum Anfassen, weißt du. Aber die Hühner dürfen ja nichts essen und trösten sich dann mit Nasen voller Puder. Was willst du mit so einer? Aber klar, es ist hart eine Beziehung zu führen, wenn deine Süße dich nie sieht. Das letzte Mal war ich vor neun Wochen zuhause. Deswegen bringe ich ihr immer was Schönes mit, wenn ich komme. Dann hat sie was an mich zu denken hat, wenn ich weg bin. Kohle ist ja da.

Wenn ich zwanzig Shows mache in einer Woche, sind das 25 Scheine. Im Moment muss ich die Hälfte an die Agentur abgeben. Aber das ist okay. Der Trick ist ja, eine Kampagne zu bekommen. Also Plakate, Anzeigen, Spots und so. Dafür kriegt man 180.000 Tacken im ersten Jahr und für jedes weitere Jahr der Kampagne nochmal 70 Scheine. Also 70 Tausend. Das wäre natürlich der Knaller. Aber ich bin schon zufrieden, wie es jetzt läuft.

Am Anfang war es heftig. Ständig musste ich zu Castings oder Previews und hab dafür keinen Cent gesehen. Jedes Mal habe ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich wusste ja nicht, was die von mir wollen. Aber die wollen immer das gleiche: Den Rowdy. Bisschen böse gucken, bisschen Fresse ziehen, bloß nicht lachen. Das war’s. Hatte ich schnell drauf. Andauernd haben die Tussis von der Agentur angerufen, damit ich irgendwo hin fahre. Oder fliege. Ich so zu denen: Ey Leute, ich buttere hier nur rein. Und die so: Ey, chill mal, die große Kohle kommt schon noch! War dann auch so. Läuft.

Ich bin halt der Exotentyp für die. So viele Tattoos wie ich habe. Guck mal hier, sogar meine Geheimratsecken sind tätowiert, da gehen die total drauf ab. Und hier, meine Arme. Das ist meine Mama, hier ein Piratenschiff, da kommen aber noch Wellen hin und so. Der Knaller ist natürlich das Kreuz mit den Engelsflügeln auf meiner Brust. Soll ich das Shirt nochmal ausziehen? Hast du den Drachen auf meinem Rücken gesehen? Ist voll der Kontrast zu den feinen Klamotten. Das zieht den Fotografen total den Stecker.

Manche Klamotten darf ich behalten, wenn sie mir gefallen. Besonders, wenn die voller Schminke sind. Aber dann wäscht man die, und dann sind die wieder cool. Die Hose hier zum Beispiel. Sag mal, findest du auch, dass die am Arsch zu locker sitzt? Meine Agentin in New York sagt das. Und du?

Die meisten Kollegen sind total glatt. Manchmal machen die sich dann so Abziehbildchen-Tattoos drauf. Voll arm. Aber die sind eben derbe jung und haben null Lebenserfahrung. Die finanzieren sich ihr Studium mit dem Modeln, mehr ist das für die nicht. Für mich ist es mein Job. Mein einziger.

Echt, du steigst hier aus? Schade. Tja, dann: Hat mich echt gefreut, dich kennenzulernen. Weißt du, ich texte ja nicht jeden so zu. Aber bei Leuten, bei denen ich Interesse spüre, erzähle ich halt gern mal. Achso, ich heiße übrigens Norman.

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

1. Erwachen

Endlos und leer lag die Ebene vor ihm. Ohne jeden Makel, sogar ohne jegliche Textur. Seit Stunden stellte er sich gegen die Kälte, die sich immer tiefer in seinen Körper fraß. Dutzende Kilometer hatte er hinter sich gelassen, aber die Ebene vor ihm veränderte sich nicht. Längst hatte er eingesehen, dass er die Hütte heute nicht mehr erreichen würde. Weit in ihm, hinter dem Fauchen des Windes in seinen Ohren, zog seine Angst zischend in Zweifel, ob er die Hütte jemals fände. Er sehnte sich nach dem wärmenden Feuer, das in ihr brannte, aber er würde in der kommenden Nacht wohl darauf verzichten müssen. Der Himmel hatte schon von weißlich blau auf petrol gewechselt und würde sich bald in Richtung schwarz recken. Seine Hunde wurden langsamer und brauchten eine Pause. Wie er. Wenn er nicht sofort anhielt um sein Nachtlager zu bereiten, würde er in der Dunkelheit vor Erschöpfung vom Schlitten kippen und bis morgen früh erfroren sein. Ihm war das klar, doch ängstigte es ihn nicht genug, als dass er den Singsang der Glöckchen an den Halsbändern seiner Hunde dafür stoppen würde. Er mochte ihr Lied und er fürchtete sich vor der betäubenden Stille, die sich binnen weniger Augenblicke wie eine schwere Wolldeckte über die Ebene legen würde, sobald seine Hunde zur Ruhe gekommen waren. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gleiten der Kufen unter seinen Füßen; konzentrierte sich auf seinen Atem, atmete tief, ließ den Atem entweichen, versuchte seinen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, spürte nichts. Er öffnete seine Augen und sah, dass ein Sturm aufzog.

Der Horizont, der die Ebene messerscharf vom Himmel trennte, geriet aus dem Gleichgewicht, geriet in Wallung, warf hohe Wellen. Es war, als würden die Böen auch unter dem schneebedeckten Boden wüten wie unter einem gespannten Laken. Die Ebene verlor ihre Stabilität. Sie öffnete sich wie ein riesiger Schirm vor ihm, umfing ihn, ließ sich von den Kufen seines Schlittens spuren, und einen Moment später entzog sie ihm; zog sie sich so weit zusammen, dass nur ein winziger weißer Spalt blieb von ihr, verschwand schließlich ganz, warf ihn ins Nichts.

Sein Schlitten kippte und begrub ihn unter sich, weich aber schwer. Er wartete auf den Schmerz, aber es schmerzte nicht. Er konnte seine Hunde nicht mehr sehen. Er musste sie wiederfinden, er wäre verloren ohne sie. Dass er ihre Glöckchen noch singen hören konnte, beruhigte ihn. Er schloss die Augen, atmete und lauschte. Er mochte den weichen Schnee unter seiner Wange. Er beschloss, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen und sich vom Gewicht seines Leibes wärmen zu lassen. Kurz bevor man erfriert, wird einem ganz warm, sagt man.

Er öffnete die Augen. Die petrolfarbenen Vorhänge filterten die Sonne und tauchten das Zimmer in ein fahles, kaltes Licht. Nur ganz unten, ein fingerbreit über dem Boden, dort wo der Horizont die Ebene abschnitt, tanzte ein warmweißer Fetzen auf den hellen Dielen. Vom geöffneten Fenster her fuhr ein eisiger Hauch ins Zimmer, der von fern das Klimpern der Glöckchen an den Halsbändern seiner Schlittenhunde zu ihm herübertrug.
10:42 Uhr. Ein schöner Wecker. Mit Klappzahlen und Radio. Aber nicht seiner. Ebenso wenig wie das schneeweiche Kissen, die Matratze mit der tiefen Kuhle oder das flache Bett, in dem er lag. Er stützte seinen Oberkörper auf seine Ellenbogen und sah sich um. Sein Nacken schmerzte. Er ächzte.
Nichts hier gehörte ihm. Nicht der helle Plüschteppich auf dem das Bett stand, nicht die matten, hellen Dielen auf denen er lag und nicht die kargen hellgrauen, Wände an denen sie endeten. Er setzte sich auf. Nichts von dem, was ihn umgab, kannte er. Den riesigen weißen Schrank nicht, nicht seinen Inhalt und nicht den, dem er gehörte. Das einzige, was ihm unangenehm vertraut vorkam, war der Andere, der ihn ernst, zerzaust und irritiert aus einem mannshohen weißen Holzrahmen neben der Flügeltür anstarrte.

Er legte sich wieder hin, kniff die Augen zu und ließ sie ein paar Sekunden geschlossen. Er sah ein, dass die weite, klare Schneelandschaft unwiederbringlich dem fast schwarzen Dunkelrot hinter seinen Lidern gewichen war. War er tatsächlich wach? Er biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh, aber wer konnte sich sicher sein, dass es nicht wehtun würde, sich im Traum auf die Lippe zu beißen? Vorsichtig setzte er seine Füße auf den Plüschteppich, so vorsichtig, dass es ihn kitzelte. Langsam verlagerte er sein Gewicht und stand auf. Weil jemand seinen Schädel über Nacht mit Beton gefüllt hatte, gelang es ihm erst nach einigen Sekunden seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Ihm war schwindlig und im Traum war ihm noch nie schwindlig gewesen.

Er taumelte zum Holzrahmen hinüber. Aus dunklen Augen in tiefen Höhlen starrte ihn ein alter Mann an, aufgedunsen, irritiert und feindselig. Sein Körper war ohne Wunden, aber wegen seiner gekrümmten Haltung wirkte er verletzt. Mit der linken Hand berührte er seine Rechte, die reglos an seinem Arm hing. Dann seine Wangen, seine Brust, seinen Bauch. Seine Haut war aus Latex. Sie schimmerte in blassem Violett. Darunter waberte Flüssigkeit, lauwarm. Er berührte seine Lippen. Silikon. Weich, aber trocken und ohne Gefühl. Er steckte seine Hand in seine Shorts. Er spürte die Berührung stärker als die anderen, weil er sie nicht sah. Aber er fühlte nichts. Trotzdem: Er war es, auch wenn er sich nur ähnelte. Er stammelte „Wer?“, „Wo?“ Seiner Stimme fehlte der Bass. Er wandte sich ab.

10:49 Uhr. Ein schöner Wecker auf dem Nachttisch. Ein leeres Wasserglas. Daneben ein schwerer großer Kristallaschenbecher. Dunkelblau. Leer aber nicht unbenutzt. Wie er. Weiter daneben Magazine. In gewollter Unordnung. Wie er. Wer schläft hier, wenn er hier nicht schläft? Wieso war er hier aufgewacht?

Er taumelte zu den petrolfarbenen Vorhängen und ließ die Stadt herein. Seine Fremde endete nicht an den Grenzen seines Körpers. Auch nicht an den Wänden dieses Raumes. Durch eine schmale Tür trat er auf einen halbrunden Balkon. Die frostige Luft füllte seine Lungen und nahm einen Teil seiner Benommenheit mit sich. Der grobe Beton unter seinen Füßen riss ein Loch in die Watteschicht, die ihn umgab. Das geschwungene Eisengeländer zwang ihn, zuzugreifen. Er stutzte: Dort unten fand ein Tag statt. Busfahrer fuhren Busse, Paketboten lieferten Pakete und durch die großen Fenster des Gebäudes gegenüber sah er Büros, in denen Sachbearbeiter Sachverhalte bearbeiten. Die Maschine lief.
Auf den Balkon nebenan war ein Schäferhund gesperrt. Der schlief. Er selbst nahm seinen Mut und seine Konzentration zusammen und beugte sich über die Brüstung nach unten. Weit, so weit, bis er das metallene Windspiel auf dem Balkon eine Etage tiefer sehen konnte. Die Glocken der Schlittenhunde. Ursache und Wirkung bedeuteten ihm viel.

Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte das Wintergartenhochhaus. Er war noch in Leipzig. Volkmarsdorf, Neuschönefeld oder Reudnitz. Er erkannte kein anderes Gebäude in seinem Sichtfeld. Er war kein Leipziger. Seine Augen schafften es nicht, den Straßennamen auf dem Schild an der Ecke zu entziffern.

Ein Bellen wie eine Sturmböe warf ihn auf die andere Seite. Er schrie. Adrenalin flutete ihn. Der Hund vom Nachbarbalkon hatte sich in einen tollwütigen Werwolf verwandelt. Mit den Vorderläufen hing er über der Brüstung und kläffte, fletschte, knurrte, dass der Speichel spritzte. Er gehorchte und ging nach drinnen. Sorgfältig verriegelte er die Balkontür.

Er war Herzschlag. Er pumpte. Das Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass Zeit verging. Das war tröstlich. Er würde klarer werden, mit der Zeit. Er würde herausfinden, wo er war. Und wo seine Kleidung. Und ob es diese Hütte gab. Und warum sich der Hund gegen ihn wandte. Er entdeckte die Heizung hinter dem Vorhang und drehte sie auf.

Er ging zum Kleiderschrank. Der wies ihn ab wie ein Monolith außerirdischen Gesteins. Seine weiße Hochglanzoberfläche wollte nicht berührt werden. Nicht von ihm. Er war schmutzig, fettig und voller Keime. Der Schrank hatte keine Türgriffe, keine Griffmulden, keine Schlüssel oder Schlösser. Der Schrank stand vor ihm, im vollen Bewusstsein der eigenen Anmut. Der Schrank ignorierte ihn. Er trat zur Seite um seinen Winkel zum einfallenden Licht zu verändern. Das Spiegelbild des Raumes war makellos. Kein Fingerabdruck, kein Kratzer, keine Spur. Er untersuchte die Kanten nach Vertiefungen oder Tastern. Sie waren glatt, ebenmäßig und kalt – nichts sonst. Er trat zurück, um den Schrank als Ganzes sehen zu können. Er wollte ihn verstehen. Der Schrank schien sich abzuwenden. Er trat heran, als würde er Anlauf nehmen, streckte die Hand aus und drückte sie fest gegen das porenfreie Weiß. Es klickte merklich unter seiner Hand. Die Tür trat hervor und fuhr langsam aber präzise geführt zur Seite.
Im Inneren offenbarte sich das, was von außen vehement geleugnet wurde: ein ordinärer Kleiderschrank aus weiß furniertem Pressspan. Das Versprechen der Perfektion wurde nicht gehalten, das wird es nie. Die Kleidungsstücke und Gegenstände im Inneren waren zwar nach Art sortiert aber ohne große Sorgfalt aufeinander gestapelt, nebeneinander gelegt und übereinander gehangen.

Er fand Hemden, kariert zumeist, wenigstens zwanzig. Und Hosen aus Cord, hellbraun, dunkelbraun, beige, schwarz, blau. Vielleicht zehn? Jeans, sieben Mal das gleiche Modell aber eindeutig unterschiedlich alt. Cordwesten und Cordjacketts. Boxershorts, die engen. Gürtel, alle braun, alle Leder, einer mit einer Schnalle in Form eines Bullenkopfes. In einer Ecke Cowboystiefel mit Sporen. Das reichte ihm. Seine Sachen waren da nirgends. In der Sekunde, in der er die Tür wieder schließen wollte, stutzte er.

„Cowboystiefel?“ Er hob einen Stapel T-Shirts, zog einen Stapel Pullover aus dem Fach, um dahinter zu schauen, prüfte einige Kleiderbügel darauf, ob unter den Hemden vielleicht Blusen hingen. Aber nichts. Dies war ohne Zweifel der Kleiderschrank eines Mannes. Dies war ohne Zweifel das Schlafzimmer eines Mannes. Aber er war nicht der dazugehörige Mann. Er legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er schlug sich mit den Handballen auf die Stirn um klarer zu werden, aber sein Schädel antwortete mit stärkerem Dröhnen.

Er berührte die Tür erneut, woraufhin der Schrank die Kleidung des Fremden wieder verschluckte. Er schauderte: Der Fremde. Das war er. Er war in einem Bett aufgewacht, in das er nicht gehörte. Er war derjenige, der hier nicht stimmte. Dem Nachbarshund war es gleich aufgefallen. Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse.

(Fortsetzung 2. Ausrüsten)

Unter dir (Teil 2)

Wenn ich dir früher einen Knutschfleck an jeder Seite deines Halses verpasste, meckertest du, dass du dir markiert vorkamst und bandest dir eines deiner albernen Tücher um. Aber diese gemeine Bemerkung verzieh ich dir meist schon in der darauffolgenden Nacht. Ich streichle über die feucht glänzende Stelle, die ich dir soeben gemacht habe und sage, na dann eben nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Risiko eines Knutschflecks heute eingehen sollte. Heute Abend darf uns auf keinen Fall irgendwer stören; zulange habe ich mich auf diese alles entscheidende Nacht vorbereitet. Beim letzten Knutschfleck haben sie gedacht, du hättest eine innere Blutung und dich übergründlich untersucht. Für mich war das grausam, da ich die ganze Nacht hinter dem dussligen Vorhang stehen musste. Der Gedanke daran macht mir schon wieder Angst.

Da meine Füße schmerzen, ziehe ich die Schuhe mit den vielen Glitzersteinen, die ich extra für Heute angezogen habe und die du von jeher besonders albern findest, aus. Ich sage, von Schuhmode hast du keine Ahnung und werfe sie unter das Bett. Ich gehe zum aufgeräumten Nachttisch, dessen Sauberkeit die Schwester soeben ausgiebig gelobt hat und sortiere die darauf liegenden Dinge zusammen. Was ich für unnütz halte, werfe ich in den leeren Eimer. Weil das Desinfektionsmittel in der Nase juckt, pople ich und schnipse ab und zu einen der rausgeholten Popel durch den Raum. Misstrauisch lese ich die Handschriften der Briefe deiner vielen Freunde und rieche an den Absendern die mir unbekannt sind. Die Briefe mit den Handschriften, die mir besonders verdächtig vorkommen oder die ich nicht kenne oder von denen ich meine einen mir fremden Parfümduft zu erriechen, zerrreiße ich in klitzekleine Schnipsel und streue sie zufrieden in das Seitenfach meiner Handtasche. Die ungefährlichen lege ich gut sichtbar in den Nachttisch zu den Stapeln der anderen. Ich schiebe das Nachttischfach zu, gähne in die Länge gezogen und spüre den anstrengenden Tag in meinen Beinen. Um mich fit für die Nacht zu machen, beuge ich mich nach vorn, strecke beide Arme zu den lackierten Zehen und danach zur Lampe der Zimmerdecke. Ich halte mich am Nachttischgriff fest, schiebe das linke Bein langsam in Augenhöhe, lasse vorsichtig den Nachttischgriff los und drehe mich ballarinamäßig einmal um die eigene Achse. Ich tipple an das Bett deines linken Mitpatienten, strecke ihm das Bein und den Fuß entgegen, ziele über den großen Zeh und sage laut Peng, Peng, jetzt bist du tot. Ich tipple zum rechten Mitpatienten, strecke das rechte Bein und erschieße auch ihn. Nachdem ich sie beiden zur Strecke gebracht habe, klatsche ich in die Hände, mache einen Sprung in die Luft, verbeuge mich vor den drei Betten, bedanke mich für den Applaus und fühle mich bereit für die Nacht.

Ich lege mich zu dir ins Bett, rolle mich zusammen und kuschle mich an dich heran. Ich betrachte dein wunderschönes schlafendes Gesicht mit den starken Wangenknochen. Ich nehme den kleinen Zeigefinger und ziehe eine Linie von dem Haaransatz, über die hohe Stirn, zum schnurgeraden Nasenrücken zu den Nasenflügeln mit den kleinen Härchen. Dabei stecke ich meinen Fingernagel in jedes Nasenloch und hole deine Popel raus und schnipse sie im hohen Bogen durch den Raum. Ich sehe wieder in dein Gesicht. Ich öffne deine Lippen, schiebe den Zeigefinger in den Mund, ziehe ihn heraus, schiebe ihn wieder rein und raus und sage vorwurfsvoll, ehe du mich beißt. Mit dem kleinen Finger umrunde ich das breite Kinn, den Hals bis zum Adamsapfel, bleibe dort stehen und pikse mit der roten Fingernagelkuppe in den Apfel und zähle die kleinen schwarzen Härchen die dort aus der Haut wachsen und überlege, wie lange es brauchen wird, bis die Härchen sich krümmen und die von mir geliebte Form des Kopfhaares annehmen. Als ich früher in dein Gesicht schaute und deine Barthaare zählte, wunderte ich mich wie schnell die dicken schwarzen Haare dir aus der gebräunten Haut wuchsen. Schon damals schob ich meine knallrot lackierten Finger durch dein Haar und zirbelte den Bart. Die Kombination von Knallrot, Schwarz und Braun machte mich wild, auch wenn dir meine rot angepinselten Krallen, wie du sie abfällig nanntest, nie wirklich gefielen. Hier rasieren die Schwestern dich, bevor ich deinen Bart zu sehen bekomme. Außerdem, mein Lieber, ist deine Haut wie weiße Babyhaut geworden. Dass sie weiß ist, stört mich nicht wirklich, das habe ich dir schon oft ins Ohr geflüstert. Ich finde, dass sie mich sogar anmacht. Aber dass sie dein Kinn und deinen Hals babyglatt rasieren, bringt mich auf die Palme. Deswegen habe ich auch ab und zu Lust Haare mitzubringen, die ich zuhause heimlich in den Kartons unter deinem durchgelegenen Jugendbett aufbewahre, um sie dir zu einem Bart anzukleben. Oder, dass ich wenigstens ab und zu ein paar Haare mit meinem schwarzen Filzstift, mit dem ich täglich die pflegerischen Anordnungen der Schwestern auf den Karteikarten unter dem Bett benote, anmalen zu dürfen. Aber das geht nun wirklich nicht, das sehe ich ein. Dann denken die womöglich hier, dass ich völlig durchgeknallt bin. Ich seufze, schließe die Augen, reibe blind über deinen rasierten Kehlkopf mit den Stoppeln und stelle mir vor, dass dort ganz viele schwarze, gelockte Haare wären. Ich streichle um den surrenden Schlauch, der aus deinem Hals ragt und flüstere dir zu, dass es mir leidtut, was die vergesslichen Schwestern mit dir hier alles anstellen. Ich verspreche dir, heute wird das Alles für dich und mich ein Ende haben.

Ich richte mich aus meiner Embryonalhaltung auf, küsse deinen glatten Kehlkopf und lasse die nasse Zunge darüber gleiten. Mit dem Daumen massiere ich die glänzende Stelle und sage, dass gefällt dir, mein Lieber? Stimmt. Ich schaue kurz auf die Leuchtanzeige meiner Uhr und horche, ob vom Gang her ein Geräusch zu hören ist und mache, nachdem ich nichts höre, weiter. Ich umgreife deine Ohren und schiebe dein Gesicht auf dem Kopfkissen unter mein Gesicht. Ich stütze meine Hände auf deine Schultern und bewege meine Hüften, als ob ich tief in dich eindringen würde. Als du noch nicht hier lagst, tat ich das nämlich immer, weißt du das noch. Wie damals ärgere ich mich auch jetzt, dass ich kein Mann bin und in dich eindringen kann. Ich mochte es, wenn du dir auf mir zu schaffen machtest. Ich mochte es, wenn du mit deinen langsamen, tiefen Stößen in mich eindrangst und ich dein langes, dickes und schneeweißes Ding in mir spürte. Und ich mochte es wenn dein schwarzes Kopfhaar im Rhythmus über deine Schultern mitschwang. Ich umklammerte erst deinen muskulösen Hintern mit meinen Beinen und danach mit den Händen und klopfte dabei so lange und so heftig auf deine Arsch, bis alles aus dir raus war. Mach weiter, mach weiter, du kleine Hexe, hattest du mir zugeflüstert. Oft habe ich danach meine rot lackierten Finger genommen und sie an deinen Hüften entlanggekratzt. Ich kneife mich links und rechts in meinen Hintern, öffne die Augen und sehe zu deinen beiden Mitpatienten, die wie immer still daliegen. Ich hebe deine Bettdecke an und schaue mit einem prüfenden Blick, ob noch alles an dir dran ist. Es hat sich nichts geändert, genau wie der Rest deines Körpers. Nur, dass er jetzt komplett weiß ist. Dein ganzer schöner zwei Meter und einen Zentimeter langer Körper. Früher konnte ich mich an dem weißen Streifen, der an dem braunen Körper herunterbaumelte, nicht sattsehen. Pinsel hab ich zu deinem Ding gesagt. Quast hast du geantwortet. Das ist ein Quast. Dein Ding war so weiß, dass ich damals dachte, dass es nur deswegen so weiß war, weil du es in mich reinschobst, weil ich ja innen auch weiß war wie eine Farbdose. Aber das war quatsch. Dein Hintern war ja auch weiß. Wie du deinen Hintern damals anhobst, im Rhythmus immerzu im Rhythmus anhobst, immer und immer wieder. Ich weiß warum ich auf Musiker stehe. Ich schließe die Augen und flüstere, schön, das war damals wunderschön. Manchmal zählte ich deine Haare während du in mich eindrangst. Weit war ich damit aber nie gekommen. Gleich kriegst deine Narkose, hattest du gesagt, warte, gleich kriegst du, du kleine Hexe. Du sagtest das, wenn du merktest, das ich über deine Schulter sah und deine Haare an den zuckenden Gesäßmuskeln zu zählen begann. Und weil ich damit nie sehr weit gekommen war, hatte mich das laute Zählen deiner Gesäßhaare irgendwann an meine Narkose erinnert. Die Anzahl deiner Haare hatte ich dabei jedes Mal genauso vergessen, wie die Zahl bei der Narkose. Und dann ärgerte ich mich wieder, dass ich kein Mann war. Wenn du fertig warst und tief Luft holtest, fragte ich dich, wie das ist, was für ein Gefühl das ist und ob du mir dieses Gefühl erklären kannst, ob du mir Beispiele nennen kannst, damit ich dich besser verstehe, wenn du es in mir treibst. Schließlich wollte ich alles wissen, was du machst. Alles. Meist lächeltest du und sagtest in die Länge gezogen, geil, einfach nur affentittenobergeil. Ich war mir sicher, dass du damit meinen Körper meintest, fragte dich aber vorsichtshalber, ob das Gefühl bei allen Mädchen gleich geil war. Du sagtest ja, ja, und deutetest mit weit aufgerissenen Augen einen Orgasmus an. Es machte mich jedes Mal wütend, das du mir nicht sagen wolltest, wieviel Mädels du nun vor mir hattest. Und wenn ich deswegen in Wut geriet, konnte ich dir sogar mit voller Wucht auf deinen steifen Penis schlagen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich bei dem Thema einfach nicht beherrschen. Und wenn ich merken würde, dass du wegen einer der Schwestern einen Steifen bekommst, dann würde ich, glaube ich, es wieder tun. Mein Gott, wie ich dich in diesen Momenten abgrundtief gehasst habe. Da ich aber jetzt nicht schon wieder an die blöden Missverständnisse denken will, schiebe ich mich weiter auf deinem Körper hin und her. Meine Haare lasse ich dabei in deinem Rhythmus über meine Schulter herunterschwingen. Mit den Haarspitzen reibe ich deine Nase, bis du schnaubst. Empört sage ich, das passt dir wohl nicht. Ich ziehe eine Schnute, knicke deinen Schlauch zusammen und beobachte wie lange es dieses Mal dauert, bis du endlich reagierst. Ich öffne dein albernes Krankenhaushemd. Typisch, die Schwestern haben dir wieder eines aus ihren Beständen verpasst. Ich lege mein Ohr an deine Brust, reibe über deine Haut und flüstere, dass ich dir dein Geschnaube verzeihe. Wie zu Beginn, macht mich deine warme Haut an meinem Ohr wieder etwas schläfrig und ich gähne. Ich weiß, sage ich, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf dir einschlafe. Wenn mir das jetzt passiert, flüstere ich dir ins Ohr und die mich erwischen, sind alle Vorbereitungen umsonst gewesen und ich bin geliefert und die schmeißen mich im hohen Bogen raus. Deswegen habe ich mir etwas einfallen lassen. Heute Nacht, mein Schatz, heute Nacht ist es endlich soweit.

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Waltraud

+ Barbarusia möchte jetzt mit Ihnen reden +

Wer ist in der Leitung?

+ Auf alle Fragen eine klare Antwort +

Ich bin´s wieder, die Waltraud!

Hallo Waltraud, wie kann ich mit meinen universellen Tiefenkräften behilflich sein?

Ich wollte nach meinem Ältesten fragen… er ist seit über acht Monaten spurlos verschwunden und die Polizei kann ihn immer noch nicht finden. Und da dachte ich… da wollte ich… da möchte ich Sie nochmal bitten, Frau Barbarusia, ob Sie in der Zwischenzeit erfahren haben, ob er lebt, was er macht, ob es ihm gutgeht? Ich meine… ich weiß nicht weiter?

Ja, und was ist jetzt deine Frage, Waltraud? Wohin soll ich meinen engelsenergetischen Strahl schicken?

+ Sie können der Nächste sein. Rufen Sie sofort an +

Frau Barbarusia, richten Sie ihren Strahl zu meinem guten Jungen, ich… ich. Wissen Sie nicht mehr? Frau Barbarusia? Ich bin´s, die Waltraud! Ich habe Sie doch in den letzten Monaten immer wieder angerufen. Ich habe gespart, ich habe alle Sachen, die Sie mir empfohlen haben, gekauft. Alle! Ich habe wieder etwas Geld. Ich mache alles so, wie Sie es gesagt haben.

Ach, du bist´s, meine liebe Waltraud. Ich habe deinen Anruf vorhergesehen, ich wusste, dass du mich heute wieder anrufen würdest. Und deswegen habe ich einen Teil meiner kostbaren Energien für dich zurückgehalten, um sie dir jetzt zu schenken…

+ Barbarusia hilft Ihnen aus ihrer Lebenskrise. Rufen Sie an +

Meine liebe Waltraud, ich habe in den letzten Tagen mehrfach versucht mit deinem Jungen Kontakt aufzunehmen, aber die uritanischen Wolken verschleiern durch einen monofensorischen Einfluss meine Sicht… ich habe wirklich alles versucht, aber die uritanischen Wolken von links, die trisurdischen Gegenschwingungen von rechts, von oben die intergalaktische Fehlwolkenbildung und dazu noch der sehr, sehr kräftige monofensorische Einfluss… naja, Waltraud, da weißt du ja selber…Waltraud, gell, ich schaue jetzt trotzdem nochmal in die hochenergetische Kugel…

+ Rufen Sie an und Barbarusia gewährt Ihnen ein Telefonat ins Jenseits +

Lebt er noch, Frau Barbarusia? Wo ist er? Hat er genug zu Essen? Mir ist ganz schlecht… ich habe wieder die Nacht nicht geschlafen!

Also, Waltraud, soweit ich´s sehe, im Jenseits, im Jenseits ist er jedenfalls n-o-c-h nicht gelandet.

Das können Sie erkennen, Frau Barbarusia? Können Sie mir das versprechen? Stimmt das wirklich?

Ja, Waltraud, seit meinem fünften Lebensjahr sehe ich Verstorbene. Ich bin mit ihnen in reger Verbindung, unterhalte mich mit ihnen, so wie ich mich mit Dir unterhalte. Du hörst mich doch auch Waltraud, oder e-t-w-a nicht…?

Ja, ja, ich höre Sie sehr gut, Frau Barbarusia, sehr gut…

Das ist für mich mit meinen angeborenen transnistischen Engelsenergieströmen ü-berhaupt kein Problem, da mach´ dir mal keine Sorgen, gell´, den Transnismus, den habe ich schon während meiner Geburt in mich eingesogen. Meine Mutter war eine Engelsfrau, also bin ich eine Engelsgeborene, da kann ich auch nix für…also, deswegen kenne ich mich mit dem Jenseits aller-bestens aus, da bin ich sozusagen zu Hause. Im Jenseits, meine liebe Waltraud, ist dein Junge jedenfalls nicht eingegangen, das sagen mir soeben meine befreundeten Engel vom goldenen Tor.

+ Wählen Sie sich in eine der noch wenigen freien Leitungen ein, Barbarusia ist gleich für Sie da +

Wissen Sie, mein Frank ist ein guter Junge, der hat mir in all den Jahren nie Kummer gemacht… über 50 Jahren wohnt er nun schon bei mir. Und seit mein geliebter Mann einfach nicht mehr wieder gekommen ist… und die beiden anderen Jungs…auch sozusagen raus sind… den einen, den darf ich jeden Monat einmal von Amtswegen besuchen und der andere, naja, die Frau hat ihn gegen mich aufgehetzt… seit, seit die beiden anderen Jungs also auch raus sind, da hat doch mein Frank das Zimmer für sich ganz allein und kann sich Nacht für Nacht alle Sendungen von Ihnen angesehen und anrufen. Erst habe ich geschimpft, wissen Sie, ich… wir sind ja eigentlich katholisch… da habe ich geschimpft, weil er sein ganzes, sein sauer verdientes Geld… also das schöne Geld dafür ausgegeben hat. Wissen Sie und jetzt bin ich heilfroh, dass ich Sie über die Lieblingssendung von meinem Frank kennen gelernt habe. Ich wüsste gar nicht… was ich ohne Sie, Frau Barbarusia…

… Waltraud, als deine treue Helferin aus dem Jenseits werde ich jetzt nur für dich nochmal die Erdoberfläche mit meinen hochenergetischen Kristallschwingungen absuchen, vielleicht finde ich ihn dieses Mal. Wenn nicht, musst du wohl noch ein Weilchen Geduld haben und noch eins… zwei… vielleicht auch ein drittes Mal bei mir anrufen. Wie war das den nun am letzten Tag mit euch beiden, Waltraud, erzähl mir mal schnell? Erzähl´ es mir, lass es raus, ich sauge es in mich auf, ich neutralisiere es für dich, meine liebe Waltraud, ich neutralisiere alles was du mir jetzt sagst, al-les!

+ Sichern Sie sich heute die Reichtumsenergie +

Ich habe ihm gesagt, er soll das Radio nicht so laut machen und die Klospülung nicht bei jedem Bisschen benutzen und er soll pünktlich nach Hause kommen. Jedes Mal warte ich an der Tür… Er hat wie immer geschimpft und ist ohne sich zu verabschieden auf Arbeit gegangen, …aber dort ist er nicht angekommen. Und wiedergekommen ist er auch nicht. Frau Barbarusia, ich brate seit acht Monaten jeden Tag sein Lieblingsessen, Bratkartoffeln mit Kümmel und Buletten mit viel Estragon, um mich… wenn er wieder nach Hause kommt, zu entschuldigen. Ich… ich stelle jeden Tag das Essen in den Kühlschrank, und wenn das Kühlfach voll ist, räume ich es…. Ich weiß doch auch nicht, was ich sonst noch machen soll? Frau Barbarusia, er ist doch ein so guter Junge. Wissen Sie, ich bin so froh, dass ich ihn durch die Schulzeit bekommen habe… er hat mir nie, nie Kummer gemacht. Ich bin so froh, dass ich ihn damals aus der Mopedclique bekommen habe, er ist ein guter, ein guter Junge, das mit dem blauen Moped hatte er auch wieder schnell vergessen, Sie wissen doch, die Jungs und ihre Flausen …

Lass die schlechten Energien raus, Waltraud, immer raus damit, ich atme das alles in mich hinein! Lass sie raus, ich neutralisiere das alles für dich, ich neutralisiere die schwarzen Energien aus deinem Körper, ich sauge sie in mich auf, ich mache sie weiß, mache sie schneeweiß, hochweiß, ultraweiß, Waltraud…

Auch die Kleidung lege ich jeden Tag für ihn hin, Frau Barbarusia… und seine fünf Euro spare ich für ihn in seinem Sparschwein. Das Geld kann er nachzählen, das ist alles da. Die zwei Glücksschweine stehen auf seinem Nachttisch, 880 Euro sind zusammengekommen, 880 in Ein-Euro-Münzen. Ich gestatte ihm auch ein Moped, wenn er will… ein Moped wollte er immer… wenn er doch nur wiederkäme, ein Moped, ich habe schon nachgefragt, ein blaues… blau mochte er…

Genau, das meine ich, Waltraud! Da musst du wohl unbedingt g-a-n-z tief in dir nachsehen, da musst du in dich w-e-i-t reingucken, da musst du in dir kom-plett aufräumen, da ist etwas mit euch beiden in eurem schönen Glückshaus passiert, mit eurem Karma, etwas, das so nie-mals mit euch hätte passieren dürfen, verstehst du Waltraud! Da sind Strahlen gebrochen worden. Strahlen… das geht nicht ohne Bruch von Lebenskarma. Kein Wunder, dass es dir schlecht geht. Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Das ist alles ü-berhaupt kein Wunder. Wundert mich ü-berhaupt nicht. Aber wir beiden, du, meine liebe Waltraud und ich, wir beiden bekommen das schon wieder in den Griff. I-c-h bringe den Frank zurück und d-u erneuerst in der Zwischenzeit dein zerbrochenes Karma, gell´, meine liebe Waltraud!

Frau Barbarusia, dann bin ich wohl doch an allem Schuld?

Waltraud? Wenn du g-a-n-z tief in dich hineinschaust, dann kennst du die Antwort genau! Das muss ich dir doch nicht sagen, Waltraud. D-u und nur D-u kennst die Antwort! Stimmt´s, Waltraud! Ich empfehle dir dringend eine spirituelle Selbstreinigung mit Kristallquarzpaste, dann siehst du alles unverstellter, klarer, mit gereinigtem Blick. Mit der wertvollen Paste kann ich dir auch zwischendurch aushelfen, wenn du… ich meine… wenn sie dir im Moment fehlt. Ich weiß, du brauchst sie drin-gend. Waltraud, alles kein Problem, wenn du willst, Waltraud, kannst du sie gleich bei mir bestellen, kostet für dich… ich meine wegen der Sache mit dem Frank, fast nichts, für dich so gut wie gar nix. Waltraud, ich bin doch kein Unmensch! Als Engelsgleiche hat Geld für mich sowieso keinerlei Bedeutung, kei-ner-lei Bedeutung!

+ Ihr Schicksal in Barbarusias Händen +

Frau Barbarusia, ich habe mich immer um ihn gekümmert. Ich habe ihm das Essen gemacht, ich habe seine Wäsche gewaschen, sein Zimmer aufgeräumt, jeden Tag ein frisch gebügeltes Hemd über den Stuhl gehängt, täglich eine Schachtel Zigaretten und Kaugummi in die Tasche gesteckt, jeden Tag fünf Euro Taschengeld in geputzten Ein-Euro-Stücken auf seinen Platz gelegt und habe die Brote dick mit Wurst beschmiert und meinen Jungen danach geweckt. Nicht einen einzigen Tag ist er zu spät auf Arbeit gegangen, egal wie lang er sich ihre Sendungen ansah. Dafür habe ich gesorgt. Frau Barbarusia, was habe ich denn verkehrt gemacht? Was? Ich verstehe das alles nicht? Nacht für Nacht stelle ich mir die Fragen, die Sie mir in den letzten acht Monaten gestellt haben. Irgendwann hätte er ein tüchtiges Mädchen mit heimgebracht und wir hätten viele Kinder gehabt. Irgendwann. Manchmal habe ich ihn auch gefragt, warum er keine mitbringt… da hat er dann immer laut reagiert. Ich hätte gewiss gegen ein ordentliches Mädchen überhaupt nichts gehabt, Frau Barbarusia.

Waltraud, du musst g-a-n-z dringend ein spirituelles Sitzbad nehmen, nur dann, und nur dann wird´s besser mit dir und deinem… Wenn ich mich nicht täusche, empfange ich jetzt ganz schwache Signale von deinem, vom…

…von meinem Frank?

Ja, von deinem gu-ten Frank, Waltraud!

+ Hier erfahren Sie die ganze Wahrheit über ihre Sterne +

Was sagt er, Frau Barbarusia? Geht´s ihm gut? Was macht er? Hat er genug zu essen?

Das kann ich nicht sagen, dafür ist das Signal auch dieses Mal zu schwach, Waltraud, was du aber auf jeden Fall drin-gend machen musst, ist eine energetische Vollwaschung, am besten mit Amethrincreme, Bergkristallwasser und doppeltem Alttitansalz. Und nimm dazu meine spezielle Sondermischung Gravitationsstaub! Dann kann nix mehr schiefgehen, überhaupt nix! Meine Mischung wird dir auf dem Weg ins Licht die notwendigen Kräfte bringen. Ich kann dir die kostbaren Sachen besorgen, ü-berhaupt kein Problem. Musst du nur bei mir bestellen. Ich würde dir einfach die doppelte Menge reinpacken, die doppelte, weil ich weiß, dass du im Moment die doppelte Menge brauchst, gell´, Waltraud, einfach das Doppelte reinpacken, das Doppelte, für dich, meine liebe Waltraud, natürlich wie immer für dich zum halben Preis…

+ Keine ungeklärten Fragen – auf alles eine klare Antwort +

….und nachdem, was ich in der Kugel außerdem se-he… meine liebe Waltraud…

Ja, Frau Barbarusia?

… besitzt du bis zum Jahresende den Selbstheilungsmodus. Danach ist der Modus für den Rest des Lebens restlos aufgebraucht. Da brauchst du g-a-n-z dringend das neue Selbstheilungsstarterset, Waltraud, ohne das geht bei dir gar nichts mehr, ü-berhaupt nichts mehr, hörst du ü-berhaupt nichts! Gell´, meine liebe Waltraud. Dann schläfst du auch wieder besser. Das ist alles, alles kein Problem, da würde ich dir etwas abgeben von meinen privaten Reserven, einfach abgeben. Natürlich, nur wenn d-u willst… d-u wirst auch heute wieder bestellen. Ich weiß, d-u machst das! Etwas von meinem Privaten abgeben, Waltraud, gell´, von meinem wenigen Engelskontingent! Gebe ich gern, Waltraud… für dich… wegen Frank!

Frau Barbarusia, wann kommt mein guter Junge den nun zurück?

Die hochfrequenten supraleitenden Schwingungen aus der Kristallkugel lassen nach, aber Frank will, sagt er, dass du weiter für ihn sein Lieblingsessen machen sollst und dass du auf ihn warten sollst. Er sagt, er wird sich bei dir melden, das hat er mir soeben noch gesagt… nicht heute. Wann? Das weiß er noch nicht, aber an eurem Lieblingsplatz wird er sein, an dem ihr so gern gesessen habt, du weißt schon, du sollst in der Zwischenzeit in dich gehen… du weißt warum, sagt er… die Signale werden schwach… er sagt, er ist schon im Licht, er badet im Licht, seine Seele glänzt, er ist in einer glücklichen Situation, er erneuert sich ganzkörperlich… die transnistrischen Schwingungen in meiner Kugel lassen nach, Waltraud, ich kann unseren Energiestrom nicht mehr, nicht mehr aufrechterhalten, tut mir leid… tut mir, tut mir leid… die Verbindung ist abgebrochen… ich hö-re, blau, irgendetwas von einem blauen Fahrzeug…

Ein Moped? Bestimmt ein Moped, Frau Barbarusia, ein Moped, das wollte er schon immer, aber wegen der Prophezeiung, die Sie ihm gegeben haben… da habe ich´s versucht, zu verhindern. Können Sie das verstehen, Frau Barbarusia?

 

… blau, ein blau-es mit viel Chrom, Waltraud, das hat er eben gesagt!

Was sagt er noch! Was sagt mein Frank… an unserem Lieblingsplatz, der Gartenbank? Wann soll ich nochmal bei Ihnen anrufen, Frau Barbarusia? Was brauche ich alles für meine Selbstreinigung?

+ Bitten Sie Barbarusia um ihre kostbare Engelsenergie +

Waltraud, das Selbstreinigungsstarterset schicke ich Dir natürlich so schnell wie möglich zu, ich merke doch, dass du es dringend, g-a-n-z dringend brauchst. Eine kluge Entscheidung! Du spürst genau was du brauchst. Bleib´, bleib´ in der Leitung, wir nehmen nur schnell deine Daten auf. Setz Dich auf die Gartenbank, hat er mir eben noch gesagt, denke an ihn, hat er gesagt, brate Buletten mit ganz viel Estragon, hat er eben gesagt, denke über euch beide nach, du weißt warum. Warte auf der schönen, gemütlichen Gartenbank und kaufe das blaue Moped, kaufe es von seinem Geld, hat er noch zu mir gesagt. Stell´ das Moped neben die Gartenbank und warte, warte auf ihn, warte…dann wird alles gut!

+ Mit Barbarusia zur Reichtumsenergie +

Frau Barbarusia, wann können Sie wieder eine Verbindung herstellen? Geht es gleich jetzt nochmal? Bitte noch einmal!

Die Zeit ist schon wieder vorbei, Waltraud. Tschüssi, meine liebe. Dir alles Gute. Ich hoffe, ich konnte Dir auch heute wieder helfen. Tschüssi. Dir alles, alles Liebe, Waltraud!

+Barbarusia bringt auch Ihnen die Stimmen aus dem Jenseits direkt nach Hause+

Frau Barbarusia… ich bin´s… die Waltraud… Hallo…Hallo, ihre Waltraud, ihre Wal… Wal…?

Soweit mein Auge reicht

In dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen und stand müde und unruhig vor der gewohnten Weckzeit auf. Ich fuhr in die Kühlanlage der Schlachterei, in der ich seit über 45 Jahren fehlerfrei arbeitete, schaltete die Lichtanlage an und nahm das Fleisch für den Tag heraus. Vorsichtig begann ich das erste Schwein zu filetieren. Ich legte die Rippenbögen frei, trennte die Schulterteile ab und schnitt Lunge und Magen aus dem Bauchraum. An der Blase machte ich eine Pause. Für gewöhnlich machte ich an dieser Stelle immer eine Pause, bevor ich die weiteren Innereien behutsam herauslöste. An diesem Morgen genoss ich das Herauslösen der Innereien besonders, speziell der Blase. Ich hielt die blutverschmierte Blase in das Neonlicht, spülte sie lauwarm aus und tupfte die Wasserreste sorgfältig auf. Dabei schwitzte ich. Manchmal schwitzte ich so sehr, dass einzelne Tropfen von meiner Stirn auf die Blase oder gar in sie hineintropften. Das fand ich jedes Mal eklig, wahnsinnig eklig. Wenn das passierte, säuberte ich sie nochmals; eine schweißverdorbene Blase durfte ich auf gar keinen Fall in mein Haus bringen. Deswegen achtete ich an diesem Morgen besonders auf meinen Schweiß und tupfte, sobald ich ihn bemerkte gründlich mit meinen Fingern über die Stirn. Ich faltete die Blase und legte sie in meinem Taschentuch nach einem jahrelang erprobten Prinzip zusammen. Vorsichtig steckte ich das Taschentuch in die linke Hosentasche. Ich steckte die Blasen immer in die linke Tasche. Links und nur links; etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Warum ich das tat, wusste ich nicht, fühlte mich aber dabei wohl. In letzter Zeit tat ich immer häufiger das, was die Psychotante seit meiner Kindheit vorbetete: immer nur das zu tun, was mir Spaß macht.

Nachdem ich die Blase in die Hosentasche verstaut hatte, konnte ich das Arbeitsende kaum erwarten. Die Mittagspause verbrachte ich Zigaretten rauchend auf dem Werkhof. Ich zählte fingerhebend immer wieder die einzelnen Gehwegsteine, die ich vorher grübelnd nach einem bestimmten Ritual auf- und ablief. Wie an solchen Tagen üblich, konnte ich nur wenig essen und musste öfter als sonst die Toilette benutzen. Als mein Chef „Feierabend“ rief, fuhr ich nicht meinen täglichen Weg zur Kirche, sondern gleich nach Hause. Ich warf die Autotür zu ohne sie zu verschließen, öffnete hastig die Haustür, schielte mit einem flüchtigen Blick in den fast immer leeren Postkasten und rannte schnaufend in die obere Etage meines geerbten Elternhauses. Durch die Gardine sah ich hinüber auf das penibel gepflegte Grundstück meiner neugierigen Nachbarin. Diese Frau beobachtete mich seit meiner Kindheit mit halb zusammen gekniffenen Augen durch ihre immer gleiche ovale orangefarbene Hornbrille hinter einer Hecke stehend, beim Straßefegen oder beim Blumen verschneiden; zuerst mit ihrem meckernden Mann und, seit der endlich tot ist, allein. Neugierige Menschen konnte ich noch nie leiden, weder die Neugierde meiner Eltern, die ständig in meiner Abwesenheit mein Zimmer durchschnüffelten, noch die Neugierde meines neuen Chefs, der heimlich meinen Spind in meinen freien Tagen durchwühlt. Gegenüber der Neugierde der Nachbarin fühlte ich mich genauso machtlos, wie damals gegenüber den Schnüffeleien meiner – endlich verstorbenen – Eltern oder meines – immer noch lebenden – Chefs. Mit einem Ruck zog ich die Jalousie herunter und blickte noch einmal kurz durch die Lamellen. Da mir die Erinnerung an die Vergeltungsaktionen gegen die Neugierigen unangenehm war, legte ich mich auf den Fußboden. Ich streckte die Arme und Beine erst in die Luft und danach auf dem Fußboden auseinander und hauchte, wie von meiner Psychotante empfohlen „Mir geht`s gut!“, in den Raum. Langsam schob ich meine Hand in die linke Tasche und holte vorsichtig das Taschentuch heraus. Ich spürte wie die Wärme von meinen Beinen in den Kopf strömte. Ich hielt das Taschentuch in die Luft, drückte dem Stoff einen lang gezogenen Kuss auf, legte ihn auf meinen Körper und atmete tief ein und aus, dass mein Bauch sich wölbte und zusammenzog. Mit einem Schwung stand ich auf und legte das Taschentuch exakt in die Mitte des Tisches. Ich zog die kleine silberne Spülschale unter dem Tisch hervor, nahm die Konservierungsmittel aus dem Wandschrank, holte das dazugehörige Sezierbesteck aus dem Kunstlederköfferchen, stellte die OP-Lampe auf den Tisch, setzte meine beleuchtete Lupenbrille auf und richtete den Lichtstrahl auf das Taschentuch. Als wollte ich mein tägliches Nachtgebet sprechen, legte ich meine Hände ineinander und kniff danach die Finger so fest zusammen, dass sie zu schmerzen begannen. Ich faltete das Taschentuch auseinander und tupfte meine verschwitzte Stirn sauber. Ich nahm das Besteck und begann die Blase lehrbuchmäßig zu konservieren. Prüfend hielt ich sie immer wieder zwischen den einzelnen Handgriffen in das starke Licht der OP-Lampe und begutachtete aufmerksam die Äderchen, die die Haut überzogen. Eine schadhafte Blase durfte ich auf keinen Fall in meinem Haus haben. Auf gar keinen Fall. Meine Blase musste perfekt sein.
Nachdem ich mit der Konservierung fertig war, umwickelte ich die Blase mit einer Angelsehne. Ich nahm die Leiter aus dem Schrank und stieg fünf Stufen hinauf ich hob die Blase feierlich nach oben und hängte sie an die Decke. Dabei rief ich „Wunderschön! Einfach Wunderschön!“. Es war der letzte freie Platz in meinem Kinderzimmer. Der allerletzte. Endlich! Ich sprang von der Leiter, knipste die farbige Lichtanlage an und stellte mich mit geschlossenen Augen in die Mitte des Raumes. Ich genoss den Gedanken an den Moment in dem ich alle alabasterfarbenen Blasen beleuchtet sehen konnte. Ich blinzelte und öffnete, weil ich es einfach nicht mehr aushielt, die Augen. Ich hielt die Hände wie mein geliebtes Vorbild, Johannes Paul, nach oben und freute mich über den wunderbaren Anblick. Es war wie in der Tropfsteinhöhle, als ich meine Eingebung hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur deswegen Metzger geworden, ich bin nur Metzger geworden, weil ich mich damals in einer Tropfsteinhöhle verlief. Heute war mir diese Frage völlig egal. Heute waren mir alle schlechten Träume der letzten Jahre, die mir Nacht für Nacht Sorge bereiteten, unwichtig. Ich glaube, ich war glücklich. Vielleicht war ich so glücklich wie nie in meinem Leben. Obwohl ich wusste, wie viele Blasen an der Zimmerdecke hingen, begann ich sie laut und in die Länge gezogen zu zählen. Feierlich sprach ich die einzelnen Zahlen. Erst als ich bei der letzten Blase angelangt war und leise die Zahl „Sechshundert“ zählte, beruhigte ich mich etwas. Ich legte mich wieder auf den Fußboden und spreizte Arme und Beine. „Sechshundert“, flüsterte ich schläfrig, dabei streckte ich die Finger zur Zimmerdecke. „Sechshundert“, flüsterte ich kaum hörbar und drehte mich auf die Seite. „Fünfhundertsiebenundneunzig Schweineblasen soweit das Auge reicht!“
Ich spürte, an diesem Abend musste ich irgendetwas Besonderes anstellen, etwas völlig Außergewöhnliches, irgendetwas, zum Beispiel endlich wieder einmal ins Kino gehen und danach Pizza essen oder ein kleines Bier trinken. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es aussehen würde, wenn Schweineblasen von der getäfelten Zimmerdecke hingen, wenn Schweineblasen im teppichausgelegten Flur, in der marmorgefliesten Küche, wenn meine Schweineblasen überall im gesamten Haus an durchsichtigen Angelsehnen herunterhingen. Zum ersten Mal empfand ich kein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken das Haus in eine große, dunkle, kalte Tropfsteinhöhle zu verwandeln.

Wieder stellte ich mir die Frage, warum die zwei Nächte in der Tropfsteinhöhle eine Strafe Gottes auf mein sündenbehaftetes Leben gewesen sein soll und ob meine Eltern und auch der Nachbar aus der Kirchgemeinde wirklich damit recht hatten.

Ich stieg noch einmal die Leiter hinauf und schlug auf die ersten drei Blasen und fluchte: „Von Dir, von Dir und von Dir lasse ich mich nicht mehr einsperren!“

Die Sprachspielerin

Noch in der Hängematte sitzend, überlegt die Sprachspielerin, welche ferne Kultur sie sich für den Sonntag ausdenken möchte. Wahllos plappert sie Lautgebilde in verschiedenen Tonlagen ineinander und übt die dazugehörige Gestik und Mimik. Ist sie damit fertig, klettert die Sprachspielerin aus der selbst geflochtenen Schlafschaukel zwischen den deckenhohen Papppalmen herab und denkt sich die dazu gehörige Speise aus. In ihren großen Töpfen rührt sie die Zutaten zusammen und übt nebenbei ihre frisch erfundene Wochenendsprache.

Wird es Abend, holt sie die passende Verkleidung aus dem Schrank, schminkt sich ausgiebig, zieht eine ihrer unzähligen Perücken über den Kopf und steckt farbige Ringe und Armbänder an. Als fremdländische Besucherin stolziert sie für alle geschwätzigen Nachbarn gut sichtbar langsam auf der Treppenanlage des ererbten Elternhauses auf und ab. Wie in ihren Kindertagen stolpert sie scheinbar hilflos die dunkel werdenden Straßen entlang. Kommt sie außer Puste an die Haltestelle, greift sie sich ans gepuderte Doppelkinn oder kratzt ihr grau meliertes kurzes Haar unter der Perücke. Geräuschvoll reibt sie mit den vielberingten Fingern an der Glasfläche des Fahrplanes. Spricht sie einer der Wartenden an, verneigt sie sich verlegen und beginnt im gekünstelten Tone hastig zu stottern. Im grammatikalisch falschem Deutsch fragt sie nach dem Weg zum Krankenhaus in dem sie arbeitet, erkundigt sich nach der Stadt in der sie seit ihrer Geburt wohnt oder nach dem Flugplatz, den sie noch nie benutzt hat und auch niemals zu betreten beabsichtigt. Generös öffnet sie ihre große Handtasche und holt selbst gestaltete Geldscheine heraus, die stets bei sich trägt. Für jede Antwort verschenkt sie einen bunten Schein. Wortlos steigt sie in die Bahn, winkt den Wartenden mit einem Lächeln zu und fährt davon.

Gelangt die Sprachspielerin am Sonntagabend zur Tatortzeit ins Krankenhausgelände, klopft sie ans Fensterchen des Pförtners und begrüßt ihn mit ihrer eigens entwickelten Wochenendsprache. Sie übergibt ihm Zettel mit Vokabeln oder Grammatikübungen und erklärt ihm geduldig die von ihr neu entwickelten orthografischen Finessen. Es gibt Mitarbeiter die immer wieder behaupten, dass die fremdländische Besucherin nur dann nachts in Erscheinung treten soll, wenn der Pförtner einen seiner seltenen Wochenenddienste leistet. Hat die Sprachspielerin dem Pförtner ihr frisch erfundenes Land und ihre Verkleidung für den Abend ausführlich erklärt, wartet sie bei einem Pott schwarzem Tee und liebevoll verziertem Gebäck der Pförtnersfrau bis es im Turm des Mutterhauses endlich Zehn schlägt. Verlässt der Spätdienst die Stationen und klettert der Belieber am herabgelassenen Betttuch einer ungeduldig wartenden Schülerin ins Schwesternwohnheim hinauf, nimmt die Sprachspielerin den Schlüssel von der Wand und schließt die nach Reinigungsmittel riechende Wäscherei auf. Unbemerkt schleicht sie an der Besungenen vorbei, die Liebeslieder vor sich hinträllert und unentwegt in den meterhohen Haufen der verschmutzten Patientenwäsche nach Nachrichten wühlt, die an sie gerichtet sein könnten. Mitleidig schüttelt die Sprachspielerin den Kopf, stellt sich in den Fahrstuhl und fährt ins Dachgeschoss. Dort beginnt sie ihre Route, die sie immer nur zur Sonntagnacht absolviert. Sie schlüpft in dunkle Zimmer und unterhält sich mit Patienten über ihr fernes Land. Meist reicht sie ihnen eine angeblich landestypische Speise oder Wunder wirkende Essenzen seltener Kräuter in alkoholischen Auszügen. Dabei führt sie ihnen die mitunter sehr merkwürdigen Sitten und Gebräuche ihrer unbekannten Kultur vor oder massiert sie nach jahrtausendealten und absolut bewährten Heilmethoden. Immer wieder wird auch von unglaublichen Begebenheiten in den dunklen Patientenzimmern berichtet. Regelmäßig kommt es am darauf folgenden Morgen vor, dass sich Patienten für die schmackhafte Speise wortreich beim ungläubigen Koch bedanken. Einige der Patienten humpeln noch vor dem Frühstück in die Krankenhausbibliothek um in dicken Bildbänden nach dem unbekannten Land zu blättern. Und berichten Patienten zur Visite voller Freude von wilden Nächten und betteln sie im Anschluss nur noch von der unbekannten Nachtschwester gepflegt zu werden, verordnet der Stationsarzt umgehend Psychopharmaka und weist sie in die geschlossene Abteilung ein.

Seilt sich bei Sonnenaufgang der Belieber am Betttuch einer frisch abgeliebten Schülerin hinab und zieht die von ihm Beliebte seufzend das zerknitterte Laken wieder herein, beendet die Sprachspielerin abrupt ihren Rundgang. Sie schleicht durch den dunklen Keller zurück zur Wäscherei an der nun eingeschlafenen Besungen vorbei. Wieder erinnert sie sich, dass sie eine eigens verfasste Nachricht für die Besungene mitbringen und in den schmutzigen Wäschehaufen verstecken wollte. Mit dem ehrlichen Wunsche, diesen Vorsatz am kommenden Sonntag auf keinen Fall zu vergessen, schließt sie leise die Tür ab und eilt zum Pförtner. Sie hängt den Schlüssel an das Wandbrett und gibt ihm einen dicken Kuss für seine treue Verschwiegenheit. Sie nimmt die von ihm frisch ausgefüllten Übungsblätter entgegen und rennt zur Straßenbahnhaltestelle. Findet sie auf der Heimfahrt einen der Fahrgäste unsympathisch oder will sie dessen Platz in der überfüllen Bahn ergattern, rempelt sie ihn an und beschwert sich in ihrer Wochenendsprache laut über ihn. Aufgeregt verlangt sie den Ausländerbeauftragten oder gar die Polizei. Und nur wenn der Betreffende sich entschuldigt, setzt sie sich an dessen nun leeren Platz und knabbert geräuschvoll die von der Pförtnersfrau aufwendig verzierten Plätzchen. Danach schläft sie erschöpft ein. Kommt der schüchterne Kontrolleur vorbei und fleht er sie an, ihm doch endlich einen gültigen Fahrschein vorzuzeigen, plappert sie wieder so lange auf ihn ein, bis er auch an diesem Morgen heulend von ihr Abstand nimmt und beschämt die Bahn verlässt. Gähnend schaut sie dem Flüchtenden aus dem werbebeklebten Fenster hinterher.

Kommt sie zuhause an, setzt sie sich an den Frühstückstisch und isst die Reste der zubereiteten Patientenspeise. Mit fettigen Fingern blättert sie neugierig in den dicken Reisekatalogen, ohne jedoch den Wunsch zu verspüren jemals selbst eine der dort angebotenen Reisen antreten zu wollen.
Pünktlich zum Montagmittag fährt sie mit ihrem kaputten Fahrrad und in studentisch wirkender Verkleidung in die nahe gelegene Universität. Mit einem gut gefälschten Semesterausweis geht sie zu verschiedenen Vorlesungen. In der Mensa erklärt sie ausschweifend und unter Tränen dumm fragenden Studenten ihre frisch erfundene Heimat, die leider vom Rest der Welt immer noch nicht diplomatisch anerkannt wurde. Bei Seminaren, in denen sie eifrig mitdiskutiert, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass Professoren resigniert die Kreide nach ihr warfen. Das hält sie aber überhaupt nicht davon ab, weiterhin zu ihren Sprachspielen ausführliche Hausarbeiten zu verfassen und namenlos in die überfüllten Postfächer der Professoren zu legen. Und sie ist mehr als zufrieden, wenn es eine ihrer unzähligen Arbeiten schafft, Gegenstand von Diskussionsrunden zu werden.

Kommt die Sprachspielerin am Abend ins leere Elternhaus zurück, holt sie eine Flasche Wein aus dem gut sortierten Weinkeller. Sie bürstet die unscheinbare Robe für den langweiligen Rezeptionsdienst aus, den sie seit Jahren in der Aufnahme des Krankenhauses unauffällig absolviert. Lustlos bügelt sie über das weiße Hemd, putzt die schwarzen Schuhe und steckt das messingfarbene Namensschild verkehrt herum an das Revers.
Angetrunken erklimmt sie mühsam die Papppalme und lässt ihren kräftigen Körper mit einem Tarzanschrei in die Hängematte fallen. Sie rollt sich zusammen und denkt an die schönen Stunden die sie mit dem Belieber in ihrem selbst gebauten Urwald erlebt hat. Sie schließt die Augen und bastelt weiter an der betörenden Liebessprache, die es dem Angesprochenen unmöglich machen soll, der Erzählenden zu widersprechen. Und sie weiß sehr genau, wem sie mit diese Sprache zuerst wehrlos machen wird. Damit es auch weiterhin ihr Geheimnis bleibt, tastet die Sprachspielerin in einen der vielen Beutel, holt ein breites Pflaster heraus und drückt es auf die plappernden Lippen.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er die Hände ineinanderschlagen und antworten, dass es ihm bei aller Mühe immer noch nicht gelungen sei, herauszufinden, warum sie zu DDR-Zeiten keine Abiturprüfungen ablegen durfte. Nachdenklich würde er sich am Hals kratzen und flüstern, dass ihr Spiel spätestens nach seiner Pensionierung auffliegen wird.

Der Damalige

Der Damalige weiß ganz genau, wie es früher zuging. Deswegen kauft er vereinzelt vorhandene Vorräte aus alten Lagerbeständen und liest politische Bücher von Verlagen vergangener Zeiten.

Springt der Damalige von der durchgelegenen Feldliege auf, schiebt er zu Beginn des Tages eine Kassette mit zackiger Militärmusik in den Radio-Recorder oder legt eine Schallplatte mit beliebten Schlagern aus der guten alten Zeit auf den Plattenspieler. Er marschiert ins Bad, putzt die Zähne mehrere Minuten mit Elkadent-Creme, wäscht seinen schlanken Oberkörper mit Nautic-Seife und rasiert über den kaum vorhandenen Bart mit dem stumpfen bebo-sher-Gerät. Im Laufschritt rennt er ins Zimmer zurück, zieht das weiße Turnhemd mit dem aufgenähten Staatsemblem an und hebt schwere Hanteln für die Körperertüchtigung. Von den Übungen hellwach, setzt er sich an den Frühstückstisch und liest die Junge Welt und das Neue Deutschland. Und bis auf den Wetterbericht glaubt er seinen Zeitungen jede darin abgedruckte Nachricht. Er isst Burger-Knäckebrot mit Nudossi-Brotaufstrich, knabbert Filinchen mit Fruchtmarmelade und schlürft zwei große Tassen Trink-Fix. Tagesgestärkt verlässt er die Wohnung und stolziert einmal um den ungepflegten Innenhof des Wohnblockes. Feierlich stellt er sich vor der verrosteten Teppichstange auf und entrollt die Flagge der Internationale. Mit viel Mühe bläst er die Trompete. Werden die Fenster geöffnet, rennt er zur nahe gelegenen Garagenanlage. Ist sein Motorroller wegen fehlender Einzelteile wieder zerlegt, eilt er im Stechschritt und viel zu spät die Straßen entlang bis zur Krankenpflegeschule. Sieht er den Pförtner am Schlagbaum stehen, geht er ihm so weit als möglich aus dem Weg. Kann er ihm nicht entweichen, winkt er ihm verlegen den Sozialistischen Gruß entgegen. Hört der Pförtner diese Worte, ruft er den Damaligen einen ahnungslosen Spinner, eine elende rote Socke oder einen völlig verwöhnten Westbalg. So als würde er die Beleidigungen des Pförtners nicht mitbekommen, spurtet der Damalige schnellen Schrittes ins Klassenzimmer. Und obwohl er weiß, dass die anderen Pflegeschüler seit Jahren von seinem übertriebenen Kollektivgefühl genervt sind, grüßt er auch sie mit einem zünftigen Kammeradengruß. Verpetzt ihn ein Schüler deswegen bei der Mutter Oberin, beschimpft er ihn als üblen Vaterlandsverräter und rührt ihm das Abführmittel Regulax heimlich ins Essen. Gibt ihm hingegen eine ältere Krankenschwester Tipps für die Grundpflegeprüfung oder flüstert ihm die Lehrerin Informationen ins Ohr, dass eine junger Kollege eine Leistungskontrolle anstrebt, lobt er die Frauen gönnerhaft als beherzte Agentinnen der gerechten Sache, schenkt ihnen abgelaufene Schlager-Süßtafeln und Märchenriegel oder legt ihnen verbeulte Medaillen in die Taschen und Mäntel. Einmal in der Woche wartet der Damalige als selbst ernannter Gruppenratsvorsitzender bei Club-Cola und Rotgardistenmusik im Keller der Krankenpflegeschule vergebens auf Neumitglieder für die von ihm gegründete FDJ-Gruppe. Und er ist sehr stolz, einer verfassungsfeindlichen Vereinigung anzugehören, die nichts weiter zum Ziele hat, als das Lebensglück aller Menschen zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wird gemunkelt, dass er einen Fluchtkoffer im Krankenhaus und einen in der Wohnung bereithält.

Hat der Damalige wieder handgeschriebene Zettelchen mit Zitaten aus dem Kommunistischen Manifest auf Stühle, in Gesangsbücher oder gar auf den Altar in der Kapelle angeklebt und will ihn die Oberin deswegen bestrafen, schickt sie ihn von Station zu Station und lässt ihn lästige Botengänge verrichten sowie Schwerkranken Gottes gütige Worte verkünden. Im Namen des Auftrages geht er eifrig mit der Bibel unterm Arm die langen Flure entlang und ballt die Ernst-Thälmann-Faust für jedermann gut sichtbar zum Gruß. Und so mancher ältere Patient steht bei diesem Anblick stramm oder schiebt erschrocken das Gehbänkchen in die Ecke und erleidet einen schweren Herzanfall. Sieht der Damalige auf dem Rückweg ins Klassenzimmer in den überfüllten Warteräumen Patienten in gut erhaltener Ost-Originalkleidung sitzen, schleicht er mehrfach um sie herum, verstrickt sie in wortreiche Gespräche und begleitet sie mit allerhand freundlichen Hilfereichungen ins Patientenzimmer. Bettelnd verfolgt er sie anschließend in den Garten und dreht mit ihnen Runde um Runde bis sie sichtbar entnervt das gewünschte Kleidungstück vor ihm stehend ausziehen und frierend übergeben. Seit Neuesten wird wiederholt von Fällen berichtet, dass auf der Intensivstation Malimo-Bademäntel spurlos verlorengingen.
Steht der Damalige in der Kantine und hört er den Kassierer am Buffet aufgeregt seine wirren Wahrheiten an die neugierige Mitarbeiterschaft verteilen, unterbricht er ihn ungeduldig und fragt im forderndem Tone nach nahrhaften Ostspeisen. Verneint der Kassierer das Anliegen, oder meint er, dass er diese Speisen gar nicht kenne oder fragt er misstrauisch ob sie überhaupt genießbar seien, nennt der Damalige ihn vor allen Anwesenden empört einen hundsgemeinen, hinterhältigen Konterrevolutionär. Tags darauf kann man den Damaligen beobachten, wie er ihm mit Duosan-Rapid die Kasse verklebt oder den Sitz mit Chemisol-Kleber einreibt.

Geht der Damalige nach einem anstrengenden Kampftag mit geschwellter Brust aus der Krankenpflegeschule, rennt er zu einer der unzähligen Haushaltauflösungen, stürmt die Treppenanlage zur Wohnung des Verstorbenen empor, drängelt sich zwischen all den anderen Interessenten nach vorn und ersteigert ungesehen die Altbestände, um auch diese wertvollen Produkte des Sozialismus vor der Müllkippe zu bewahren. Sieht er auf dem Weg dorthin ein ehemals messeprämiertes Glasserie-oder Gastronomiegeschirr aus einer seltenen Herstellungsreihe in der Auslage eines Geschäftes, stürzt er erregt hinein. Minutenlang drückt er die kostbaren Stücke an die Brust, dreht sich euphorisiert im Kreise und küsst oder streichelt sie fortwährend. Begeistert verwickelt er den verdutzten Verkäufer in leidenschaftliche und ellenlange Fachgespräche. Und so manches Mal hat er dabei dem im Nachhinein verärgerten Verkäufer eine museumsreife Rarität zum Selbstkostenpreis abgeschwatzt. Hat er das Gesehene vom gestohlenen Geld aus der Brieftasche eines Privatpatienten gekauft, läuft er im Marschschritt nach Hause und stellt es wie eine Karl-Marx-Büste in eine der wenigen noch freien Ecken oder Regale. Sodann setzt er sich an die Erika-Reiseschreibmaschine, zündet sich eine Duett-Zigarette nach der anderen an und arbeitet den Stapel unzähliger Beschwerden sorgfältig ab. Geduldig schreibt er ausführliche Änderungsvorschläge an die Intendanten der ARD, wenn für längere Zeit keine Schwarz-Weiß-Filme vom Fernsehfunk der DDR gezeigt wurden. Empört verfasst er leidenschaftliche Appelle an verschiedene Westfirmen, wenn diese wieder die Produktion einer beliebten Ostware einstellen. Und manchmal schreibt er auch bitterböse Proteste an die Stadtverwaltung, wenn sie seiner Meinung nach wieder völlig zu Unrecht den Straßennamen eines verdienten Stalinisten ändern. Sind die Briefe verfasst, beendet er sie stets mit sozialistischen Grüßen und klebt alte Briefmarken darauf. Danach setzt er sich an den Rechner und sucht fieberhaft im Internet nach Jahressätzen des Neuen Deutschland und der Jungen Welt. Um sich von der Fleißarbeit zu erholen, kocht er zwei Tassen starken Rondo-Kaffee in der Kaffeeboy-Maschine, gießt Bitterlemon ins Limonadenglas und legt eine Dokumentation über die großen sozialen Erfolge der DDR in den Videorecorder. Zufrieden schläft er bei den Sozialistischen Erfolgen über flächendeckende Kindertagesplätze, medizinische Versorgung und das Wohnungsprogramm auf der Doppellbettcouch Dagmar als zukünftiger Staatsratsvorsitzender ein. Weckt ihn die Kuckucksuhr, zieht er sein blaues FDJ-Hemd über und legt den Stapel liebevoll gefertigter Handzettel mit den vielen Vorteilen einer neuen DDR in den dicken Armee-Rucksack. Wahllos verteilt er sie auf Straßen und Plätzen und vor Schulen an verdutzte Passanten und an die neugierige Schülerschaft.
Kommt er nach der Agitation über eine sozialistische Zukunft erschöpft nach Hause, zieht er die Jesuslatschen aus und badet stundenlang mit einem Pionierlied auf den Lippen in Badusan. Läuft am Abend ein beliebter Fernsehfilm der DDR, lädt er seine Freundin oder gleichgesinnte Genossen in die vollgestellte Wohnung ein. Im Wohnzimmer lümmeln sie auf der breiten Sesselgarnitur aus dem Politbüro, kochen Gulasch mit Makkaroni in Töpfen aus dem Kulturministerium, trinken Sekt aus Gläsern vom Amtssitz der Staatsicherheit und naschen Gebäck aus Glasschalen von Wandlitz. Gemeinsam sehen sie begeistert die künstlerischen Leistungen der verstorbenen Schauspieler und knabbern Unmengen Knusperflocken und Halloren-Kugeln.
Beschläft der Damalige nach solch einem Abend seine Freundin auf der ehemaligen Ruheliege von Erich Mielke, flüstert er ihr als Ansporn zu höheren Liebesleistungen Kampflosungen aus dem Vaterländischen Kriege abwechselnd in die Ohren. Darf sie irgendwann nach den vielen Losungen endlich eingeschlafen, verlässt er auf Zehenspitzen und in voller Kampftruppenmontur die Wohnung. Geübt schraubt er Straßenschilder von Geächteten über neue Namen, führt stolz Kontrollen an Kreuzungen durch, inspiziert Autokinos oder entrollt Transparente mit SED-Parolen auf alterschwachen Dächern. Ab und zu setzt er sich auch in Gaststätten und belauscht begierig die konsumkritischen Meinungen der Anwesenden ab. Und bis weit nach Mitternacht notiert er eifrig deren Gedanken über den im Absterben befindlichen Kapitalismus in seinen knallroten Schulhefter.
Kommt der Damalige mit der unerschütterlichen Gewissheit für die gerechte Sache unterwegs zu sein wieder in den verschmutzten Wohnblock, wirft er die tagesgenaue Junge Welt und das Neue Deutschland in den kaputten Briefkasten. Er schleicht in die Wohnung, stellt den Ruhla-Wecker und legt sich neben seine Freundin. Dankbar steckt er ihr einen seiner zahllosen Orden an das Nachthemd. Neben ihr liegend, überlegt er beim Schimmer des Metalls ob es nicht an der Zeit wäre, eine neue Einheitspartei zu gründen. Er schließt die Augen und ist sich sicher, dass die sozialistische Idee niemals untergehen darf. Um das zu verhindern, ist er aus der Wohngegend seiner reichen Eltern mit den nörgelnden Nachbarn zu den Ausgestoßenen des Kapitalismus gezogen. Außerdem hat er seine Wohnung liebevoll mit Alltagsgegenständen aus der DDR vollgestellt, damit diese ihn immerzu an den großen Traum der Menschheit erinnern.
Fährt der Damalige in den Ferien endlich in den Urlaub, wandert er zum Verdruss seiner Freundin, den antifaschistischen Schutzwall mehrfach auf und ab, steigt begeistert auf Armeekontrolltürme oder spielt leidenschaftlich Passkontrolle an einem der vielen verlassenen Grenzübergänge.

Würde man den Pförtner nach dem Damaligen befragen, würde er die rechte Hand zur Faust ballen um sie danach flach über den nicht vorhandenen Scheitel zu wischen. Anschließend würde er an der Oberlippe kratzen und im oberösterreichischen Dialekt aus dem Kapital zitieren. Weiterhin würde er mit nicht ernst gemeinter Stimme versprechen, die gestohlenen Teile aus dem Pitty-Motorroller reumütig wiederzugeben.

Die Besungene

Hört die Besungene die ersten Töne aus dem kleinen Radiowecker, dreht sie sich auf ihrem durchgelegenen Schlafsofa müde auf die Seite. Sie schielt auf die blinkende Leuchtziffernanzeige und vergleicht die Zeit mit der auf dem Ziffernblatt ihrer ramponierten Armbanduhr. Hat sie sich von der Richtigkeit der Zeitangabe überzeugt, löst sie die Armbanduhr vom Handgelenk und schiebt sie unter das Kissen. Gähnend zieht sie die Wolldecke weit über den Kopf und massiert im Halbschlaf ihre Waden. Ist sie an den Füßen angelangt, tastet sie behutsam über die vielen schmerzenden Stellen auf den Fußsohlen. Wird dabei im Radiowecker ein Liebeslied gespielt, träumt sich die Besungene unter der dicken Decke liegend, in das Schicksal der Besungenen hinein. Erschrocken hält sie den Atem an oder drückt die zierlichen Hände kichernd auf ihre schmalen Lippen oder die immer noch faltenfreie Stirn. Voller Mitgefühl beginnt sie zu weinen und reibt die Augen rot.

Kommt die Besungene endlich unter der Wolldecke hervor, schleicht sie ins Bad, zieht ihr vollgeträntes Nachthemd aus und sucht einen leeren Platz auf der Leine, die sie spinnennetzartig über die Badewanne gespannt hat. Noch in tiefer Trauer befindlich, schlurft sie zurück ins Schlafzimmer, stellt sich mit gebeugtem Rücken vor den Spiegel und betrachtet ihr verheultes Gesicht. Will sie ihr Gesicht nicht mehr sehen, öffnet die Besungene die Türen des Kleiderschrankes und macht sich für den Tag zurecht. Dabei orientiert sie sich stets am Text des ersten Liedes. Wählerisch wühlt sie in den Stapeln der Regalfächer und Schubladen. Wurde im ersten Lied von einem glücklichen Ausgang der Liebenden gesungen, tanzt die Besungene in einem dünnen Sommerkleid aus schimmerndem Stoff vor dem Spiegel und dreht sich selbstverliebt um die eigene Achse. Hatte hingegen einer der Verliebten ein tödliches Ende gefunden, zieht sie schweigend einen schwarzen Hosenanzug an und tupft sich fortwährend Tränen aus dem verweinten Gesicht. Ist sie endlich angekleidet, schließt sie die Schranktür mehrfach ab und versteckt den Schlüssel in einen der unzähligen Kartons unter dem durchgelegenen Schlafsofa. Anschließend geht sie in die kalte Küche und trinkt ein Glas Cranberrysaft oder schlürft angewidert an der Zitronenlimonade.

Auf dem Weg zur Arbeit durchlebt die Besungene immer und immer wieder das gehörte Lied. Oft schüttelt sie heftig den Kopf und überlegt, wie sie das Unfassbare zu einem guten Ende hätte führen können. Hat ihr hingegen der Text gefallen, pfeift sie aufgeregt auf ihrem Stuhle sitzend das Liebeslied. Sie winkt den vorbeieilenden Passanten freundlich durch das Straßenbahnfenster und schwelgt sich in die starken Arme des Sängers hinein. Dabei reibt sie ihre blonde Zopffrisur am Fensterglas oder am Kopf des verdutzten Vordermannes oder der kreischenden Vorderfrau. Und mehr als einmal hat sie wegen der starken Arme die Haltestelle verpasst und eine ernste Ermahnung von der Wäschereileiterin erhalten.

Schon von weitem erkennt der Pförtner den Inhalt ihres Morgenliedes. Steht sie in Tiefschwarz vor ihm, drückt er sie minutenlang fest an sich heran. Steht sie hingegen im grellen Gelb, im feurigen Rot oder gar in Azurblau an seiner Seite, verneigt er sich, nimmt ihre Hand und tanzt mit ihr um den herabgelassenen Schlagbaum. Danach öffnet er ihn, schreitet mit ihr feierlich hindurch und bringt sie höchstpersönlich bis an die Tür.

Kommt die Besungene in die dämmsige Wäscherei, wühlt sie zu Beginn ihres Dienstes den Stapel Mitarbeiterwäsche nach absichtlich abgelegten Zettelchen durch. Findet sie auch an diesem Tage wieder keine an sie adressierte Nachricht, sucht sie emsig in den Körben mit Patientenkleidung nach vergessenen Fotos, Handys oder anderen persönlichen Dingen. Manchmal wühlt die Besungene so unermüdlich in dem Berg verschmutzter Kleidung, dass sie die Pause vergisst und von der Leiterin an die Heißmangel strafversetzt wird. Nur widerwillig legt sie dort die Bettbezüge zusammen, nutzt jedoch jedes Mal die Möglichkeit, handgeschriebene Nachrichten in der gebügelten Wäsche zu verstecken. Mit der Morgenmusik auf den Lippen, belädt sie im Anschluss die Wäschekisten und fährt sie auf die Stationen. Sind die Mitarbeiter oder Patienten beim Frühstück, greift sie blitzschnell Fotos vom vollgestellten Schreibtisch der Schwestern oder den unaufgeräumten Nachttischen der Patienten. Herzklopfend stopft sie die Fotos in die Tasche oder die leeren Wäschekisten. Hat sie alle eingesammelt, geht sie auf die Nachbarstation, um auch dort unbeobachtet Fotos von gut aussehenden Männern an sich zu bringen. Hastig rumpelt sie mit den leeren Kisten die langen Gänge zurück, hinunter in die Wäscherei. Sie schließt sich auf der Toilette ein und holt die Taschenlampe und das Vergrößerungsglas aus ihrer Jackentasche. Mit großen Augen und offenem Mund betrachtet sie die mitgenommenen Männerportraits. Findet sie einen der portraitierten Männer unattraktiv oder meint sie zweifelsfrei zu erkennen, dass er zu keinerlei aufrichtiger Liebe fähig sei, zerreißt sie von ihm angeekelt das Foto und wirft es zerschnipselt in die Toilette. Empört zieht sie ihre Hose herunter, setzt sich auf die Toilettenbrille und presst sich notdürftig ein Geschäft ab. Und meist schläft sie darüber ein und holt für kurze Zeit einen Teil ihres fehlenden Nachtschlafes nach. Kommt die Besungene am Nachmittag nach Hause, geht sie in die Küche und reiht die eingeheimsten Fotos an der Mittelfalte des Leinentuches auf. In aller Ruhe betrachtet sie die Portraits und ordnet sie nach einer ihr unerklärlichen Wertigkeit. Ist sie mit der Bewertung fertig, liebkost sie gründlich jedes Portrait mehrfach ab. Akribisch notiert sie auf der Rückseite die erküsste Liebesfähigkeit und ordnet sie bestimmten Liedern oder Interpreten zu. Sorgsam steckt sie die Portraits in die unzähligen und nach Jahreszahlen beschrifteten Schuhkartons. Den persönlichen Tagesfavoriten hingegen schiebt sie in die große Sichtfläche ihrer Brieftasche oder legt ihn gut sichtbar auf den Nachttisch. Und so mancher Mitarbeiter behauptet beharrlich, die Besungene des Öfteren im Laden beobachtet zu haben, wie sie sich in die längere Warteschlange einreiht und das Kleingeld in der Brieftasche mehrfach mit einem Lächeln abzählt. Hat die Besungene endlich alle Fotos zugeordnet, steht sie zufrieden vom Küchentisch auf und wischt mit einem Seufzen über die Mittelfalte des nun leeren Leinentuches. Im Stehen isst sie schnell ein trockenes Brötchen und trinkt dazu heißen Kakao. Noch mit vollem Mund stellt sie die Tasse und den Teller in die Spüle, hebt den Stuhl auf den Tisch und schiebt ihn an den Schrank. Ungeduldig streift sie die glitzernden Hausschuhe ab und wirft sie in die Ecke. Sie lässt das Rollo herabsausen und hängt die bunte Diskoleuchte und die Lichtschlange ins Fensterkreuz. Leise schließt sie die Küchentür, löscht das Licht und schaltet das Radio an. Sie stellt sich auf die Stelle mit dem abgenutzten Linoleum und beginnt zu tanzen. Behutsam umgreift sie ihre Schultern und streichelt sanft über Ohren und Nacken und die immer noch schlanke Taille. Ohne sichtbare Müdigkeit träumt sie sich barfuß in die besungenen Schicksale hinein. Und bis weit nach Mitternacht hört die Besungene Lieder, die sie seit Jahren allesamt auswendig kann.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er gutmütig den Kopf schütteln und meinen, dass man der Träumerin einfach nicht böse sein kann. Außerdem würde er sagen, dass er selbst an seinen freien Tagen früh morgens noch vor ihrer Weckzeit bei verschiedenen Radiostationen anruft und romantische Liebeslieder bestellt.

Briefe & Falten

Aus dem Briefkasten fällt ein Umschlag. Ich klemme meine Einkäufe unter den Arm, bücke mich und erwische ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Ich wundere mich darüber, wie dick und weich er sich anfühlt. Ich lese meine Adresse und versuche von der Handschrift auf den Verfasser zu schließen. Meine Hausnummer wurde ausgebessert, aber wer sie falsch hin schrieb und dann korrigierte, erkenne ich nicht. Auf der Rückseite des Umschlags steht ein Wort. Ich kann nicht entziffern, welches. Es besteht aus unterschiedlich hohen Spitzen und Haken, es hat keine Ösen, keine Schlaufen, keine Kringel. Der Handschrift nach eine aggressive Person, denke ich und komme mir albern vor. Ich reiße das Kuvert auf, vorsichtig, an der Seite, damit das Wort auf dem Rücken keinen Schaden nimmt. Ohne den Brief auseinander zu falten erkenne ich an den sich auffächernden Rändern, dass er aus drei Bögen besteht, die von vorn und hinten beschrieben sind.

Ich freue mich darüber, einen Brief erhalten zu haben, zumal einen handgeschriebenen. Während ich die Treppen zu meiner Wohnung nach oben steige, versuche ich mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einen handgeschriebenen Brief erhielt. Bis zum zweiten Stock fallen mir nur Postkarten ein. Bis zum dritten Stock bin ich frustriert darüber, dass nur Rechnungen und Reklame in meinem Briefkasten landen. Dann denke ich wieder an die Postkarten und ärgere mich über meinen gewohnheitsmäßigen Frust. Bis zum vierten Stock nehme ich mir vor, mehr Postkarten zu schreiben, um im Gegenzug häufiger welche zu empfangen. Aber woher denn, denke ich im Fünften,  ich verreise doch so selten. Und an wen denn, denke ich dann, aber da erreiche ich meine Tür.

Ich schließe meine Wohnung auf und werfe meine Schlüssel in den Korb. Den Brief lege ich auf den Schuhschrank, mit der Anrede nach oben, das ist Zufall, wirklich. Die Einkäufe stelle ich auf den Boden und während ich meine Jacke ausziehe, erkenne ich, dass die Anrede auf meinen Namen endet und meinem Namen nur eine sehr kurze Grußformel vorangestellt ist. Als ich meine Schnürsenkel öffne, entschlüsselt mein Gehirn das kurze Wort. „Ach“, sage ich. „Ach“ und mein Name steht da, denke ich, und dann weiß ich, der Brief ist von dir. Niemandes Namen besteht aus so vielen Spitzen und Haken wie deiner: Vinzent.

Ohne mir vorher die Hände zu waschen gehe ich ins Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch. Während mein Rechner hochfährt, überlege ich wegen einer passenden Anrede. Ich finde „Ach“ sehr treffend, aber „Ach“ hast Du verwendet und außerdem ist es wehleidig. Während ich ein leeres Dokument öffne, frage ich mich, wie du darauf kommst, dass das bei mir ziehen könnte. Ich schreibe nur „Vinzent,“ und dann warte ich, bis mein Herz wieder langsamer schlägt als die Eingabemarkierung auf dem Bildschirm blinkt.

Ich schreibe:

„danke für Deinen Brief. Ich habe lange keinen Brief mehr erhalten, zumal keinen handgeschriebenen. Vielleicht wünschst Du dir eine handgeschriebene Antwort, aber die schreibe ich nicht. Weil ich es nicht gewohnt bin mit der Hand zu schreiben, bereitet es mir Schmerzen. Außerdem habe ich keine schöne Schrift. Deine Schrift ist auch nicht schön.“

Diesen Satz lösche ich wieder. Es geht nicht um Schönheit. Nicht mehr.

„Es ist komisch, dass ich mich über deinen Brief freue. Ich habe nämlich beschlossen, ihn nicht zu lesen.

In den letzten Tagen ist es mir einige Male gelungen, auf dem Nachhauseweg an Deinem Haus vorbei zu radeln, ohne dabei zu Deinem Fenster hinauf starren zu müssen, um zu sehen, ob du rauchst. Das ist ein Erfolg, denn ich nehme auf dem Nachhauseweg am Straßenverkehr teil und kann mir eine solche Unaufmerksamkeit nicht erlauben. Einmal wäre ich beinahe auf ein ausparkendes Auto aufgefahren und musste mich als Hans-guck-in-die-Luft beschimpfen lassen. Gestern habe ich zum ersten Mal fast nicht an Dich denken müssen. Es ist gemein von Dir, dass Du mir heute schreibst.

Ich habe mich wegen meines neuen Geruchs oft wie von einem Fremden bedrängt gefühlt in den letzten Wochen. Aber ich sah mich gezwungen, mein Deo zu wechseln, nachdem ich jahrelang ohne Erklärung geduldet hatte, dass Du das gleiche verwendest wie ich. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt und werde dabei bleiben.

In den letzten Wochen habe ich viel gefroren. Bis auf zwei Paar waren alle dicken Socken, die ich besaß von Dir gestrickt, weshalb ich mir verboten hatte, sie anzuziehen. Am nächsten Dienstag wird der Wäschekorb für die Kleidersammlung vor der Haustür stehen, dort werde ich sie hineingeben, der Sack ist gepackt und verknotet. Ich habe neue Socken inzwischen, die sind zwar nicht so schön bunt aber dafür kann ich sie auch im Büro tragen.

Wenn ich Deinen Brief lese und Du darin endlich erklärst, warum es ausgerechnet Konrad sein musste, könnte es sein, dass wir uns wieder vertragen. Dann wirst du mir vielleicht neue Socken stricken oder Schals. Eines Tages werde ich dann wieder frieren, das ist mir zu riskant. Abgesehen davon habe ich eine Aufstellung gemacht, die ergeben hat, dass die Vorteile des Endes unserer Freundschaft die Nachteile bei weitem überwiegen: Ich habe mehr Zeit zum Lesen. Und ich habe mehr Zeit zum Schreiben. Zum Beispiel fürs Tagebuchschreiben. Anders als Du merkt sich mein Tagebuch die Dinge, die ich ihm erzähle. Und es verwendet sie nicht gegen mich. Weder verschweigt es mir etwas noch erfindet es etwas dazu, das ich nie gesagt habe. Ich werde wieder an Dich denken müssen, wenn ich Deinen Brief lese, dabei gibt es so viel anderes, über das ich dringend nachdenken müsste, zum Beispiel darüber, was ich nun an Weihnachten mache. Wenn ich Deinen Brief lese, werde ich mich wahrscheinlich ärgern, weil Du mir wieder versuchen wirst weiszumachen, dass ich nicht erwähnt hätte, wie schön ich Konrad finde und ich will keinen krummen Mund vom Ärger. Am Schlimmsten wäre, wenn Du „Entschuldigung“ sagen würdest. Man kann nicht einfach so „Entschuldigung“ sagen. Man kann nur darum bitten.

Nach wie vor stört mich, dass Du in die gleiche Wohnung in der gleichen Etage auf der gleichen Seite wie ich gezogen bist, wenn auch sechs Häuser weiter. Aber ich werde Deinetwegen nicht umziehen.

Wenn ich Deinen Brief nicht lese, wird das Ende unserer Freundschaft meine Schuld sein. Wenn wir in einigen Jahren darauf zurückblicken – Du in deiner Wohnung und ich in meiner – werde ich derjenige sein, der die letzte Chance zur Versöhnung ungenutzt hat verstreichen lassen. Ich werde nicht wissen können, ob Du immer noch behauptest, das bisschen Mitdenken wäre zu viel verlangt gewesen. Ob Du mir wieder vorwirfst, dass ich Dir auch viel angetan hätte, ohne aber zu benennen, was. Vielleicht verpasse ich aber auch den historischen Moment in dem Dir eine Einsicht über die Lippen kommt. Ich habe schon manches verpasst, Konrad zum Beispiel, ich bin immer noch da, das halte ich aus.

Bestimmt, findest Du es feige und faul von mir, deinen Brief nicht zu lesen, aber feige und faul sein ist eine Überlebensstrategie, die sich in der Tierwelt sehr bewährt hat und ich mag Tiere. Außerdem war ich sehr fleißig, das Loch, dass Du hinterlassen hast, irgendwie zu stopfen. In den Lücken in meinen Bücherregalen leben jetzt beispielsweise Schwäne und Giraffen aus Papier. Aus deinem Brief ließe sich eine Schildkröte oder einen Fuchs falten, aber das kann ich noch nicht.

Jedenfalls kannst Du jetzt nicht einfach so zurückkommen. Und überhaupt kannst Du nicht zurückkommen. Weil es Dich, wie ich Dich dachte ja nie gegeben hat. Es wäre deshalb besser gewesen, Du hättest Deinen Brief an mich nicht abgeschickt. Den Fehler, der Dir mit der Hausnummer passiert ist, hättest Du als Zeichen lesen sollen. Ich kenne Deine Hausnummer leider noch genau. Aber meine Druckerpatrone ist leer, und ich werte das als eindeutiges Zeichen.

Als ich gefragt werde ob ich speichern möchte, klicke ich auf „Beenden ohne speichern“. Während ich meine Einkäufe ins Regal räume, beneide ich meinen Computer.

Herr Auskunft

Schon in der Aufwachphase überlegt Herr Auskunft noch in seinem flauschigen Bette liegend, welche Informationen er für den beginnenden Tag abgeben möchte. Er gähnt in die dicken Kissen und murmelt zusammenhangslose Worte in den Raum. Verschlafen dreht sich Herr Auskunft auf die Seite und spielt mit den Fingerkuppen sanft über die Lippen. Blubbern weitere Worte heraus, formt er sie zu Sätzen zusammen. Er legt sich auf den Rücken, öffnet die Augen und schiebt die Hände unter den Kopf. Seelenruhig durchdenkt er das Geblubber und vermengt es mit den verbliebenen Erinnerungsfetzen seiner nebulösen Nachtträume. Und nur, wenn wenigstens zwei reißerische Nachrichten für den Tag entstehen, verlässt er sein kuschliges körperwarmes Bett. Anderenfalls bleibt Herr Auskunft trotzig zwischen den vielen aufgestapelten Kissen liegen, greift zum Telefon, das in auf dem Nachttisch steht, verstellt die Stimme und meldet sich mit starkem Halsweh oder einem Fieberschub krank.

Auf dem Weg zur Arbeit streut Herr Auskunft erste Informationen in den Fahrgastraum der Straßenbahn. Will er deren Wirksamkeit prüfen, spricht er den genervten Fahrer, rumklapsende Schulkinder oder prahlende Jugendliche an. Haben sie ihm die Information abgenommen, unterfüttert er diese mit weiteren Details. Dabei studiert er aufmerksam die Reaktion der Zuhörer. Konnte er sich einen ersten Eindruck über die Wirkung seiner Nachrichten verschaffen, verlässt er hastig den Wagon und eilt in den zweiten und dritten, um auch dort seine Nachrichten unter die müden oder morgenschwatzenden Fahrgäste zu bringen.

Gelangt Herr Auskunft nach der vielen Rumfahrerei endlich an die Krankenhauspforte, versucht er auch dem sprachfaulen Pförtner eine seiner vermeintlich heißen Nachrichten zuzuflüstern. Dieser schüttelt meist ungläubig den ergrauten Schopf, kratzt sich demonstrativ an der faltigen Stirn oder puhlt mit beiden Händen gleichzeitig in den abstehenden Ohren. Misswillig winkt er den säuselnden Herrn Auskunft unter der geschlossenen Schranke hindurch. Erscheinen ihm jedoch die Informationen absolut abstrus, öffnet er mit einem breiten Lächeln den Schrankenbaum und verbeugt sich. Und während Herr Auskunft versucht darunter hindurch zu schlüpfen, schließt der Pförtner die Schranke.

Mit einer Beule am Kopf schleicht er in den Umkleideraum der Kantine. Dort erzählt er, seinen Hinterkopf reibend, beiläufig Neuigkeiten über eine bevorstehende Scheidung oder das Verschwinden von Kindern beliebter Mitarbeiter, den Ruin eines vermögenden Chefs und dessen logischen Freitod. Sind die Kollegen davon gesättigt, eilt Herr Auskunft zufrieden in die Küche, schneidet den bereit liegenden Berg Brötchen auf und schmiert sie schnell mit Butter, Wurst und Käse. Hastig sortiert er das Frühstückbuffet in die Auslage und wartet auf den Zehen wippend ungeduldig an der Kasse auf die ersten hungrigen Mitarbeiter. Kommen diese mit knurrendem Magen an sein Buffet, rechnet er deren Einkauf langsam und in aller Ruhe ab. Meist muss er die angeblich abgelaufene Abrechnungsrolle wechseln, wegen vermeintlicher Rückenschmerzen seinen Stuhl anders ausrichten oder seine schwitzende Stirn unter Stöhnen abtupfen. Die Zeit nutzt er vor den Wartenden selbstredend um von einer Kündigungswelle, einer Totalpleite des Unternehmens und unausweichlichen Lohnabschlägen leidenschaftlich zu berichten. Stets bereitet es Herrn Auskunft größte Freude dackelhaft in die erstaunten Gesichter zu sehen und sie dabei mit freundlicher Stimme nach weiteren Essenswünschen zu fragen. Vergessen die Mitarbeiter vor Entsetzen das Tablett mit dem Becher Kaffee und den frisch belegten Brötchen, ruft er ihnen hilfsbereit hinterher. Unter konspirativem Geflüster, rückt er näher an die Mitarbeiter heran und reicht das eben Vergessene. Zittern sie und schwappt infolge dessen der Kaffee auf das Tablett oder purzeln die Brötchen auf den Fußboden, umgreift er sorgenvoll deren Hände, drückt diese an seine Brust und versichert im geheimnisvollen Tone, dass es schon nicht all zu arg kommen werde. Fast unhörbar flüstert Herr Auskunft, dass er sie weiterhin unaufgefordert und unter eigener Gefahr unterrichten werde. Mit dieser Methode verfährt er, bis alle ausreichend abgefertigt wurden.

Zum Mittagsbuffet, wenn Herr Auskunft die Salate liebevoll angerichtet hat, die warmen Speisen in den Töpfen dampfen und mit mediterranen Kräutern garniert sind, streut er an seiner Kasse sitzend, eine zweite und noch gewaltigere Information in die Kantine. Hat sich diese in allen Fluren und Zimmern des Krankenhauses ausgebreitet, kommt es vor, dass die Geschäftsführung die überfüllte Kantine oder andere Teile des Krankenhauses absperren lässt. Und es ist mehr als einmal passiert, dass panische Patienten wegen falschen Feueralarms evakuiert werden mussten, dass Mitarbeiter mit Mundschutz ängstlich auf Arbeit erschienen und dass das Hygieneamt hektisch Fußböden und Decken desinfizieren ließ. Selbst die Antiterrorgruppe scheint seit Jahren Dauergast zu sein und hat verschiedene Kellergewölbe, Wände und die Kanalisation nach versteckten Waffenlagern durchbrochen, hat blumengeschmückte Gartenanlagen wegen vermeintlicher Fliegerbomben durchpflügt, hat abgestellte Koffer gesprengt und verdächtige Pulverhäufchen geprüft.

Kommt Herr Auskunft nach solch einem ereignisreichen Tag in seine kleine Wohnung, zieht er den Hausanzug an und legt sich zufrieden ins flauschige Bett. Er schließt die Lider und lässt noch einmal genüsslich die angstverzerrten Gesichter in Zeitlupe an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Sorgfältig analysiert er alle abgegebenen Informationen. Hat er die Analyse abgeschlossen, greift er im Nachttischfach nach der selbst gebauten Messskala und benotet sich selbstkritisch von eins bis zehn. Anschließend steht er auf, kocht Kaffee, holt den am Abend vorgebackenen veganen Kuchen aus dem Kühlschrank und erwärmt zwei Stück in der Mikrowelle. In kleinen Kringeln sprüht er Dosensahne auf den Zuckerguss und beobachtet wie sie schmilzt.

Zufrieden setzt sich Herr Auskunft auf das Plüschsofa, schaltet den Fernseher an und legt die Stoppuhr zwischen Kuchengabel und Fernbedienung. Geduldig wartet er auf den ersten Anruf. Klingelt das Telefon,
beantwortet er mit vollem Mund bereitwillig alle ihm gestellten Fragen. Ab und zu unterbricht er den Anrufer mit geheimen Informationen, die er ihm flüsternd und exklusiv zusteckt. Ist das Telefonat beendet, klatscht er in die Hände, streckt die Arme abwechselnd rhythmisch in die Luft. Hat hingegen ein aufgebrachter Abteilungsleiter angerufen oder eine erstaunte Stationsschwester stundenlang mit ihm telefoniert, springt er vom Sofa, dreht sich mehrfach um die eigene Achse und tanzt nicht weniger als vier Mal ausgelassen um den Wohnzimmertisch. Vor dem Fernsehgerät bleibt er anschließend atemlos stehen.

Geht Herr Auskunft nach den unzähligen Telefonaten am Abend schlafen, schreibt er exakt alle eingegangenen Anrufe auf. Je verzweifelter die Stimmen aus dem Hörer klangen, desto breiter malt er den Strich in das dicke Heft. Er legt es unter eines seiner vielen Kissen, kuschelt den Lockenkopf mit den vielen Sommersprossen in die Federn und fühlt sich seinem Traum nah, dass bald die Krankenhausleitung, der Staatsminister oder gar die verschiedenen Radiosender bei ihm anrufen würden. Mit diesem Gedanken schließt Herr Auskunft die Augen, dreht sich auf die Seite und gähnt. Verspielt zupft er an den Lippen, murmelt unverständliche Wortfetzen in den Stapel Kissen und schläft sorglos ein.

Der Geheimniskrämer

Der Geheimniskrämer lässt sich nicht täuschen. Er fasst einen jeden ins Auge und wartet geduldig ab. Noch ehe der Betroffene selbst es ahnt, weiß er schon um sein Geheimnis. Scheinbar betreten weicht der Geheimniskrämer dem misstrauischen Blick aus, umgarnt den Entlarvten mit einem freundlichen Wort und wiegt ihn in Sicherheit. Ein höflicher, zurückhaltender Mann, sagen die Frauen und buhlen um seine Zuneigung. Doch der Geheimniskrämer pflegt sich gerne freien Standes zu bewegen, eine Gefährtin würde ihn entlarven, so denkt er und lässt sich geschmeichelt weiterhin den Hof machen. Er ist nie ernsthaft interessiert, weiß er doch, dass sich beim Knüpfen erster zarter Bande, eine Dame nicht lange bitten lässt und beflissen aus dem Nähkästchen plaudert. Der Geheimniskrämer ist nicht erpicht auf eine Bestätigung der Heimlichkeiten. Im Gegenteil, ist das Geheimnis nicht nur ihm und dem Betroffenen selbst bekannt, sondern weiß auch ein Dritter von ihm, verliert es an Wert. Es ist dann kein Geheimnis mehr, sagt der Geheimniskrämer und begibt sich auf die Suche nach anderen. Aber der Geheimniskrämer findet schnell, er ist erprobt in seinem Handwerk. Jedes Geheimnis, was seinen Ansprüchen zur Genüge entspricht, fängt er ein und verwahrt es gut in seinem Krambeutel. Und so zieht er von Tür zu Tür, macht Halt, wenn es ein Geheimnis zu erspüren gilt und feilscht. Er feilscht solange bis der Ahnungslose ihm sein Geheimnis unbemerkt preisgibt, denn den Geheimniskrämer kann niemand täuschen.