Unbekannt

Freund, mir unbekannt,

reichen die Tränken,

um zu dürsten?

Freund, uns unbekannt,

stehen die Bäche noch auf Abwegen?

Der Regen fällt den Fremden,

die Sonne bricht sein Haar,

die Liebe weiß, dass er weiß:

doch spricht es nicht aus.

Freund, sich unbekannt,

rennen die Frösche noch

vom Himmel auf Erden?

Freund, sich unbekannt,

langen mit großen Armen die Kälber hinüber

zu dir, um zu wissen das Gras?


Freund, sich unbekannt,

unter warmen Betten,

reicht da dein Herz?

Bist nicht längst du abhanden gekommen

dem Allen – bist nicht längst du

fragil und schadvoll gewesen?

Schambehaftet und sorgengetränkt

schickt einer Worte deiner Antwort zu.

Du, Freundunbekannt,

weißt noch nicht,

dass die Zeiger keine sind,

die Bilder nicht mehr werden:

dass wir auf Erden vergessen

und ungelenk

der Freiheit entgegenschweren.

Die Gastnehmerin, Teil III

Sie knurrt. Ich drehe das Radio leise, den Wasserhahn ab und wiederhole in langsamen Worten meine Frage: „Schmeckt´s dir? Schmeckt´s? Oder bist du schon satt? Wenn Du satt bist, musst du´s mir nur sagen. Dann stelle ich den restlichen Käse auch gern wieder in den Kühlschrank! Der muss ja nicht unnütz auf dem Tisch stehen.“ Ich höre ein weiteres Mal ihr Knurren und ein „Nein, nein, es schmeckt! Stell´ den Käse bloß nicht wieder weg!“ Ich drehe den Kopf etwas zur Seite und sehe wie sie mit der einen Hand hastig zwei Scheiben in ihren Mund steckt, wobei die eine Scheibe für Sekunden wie eine weiße Zunge heraushängt und im Rhythmus ihrer Kaubewegung mitschwingt. Mit der anderen Hand schiebt sie schnell die verbliebenen Käseteile auf ihren Teller. Sie nimmt die mitgebrachte Tüte aus der Tasche und kippt den Käse hinein. Ich drehe den Kopf zurück zur Spüle, schließe die Augen und spüre das Gefühl, dass ich in solchen Momenten immer verspüre. Ich sage mir in Gedanken, dass ich diesem Gefühl des Mitleids ab heute nicht mehr nachgeben will. Außerdem sage ich mir, dass ich mir das seit Jahren jedes Mal vorgenommen habe. Zum Schluss sage ich mir, dass ich aus einem unerklärlichen Grund seit dem letzten Besuch weiß, dass ich von ihr nichts mehr erhoffen kann.
Ich öffne die Augen, schiele auf den Tisch und sehe wie sie das letzte Stück herunterschlingt. Ich bemerke, wie ich die Schnur der Mikrowelle umfasse und in die Steckdose schieben will. Ich schüttle den Kopf, schalte die Herdplatte an, lege meine flache Hand darauf, bis es warm wird und ich ein leichtes Brennen verspüre, starre in das immer deutlicher werdende Rot und spreche lautlos zu mir: „Ab heute, ab heute muss das anders werden! Du hast es dir versprochen!“ Ich lege die Schnur der Mikrowelle aus der einen Hand, nehme die andere Hand von der Platte, schalte den Herd aus und überlege, wann sie endlich mit dem eigentlichen Grund ihres Besuches herausrücken wird. Ich halte meine Hand unter das kalte Spülwasser und bin mir auf einmal sicher, dass ich ihr es ganz gewiss nicht leicht machen werde und sie ab heute mit mir einen wirklich echten Gegner haben wird. Als erstes kommt mir die Idee, ihr Gespräch, zu torpedieren. Da ich weiß, was sie in Wirklichkeit will, dürfte es mir nicht allzu schwer fallen, jedes Mal, wenn sie damit beginnen würde, sie mit einem anderen Thema zu überrumpeln. Ich gieße ihr Kaffee ein. Dieses Mal gieße ich ihn, wie den Tee in chinesischen Filmen, aus großer Höhe ein, damit er schnell kalt wird. Ich weiß, kalten Kaffee mag sie noch weniger als zu heißen. Sie sagt, dass es schön sei, dass es so schnell mit diesem Besuch geklappt habe und sie ein dringendes Anliegen auf dem Herzen habe. Ich frage sie, was eigentlich ihr Herz mache und wie der Befund des Langzeit-EKGs ausgefallen sei. Sie sagt, dass sie es noch nicht geschafft habe, aber gleich nächste Woche zum Arzt gehe. Sie sagt, dass es schön ist, dass es mit diesem Besuch so schnell geklappt habe und sie wieder einmal einen kleinen Wunsch hätte. Ich frage, ob sie denn die Weihnachtswünsche der Verwandtschaft für dieses Jahr schon wüsste und bin völlig erstaunt als sie ja, natürlich sagt und dass sie ja deswegen mich besuchen komme. Ich verdrehe die Augen und sage, dass ich mich über ihren Besuch sehr freue, mir aber dieses Jahr vorgenommen habe, keinerlei Wünsche zu erfüllen. Sie sagt, dass auch sie sich dieses Jahr vorgenommen habe keine allzu großen Wünsche zu erfüllen und es sich sowieso nur wieder um Kleinigkeiten handle. Sie greift in ihre Jackentasche und holt den Weihnachtswunschzettel, den sie auf die Rückseite eines langen Kassenbons geschrieben hat, heraus. Da ich weiß, dass sie mit ihrer Brille nicht allzu viel erkennen kann, gehe ich zum Fenster, sehe hinaus und drehe am Stellrad der Jalousie. Sie beugt sich über den Zettel mit der kindlich krakeligen Schrift und beginnt laut vorzulesen. Ich bin erstaunt, dass sie ihre Schrift immer noch erkennt. Ich schaue wieder scheinbar unbeteiligt durch die Fensterscheibe und drehe ein weiteres Mal am Stellrad der Jalousie. Sie hält den Zettel nah an ihre Brille und liest in ihrer unnachgiebigen Art, die ich bewundere und zugleich fürchte, ihren Wunschzettel vor. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und drehe ein weiteres Mal das Plasterädchen der Jalousie und bin erfreut, mit wie wenig Aufwand ich ihren Willen unterbrechen kann. Sie schiebt den Zettel vor die Brille, reibt ihre Augen und beginnt zu stottern. Ich flüstere in Gedanken, dass ihr das völlig zu Recht geschieht und es die Strafe dafür ist, das von mir erbetene Geld statt für die neue Brille für unsinnige Einkäufe auszugeben. Sie reibt sich erneut die Augen und beginnt zu zittern. Da mir dieser Anblick leidtut, drehe ich das Rädchen der Jalousie zurück. Sofort beginnt sie wieder, diesmal schneller, die Wünsche vom Zettel vorzulesen. Da mich das, aber auch mein gottverfluchtes Mitfühlen ärgert und ich mir nicht sicher bin, was mich mehr von beidem in hilflose Wut versetzt, drehe ich das Rädchen zurück. Sie reibt Kreise über die Karos ihres violetten Hosenkostüms. Ich drehe wieder an dem Rädchen. Sie beobachtet mich und ich überlege, was ihre Beobachtung bedeutet und ob sie gemerkt hat, dass ich das Rädchen gedreht habe. Das macht mich völlig unsicher. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster, öffne es, winke und rufe auf die Straße herunter. Ich schließe das Fenster, reibe mit dem Ellenbogen über die Scheibe, gehe vom Fenster zur Spüle, die hinter ihr steht und überlege wie ich ihren Leseschwall unterbrechen kann. Ich hole mit dem schweineteuren Bergkäse, den ich extra für diese Situation beim Händler bestellt habe, meine allerletzte Waffe aus dem Kühlschrank, stelle ihn vor sie und bemerke erst jetzt, dass sie schweigt und ihre Brust sich schnell auf- und abbewegt. Ich glaube puterrot zu werden, drehe mich von ihr weg und sage trotzig, dass ich ihn extra nur für sie gekauft habe, vorhin glatt vergessen habe ihn auf den Tisch zu stellen und nun aber auch möchte, dass sie ihn unbedingt isst und ich ihn ansonsten nie mehr kaufen werde. Sie schaut auf ihren Wunschzettel, auf den Käse, auf den Wunschzettel und von dort langsam auf den Käse und danach mich fragend an. Ich nicke ihr zu und sage im überzeugt lässigen Tonfall, dass es da überhaupt nichts zu überlegen gibt. Sie schaut mich zögernd an und legt in Zeitlupe den Zettel neben den Teller. Ich hobele die Scheiben vom Käse herunter und garniere sie auf den Teller. Sie schaut mich an und beginnt die Scheiben in einem Tempo in den Mund zu schieben, dass ich mit dem Hobeln kaum nachkomme Sie greift zur Kanne und gießt sich mit Schwung Kaffee nach, dass der Kaffee über die Tasse, auf die Untertasse und von dort auf den Tisch schwappt. Sie trinkt ihn mit einem großen Schluck, dass er tröpfchenweise aus den losen Gebisshälften träufelt. Ich beobachte sie und möchte am liebsten zum Fenster stürzen und die Jalousie komplett zudrehen. Stattdessen drehe ich mich wieder zur Spüle, frage sie in einem eingeübt scheinheiligen Ton, was denn dieses Mal der Grund ihres Besuches ist und spüre plötzlich wie mir übel wird und ich mich über meine eben gestellte Frage zu ärgern beginne, da ich ihr nun eine wunderbare Steilvorlage biete, die sie garantiert nutzen wird. Mit vollem Mund, nimmt sie den Wunschzettel in die Hand und beginnt laut vorzulesen. Ich schüttle den Kopf, setze mich an den Küchentisch sehe die vielen Posten, die auf der Vorderseite des Kassenbons aufgetragen sind und spüre das jahrhundertealte Gefühl in mir hochsteigen aus der Wohnung zu laufen, getraue es mir aber nicht. Ich sehe auf die Herdplatte, schüttle den Kopf und bezweifle, ob ich jemals diesem Gast, der auch heute wieder mit einem Selbstverständnis an seinem sogenannten Stammsitz am Küchentisch Platz genommen hat, gewachsen bin. Ich stehe auf, gehe zum Küchenherd, schalte die Herdplatte an und drücke meine flache Hand darauf.

Die Gastnehmerin, Teil II

Im ersten Teil wartet der Erzähler auf seinen Gast und erzählt dabei (aufgeregt) wie aufgeregt er ist und er sich auch dieses Mal gegen dieses unangenehme Gefühl nicht wehren kann. Noch während des Wartens vollzieht sich für den Erzähler und den neugierigen Leser aus (noch) unerklärlichen Gründen eine Wandlung seines sonst üblichen Verhaltens. Diese Wandlung wird heute in Teil II fortgeführt und der Leser wird (un-gewollt) zum voyeuristischen Teilhaber des bizzaren Frühstücksgeschehens am Küchentisch.

Sie greift den Käse, schneidet wie erwartet dicke Scheiben herunter und stapelt ihn auf das Brötchen. Ich beobachte sie und bin verwundert, weil mich ihre Verfressenheit überhaupt nicht aufregt. Stattdessen sage ich, dass es mich sehr freut, dass sie heute ausnahmsweise viel Appetit mitgebracht hat und es ihr so wunderbar schmeckt. Ich nehme die Kaffeekanne, gieße ihr den tiefschwarzen Kaffee randvoll in die Tasse und sage: „Einen recht bekömmlichen und guten Hunger!“ Sie trinkt einen Schluck, antwortet, bei mir hast du das anders gelernt und beschwert sich, dass ich ihr zu viel Kaffee in die Tasse gegossen habe, sie ihn nun nicht mehr mit Milch verdünnen kann und der Kaffee außerdem viel zu stark sei. Sie erinnert mich daran, dass ich doch wüsste, dass sie starken Kaffee seit langem nicht mehr vertrüge und ob ich unbedingt wolle, dass sie wie ihr Großvater Magenkrebs bekomme. Ich entschuldige mich beiläufig und biete ihr mit einem Lächeln Milch an. Ich gehe zum Kühlschrank, öffne mit der einen Hand die Tür, ziehe mit der anderen Hand den Neztstecker der Mikrowellenschnur aus der Dose und stelle ihr die eiskalte Milch, die ich vor ihrem Besuch ins Kühlfach gelegt habe, auf den Tisch. Sie fragt mich, ob ich wenigstens Milch in der Mikrowelle warm machen könne. Ich verneine, drücke stattdessen theatralisch an der unbeleuchtete Tastatur und bedaure, dass die Mikrowelle aus einem mir wirklich unerklärlichem Grunde just gestern den Geist aufgegeben habe und sie die Milch heute leider mal kalt nehmen müsse. Sie sagt nein und trinkt den schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken und flüstert, dass sie, wenn sie ihre Diagnose bekäme, wenigstens wisse wer an alledem schuld sei. Ich versichere, dass das nie und nimmer passiert und sie wenigstens Hundert werde. Mit einem Knurren beißt sie in die Brötchenhälfte und zieht wie ein wildes Tier daran. Sie lässt den Teil der Brötchenhälfte wieder aus dem Mund gleiten, dreht den Kopf zur Seite und versucht es noch einmal. Als auch das nicht gelingt, schiebt sie die Lippen vor und lutscht an der Kruste. Sie schiebt ihre Zähne hin- und her, beißt vorsichtig hinein und würgt das abgesägte Stück herunter. Sie flucht und legt die Hälfte des Mohnbrötchens zurück und isst stattdessen den Käse vom Teller. Damit sie nicht mit dem Essen aufhört, gehe ich zum Kühlschrank und nehme den Büffelmozzarella heraus. Ich öffne die Verpackung, rieche daran, lecke mit der Zunge um den Mund, stelle den Mozzarella direkt vor ihre Nase und sage ihr in die Länge gezogen, dass ich den Käse extra nur für sie gekauft habe. Ich hoffe ihr so ein schlechtes Gewissen zu machen und ihre Fresssucht wieder anzuheizen. Wenn ich Glück habe, isst sie wieder alles, was ich auf den Tisch gestellt habe und ihr wird schlecht. Heute scheint mir das nichts auszumachen. Sonst regt mich ihr zu erwartendes Verhalten Tage vorher maßlos auf und ich beschwere mich lautstark vor dem Spiegel stehend über ihre Verfressenheit und mache ihren immer gleichen jammernden Monolog nach, bei dem sie sagt, dass sie wieder viel zu viel gegessen habe und ihr nun schlecht würde. Jedes Mal nehme ich mir vor dem gottverdammten Spiegel stehend vor, ihr endlich zu sagen, dass sie über ausreichend Geld verfügt und ich nicht mehr ihr Goldesel sein möchte. Aber nachdem ich die Vermutung habe, dass sie es ist, die im Hof hinter die Container kotzt, stört mich ihre Fresserei nur noch halb. Am Anfang dachte ich, es seien Jugendliche oder eines von den Hippie-Pärchen aus dem Nachbarhaus, die nach ihren Saufgelagen gern mal in die Ecken kotzen oder pinkeln. Aber nachdem ich festgestellt habe, dass die Kotze immer dann hinter dem Container liegt, wenn sie da war und die Hippies zu der Zeit ihren Rausch ausschliefen, bekam ich diese Ahnung. Ich gebe zu, dass ich manchmal, wenn ich mich wieder über sie aufrege und wütend durch die Bude renne, das Kotzgeräusch nachmache und mich schlagartig dabei wohlfühle. Wenn ich Glück habe, kann ich es heute endlich live erleben. Ich summe ein Lied, schneide den Mozzarella in extra dicke Scheiben und lege ihn breitfächerig auf den Meißner Servierteller meiner verstorbenen Großmutter. Mit gespreizten Fingern nasche ich eine Scheibe vom Teller und summe trotz vollem Munde weiter. Jedes Mal wenn sie den Teller mit dem Streublumenmuster sieht, wird sie unruhig und äußert abwertende Bemerkungen, um auch das letzte bei mir verbliebene Stück meiner geliebten Großmutter, von mir geschenkt zu bekommen, um es anschließend zu verscherbeln. Über die Jahre habe ich es mir abgewöhnt, die Teile, die sie an den Antiquitätenhändler in meiner Straße verkaufte, zurückzukaufen. Anfangs hatte ich mich geärgert, dass sie die Stücke verkauft hat. Später war ich nur noch enttäuscht, dass sie sich nicht einmal die Mühe gab, die mir zuvor abgeschwatzten Teile, so zu verkaufen, dass ich es nicht bemerke. Und als sie mir eher zufällig ein Stück abschwatze, das ich ihr schon einmal geschenkt hatte, ließ ich es, weitere Teile vom Händler zurückzukaufen. Ich streichle über eine der abgebildeten Streublumen auf dem Teller, schmatze nachdenklich, sehe ihr in die Augen und sage, dass das ein wunderschönes Muster ist und ich gar nicht weiß, wer diesen prachtvollen Teller, wenn ich nicht mehr bin, bekommen soll und er sicherlich, wie mein anderer Kram in einer der vielen Haushaltauflösung oder gar im Sperrmüll landen wird. Ich staune, dass mir heute das bei Sammlern begehrte Motiv nicht abschwatzen will und stelle Pfeffer, Salz und Olivenöl wie eine Mauer um den Meißner Teller herum. Ich nehme das Kürbiskernöl, öffne es und sage ihr, dass das Öl vorzüglich zum Mozzarella passe. Ich garniere die Scheiben mit frischen Basilikumblättern und Cherrytomaten und bitte sie sich nicht zu zieren und doch endlich zuzugreifen. Ich gehe zur Spüle, wasche meine vom Käse verklebten Hände und sage ihr, dass der Büffelmozzarella erst neulich im Fernsehen von ihrem Lieblingskoch angepriesen wurde. Ich gehe zurück zum Tisch und erwische sie, wie sie mit ihren dicken Fingern an ihren beiden Gebissen rumruckelt. Erstmals erfreue ich mich bei dem Anblick, dass ihr die Beißer nicht mehr passen und sie seit Jahren deswegen Schmerzen hat. Hätte sie das viele Geld, das sie mir damals über Monate abgepresst hatte, auch wirklich für die Zahnarztrechnung verwendet, müsste sie jetzt nicht mit Schmerzen am Tisch sitzen und mit kaputten Zähnen und einem zu großen Gebiss essen. Ich drehe mich zurück zur Spüle und frage sie in einem Tonfall, bei dem ich mir sicher bin, dass sie in jedem Fall auf meine Frage antworten muss: „Schmeckt´s dir eigentlich? Du sagst gar nichts?“

Walnachten

„Je suis une baleine.“, sagt sie versonnen. Wortlos betritt er das Zimmer. „I am a whale.“ murmelt sie, während sie tippt. Er stellt sich dicht hinter sie. „Du bist ein Wal?“, fragt er vorsichtig und legt seine Hände warm auf ihre Schultern. „Was?“ fragt sie zurück, als sie ihren Blick vom Bildschirm löst und aufsieht. Ihr Scheitel berührt seinen nackten Bauch. „Du bist ein Wal?“, fragt er wieder. „Genau!“, antwortet sie, „Soll ich es dir beweisen?“ Er nickt. Mit zwei Fingern berührt sie eine grüne Fläche auf dem Bildschirm, in der „Check“ steht. Der Rechner gibt einen ermunternden Gong von sich. „You are correct.“ erscheint in großen Lettern auf dem Bildschirm. Sie lächelt fröhlich, er lächelt irritiert.

„Ich bin ein Wal.“, beginnt sie zu erklären, nachdem sie ihre Hände auf seine gelegt hat. „Ich durchstreife die Ozeane. Am liebsten in hunderten Metern Tiefe, dort wo kaum jemals ein Fisch und nie, niemals Sonnenlicht hinkommt. Ich schwimme stundenlang, tagelang, mein Leben lang, abertausende Kilometer weit. Ich will jeden Quadratmeter Ozean bereisen, jede Senke, jede Bank. Mein riesiges Maul ist dabei nie geschlossen. Mit jedem Meter, den ich durch die Tiefen gleite, sauge ich hektoliterweise Meerwasser auf, um jedes Fitzelchen Plankton, das ich erwischen kann herauszufiltern, zu schmecken, zu verdauen, von ihm zu wachsen. Niemals bin ich satt, niemals bin ich zufrieden. Ich werde größer und schwerer und bald bin ich so groß und so schwer, dass mir mein eigenes Gewicht an Land die Lungen zerquetschen würde. Aber da gehe ich nie hin: An Land. Ich bleibe im Wasser, dort, wo keine Menschen sind. Ich will keinen Wegen folgen müssen sondern mich Strömungen hingeben. Ich will nicht höher klettern sondern lieber tiefer sinken. Ich will kein Haus und keinen Unterschlupf, das Meer soll mein Zuhause sein. Nur alle zwei Stunden kehre ich für einen Moment an die Oberfläche zurück um aus- und einzuatmen. Dann gibt es eine riesige Fontäne.“

Er legt die Stirn in Falten, sie lacht. Im bläulichen Licht des Bildschirms sehen ihre Zähne gefährlich aus. „Was machst du?“, will er wissen. „Ich erkläre mich dir, damit du mich verstehst! Darum hast du doch gebeten.“, antwortet sie.
„Hier am Rechner meine ich: Was ist das?“
„Ich lerne Französisch.“
„Aber warum?“
„Weil ich es noch nicht kann! Und Englisch lerne ich nebenbei auch noch mal.“

„Meine Mutter hat dich sprechen hören.“. Mit seinen Daumen streicht er fest links und rechts an ihrer Wirbelsäule, den Hals entlang. „Sie hat gedacht, du sprichst mit ihr, aber auf ihre Fragen hast du nicht reagiert. Sie hat einige Momente an der Schwelle gestanden und dich beobachtet, aber sie versteht nicht, was du hier tust. Sie hat sich nicht getraut, ins Zimmer zu kommen. Du hast in fremden Sprachen gesprochen. Damit ich mal nach dir sehe, hat sie mich aus der Wanne zitiert. Sie hat sich Sorgen gemacht. Wie kommst du darauf, ausgerechnet jetzt Französisch zu lernen?“
„Du hast ja keine Ahnung, wie lustig Französisch ist! Und wie schön. Abeille heißt Biene. Klingt das nicht toll? Abeille! Und weißt du, was Bär heißt? Ours. Ours! So werde ich dich ab sofort nennen: Mon petit ours!“

„Warum sitzt du nicht bei uns? Mutter hat Stolle aufgeschnitten und Kaffee gekocht. Sie wartet. Wenn du willst, mache ich ein Räucherkerzchen an. Und die Pyramide mit den Glöckchen. Die Erzgebirgsgesänge können wir ja weglassen, wenn sie dich stören.“
„Ja, die Gesänge! Das ist interessant!“, sagt sie, als sie ihre Hände von seinen löst und wieder zu tippen anfängt. „Die muss man doch hier irgendwo hören können. Auf YouTube? Bestimmt!“
„Was ist los mit dir?“
„Hör mal. Das ist ein Bartenwal. Psst!“

Auf ihrem Stuhl rollt sie hinüber zur Stereoanlage, schaltet sie an und dreht sie voll auf. Das dumpfe Dröhnen des Meeres kann er in seinen nackten Sohlen spüren. Das helle Seufzen der Wale verschluckt die Weihnachtslieder, die in Fetzen aus dem Wohnzimmer herüberdringen.
„Das ist irre, oder?“, staunt sie.
Er schließt die Augen. „Ja.“ Das auf seiner Haut verbliebene Badewasser sammelt sich in Tropfen an seinen Fingerspitzen. Das kitzelt.
„Du könntest auch ein Wal werden! Dann durchstreifen wir die Ozeane gemeinsam und singen Lieder wie dieses.“

„Nein.“, sagt er und öffnet die Augen. Er schüttelt die Tropfen ab, hockt sich vor den Rechner und klappt ihn zu. Die Gesänge verstummen. „Nicht jetzt. Kein Französisch. Keine Walgesänge. Jetzt: Weihnachten. Kaffeetrinken.“
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und seufzt.
„Hast du keine Lust?“, fragt er.

„Natürlich habe ich Lust. Ich habe Lust mit dir zum Flughafen zu fahren, jetzt sofort, und einen Flug zu buchen, für heute Abend noch. Wir fliegen auf die Azoren. Last minute. Very last minute.“, kichert sie.
„Die Azoren?“
„Meine Kollegin war dort, letztes Frühjahr. Es muss herrlich sein!“
„Ich bitte dich!“
„Aber, die Azoren sind perfekt! Man spricht Französisch dort! Ich kann sofort anwenden, was ich gelernt habe. Wir werden eine Bootstour unternehmen, weit raus, aufs offene Meer. Meine Kollegin hat das auch gemacht. Wir werden Wale sehen, echte Wale! Wir werden sie singen hören! Das wird wunderbar!“
Er richtet sich auf und fährt sich durch die nassen Haare.
„Aber man muss aufpassen! Meine Kollegin hat sich eine Mittelohrentzündung eingefangen, weil sie den ganzen Tag im scharfen Wind an der Reeling gestanden hat. Ich werde klüger sein. Ich werde ein Kopftuch tragen.“ Flink rollt sie auf ihn zu und zieht das Handtuch von seinen Lenden. „So ungefähr. Ein perfekter Windschleier. Trägt man das so? Sieht das gut aus? Es riecht gut!“

Er legt die Hände in die Luft, atmet ein und öffnet den Mund, aber er weiß nichts zu sagen. Sie sieht ihn an, legt den Kopf schief und ruft: „Wow! Wo ist deine Kamera?“ Irritiert schiebt er die Brauen zusammen. „Was? Meine Kamera?“ „Nicht bewegen!“, sagt sie, während sie aufspringt und das Windschleierhandtuch von sich wirft. „Diese Pose! Dieser schmale Streifen Licht aus dem Wohnzimmer.“ Mit beiden Händen durchwühlt sie die Schubladen unter der Stereoanlage. „Deine Körperlichkeit! Dein Bauch! Dein Alter! Das ist alles so tragisch. Aber liebevoll tragisch. Weißt du? Schön tragisch. Das muss ich festhalten.“

Er stöhnt, setzt sich auf den Schreibtisch neben den zugeklappten Rechner, zieht die Beine an und legt die Arme um die Knie. „Was ist passiert?“
„Mann! Jetzt hast du dich bewegt!“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Und die Kamera ist auch nicht an ihrem Platz!“
„Hat sie dich verärgert mit irgendetwas?“
„Kein Wunder, dass es kaum Fotos von uns gibt!“
Er schreit: „Setz dich hin und sprich mit mir!“ Sie fährt herum und sieht ihn an. Sie setzt sich.

„Thomas?“, ruft es aus dem Wohnzimmer. „Alles in Ordnung?“
„Jetzt nicht!“ Er springt auf und schlägt die Tür zu. Dann geht er zu ihr herüber und kniet sich vor ihren Stuhl. „Hat sie dich verletzt?“ Sie holt eine Strähne hinter dem Ohr hervor und wickelt sie konzentriert um ihren Zeigefinger.

„Unser Stollen schmeckt ihr nicht.“, flüstert sie.
„Das ist alles?“, fragt er und streicht ihr die Strähne wieder hinters Ohr.
„Die Kekse, die ich gebacken habe, schmecken ihr auch nicht. Da fehlt geriebene Zitronenschale.“
„Und deswegen bist du ihr böse?“
„Deine Suppe heute Mittag, hat ihr auch nicht geschmeckt. Sie muss Pupsen davon.“
„Wahrscheinlich verträgt sie Linsen nicht so gut.“
„Sie findet auch, dass du die Frühstückseier zu weich kochst. Hat sie alles ihrem Bruder erzählt. Vorhin, am Telefon.“
„Aber das ist doch nur das Essen!“ Er streicht ihr weitere Strähnen aus der Stirn.
„Aber an Weihnachten geht es doch ums Essen, oder?“
Er küsst ihre Wange. „An Weihnachten geht es ums beieinander sein.“
„Ich will nicht bei ihr sein. Ich will bei dir sein.“ Sie legt ihren Arm um ihn und zieht seinen Kopf auf ihre Brust, so dass sein Ohr auf ihrem Pullover liegt. Sie treibt ihre Nase in seine Haare.

„Sie hat noch etwas gesagt.“ Sie legt auch den zweiten Arm um ihn und klammert sich an ihm fest.
„Was? Was hat sie gesagt?“
Sie zieht ihn noch fester an sich. „Heb mich hoch.“
Er lacht. „Erst, wenn du mir sagst, was sie gesagt hat.“
Sie schlingt ihre Beine um seine Hüften. „Erst, wenn du mich trägst.“
Er fährt mit seinen Armen unter ihre Schenkel und umfasst seine Handgelenke unter ihrem Po. Als er sie anhebt, legt sie ihr Kinn auf seine Schulter. Ihr Haar versperrt ihm die Sicht. Er schnappt danach, bekommt ein paar Strähnen zu beißen und zieht daran. Sie kichert.

„Also, was hat sie gesagt?“
Sie bringt ihre Lippen ganz dicht an sein Ohr. Sie flüstert: „Sie hat gesagt, dass sie Weihnachten hier mit einer Verrückten verbringen muss.“ Für einige Sekunden klemmt sie sich sein Ohrläppchen zwischen die Lippen. „Sie hat gesagt, dass ich verrückt bin.“
Er lacht laut. Sie treibt ihm die Fingernägel in den Rücken, damit er aufhört. „Sie ist eine dumme, alte Frau.“, zischt sie.
„Nein, nein.“, murmelt er, als er sie auf dem Schreibtisch absetzt. Sie denkt gar nicht daran, ihre Umklammerung zu lösen. „Sie ist nicht dumm, Liebes. Sie versteht nur nichts von Walen.“
„So ist es, so ist es! Sie hat überhaupt keine Ahnung von Walen. Null!“, kichert sie.

Er lehnt sich zurück und sieht sie an. Mit beiden Zeigefingern zeichnet er ihre Augenbrauen nach. Dann fährt er entlang ihrer Wangenknochen hinunter zu ihren Lippen. „Wahrscheinlich ist sie Vogelkundlerin.“, sagen diese. „Oder Rassekaninchenzüchterin.“ „Psst!“, sagt er. „Was immer sie ist.“, sagt sie, aber es ist undeutlich, weil seine Zeigefinger noch immer auf ihren Lippen ruhen, „von den Ritualen der Meeresbiologie hat sie nicht den blassesten Schimmer.“ Er zieht seine Finger von ihren Lippen und legt seine Lippen genau dort hin. „Arme, alte Frau.“, flüstert sie, als er den Kuss löst. „Sie hat dich stranden lassen, tonnenschwere Walfrau. Das war brutal von ihr.“, flüstert er.

Während sie mit beiden Händen fest in die Polster an seinen Hüften greift, lacht sie: „Zieh mich zurück ins Meer, tonnenschwerer Walmann, lass uns ein paar Minuten der Strömung folgen.“ Er fährt mit seinen Händen wieder unter ihren Po und hebt sie an. Sie streckt die Arme von sich. „Dreh dich!“, ruft sie, „dreh dich. Und mach die Augen zu. Wir spielen Wale im Strudel.“
Die Dielen knarzen unter dem ungewohnten Gewicht.

„Was ist denn hier los?“
Er öffnet die Augen. Ihm dreht. Er bleibt nicht stehen.
„Was macht ihr?“
In der halboffenen Tür steht seine Mutter. Ungelenk tastet sie nach dem Lichtschalter.
„Willst du dich nicht anziehen, Thomas?“
Wieder und wieder sieht er das entgeisterte Gesicht an sich vorbeiziehen. Das Brillengestell seiner Mutter zeigt hübsche Lichtreflexe.
„Raus mit dir!“, ruft sie, immer noch fest um seinen Hals geschlungen. „Du wirst ertrinken hier draußen!“
„Ich werde was?“
Er stoppt die Drehung und sieht seine Mutter an.
„Wir spielen Ozean, Mutter.“
„Seid ihr jetzt beide völlig übergeschnappt?“

Sie löst die Umarmung und klettert von ihm herunter. „Wir sind Wale, siehst du das nicht? Wir werden ja wohl mal ein paar Minuten abtauchen dürfen.“
„Wir kommen gleich, Mutter.“, sagt er, noch bevor diese etwas antworten kann. Schwankenden Schrittes geht er zur Tür. Seine Mutter nickt wortlos, wendet sich ab und geht zurück ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür, dreht sich um und grinst.
Sie schiebt den Laptop beiseite und klettert auf den Schreibtisch.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragt er lächelnd.
„Ich habe eine lauschige Sandbank gefunden! Leg dich zu mir.“

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

Unter dir (Teil 2)

Wenn ich dir früher einen Knutschfleck an jeder Seite deines Halses verpasste, meckertest du, dass du dir markiert vorkamst und bandest dir eines deiner albernen Tücher um. Aber diese gemeine Bemerkung verzieh ich dir meist schon in der darauffolgenden Nacht. Ich streichle über die feucht glänzende Stelle, die ich dir soeben gemacht habe und sage, na dann eben nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Risiko eines Knutschflecks heute eingehen sollte. Heute Abend darf uns auf keinen Fall irgendwer stören; zulange habe ich mich auf diese alles entscheidende Nacht vorbereitet. Beim letzten Knutschfleck haben sie gedacht, du hättest eine innere Blutung und dich übergründlich untersucht. Für mich war das grausam, da ich die ganze Nacht hinter dem dussligen Vorhang stehen musste. Der Gedanke daran macht mir schon wieder Angst.

Da meine Füße schmerzen, ziehe ich die Schuhe mit den vielen Glitzersteinen, die ich extra für Heute angezogen habe und die du von jeher besonders albern findest, aus. Ich sage, von Schuhmode hast du keine Ahnung und werfe sie unter das Bett. Ich gehe zum aufgeräumten Nachttisch, dessen Sauberkeit die Schwester soeben ausgiebig gelobt hat und sortiere die darauf liegenden Dinge zusammen. Was ich für unnütz halte, werfe ich in den leeren Eimer. Weil das Desinfektionsmittel in der Nase juckt, pople ich und schnipse ab und zu einen der rausgeholten Popel durch den Raum. Misstrauisch lese ich die Handschriften der Briefe deiner vielen Freunde und rieche an den Absendern die mir unbekannt sind. Die Briefe mit den Handschriften, die mir besonders verdächtig vorkommen oder die ich nicht kenne oder von denen ich meine einen mir fremden Parfümduft zu erriechen, zerrreiße ich in klitzekleine Schnipsel und streue sie zufrieden in das Seitenfach meiner Handtasche. Die ungefährlichen lege ich gut sichtbar in den Nachttisch zu den Stapeln der anderen. Ich schiebe das Nachttischfach zu, gähne in die Länge gezogen und spüre den anstrengenden Tag in meinen Beinen. Um mich fit für die Nacht zu machen, beuge ich mich nach vorn, strecke beide Arme zu den lackierten Zehen und danach zur Lampe der Zimmerdecke. Ich halte mich am Nachttischgriff fest, schiebe das linke Bein langsam in Augenhöhe, lasse vorsichtig den Nachttischgriff los und drehe mich ballarinamäßig einmal um die eigene Achse. Ich tipple an das Bett deines linken Mitpatienten, strecke ihm das Bein und den Fuß entgegen, ziele über den großen Zeh und sage laut Peng, Peng, jetzt bist du tot. Ich tipple zum rechten Mitpatienten, strecke das rechte Bein und erschieße auch ihn. Nachdem ich sie beiden zur Strecke gebracht habe, klatsche ich in die Hände, mache einen Sprung in die Luft, verbeuge mich vor den drei Betten, bedanke mich für den Applaus und fühle mich bereit für die Nacht.

Ich lege mich zu dir ins Bett, rolle mich zusammen und kuschle mich an dich heran. Ich betrachte dein wunderschönes schlafendes Gesicht mit den starken Wangenknochen. Ich nehme den kleinen Zeigefinger und ziehe eine Linie von dem Haaransatz, über die hohe Stirn, zum schnurgeraden Nasenrücken zu den Nasenflügeln mit den kleinen Härchen. Dabei stecke ich meinen Fingernagel in jedes Nasenloch und hole deine Popel raus und schnipse sie im hohen Bogen durch den Raum. Ich sehe wieder in dein Gesicht. Ich öffne deine Lippen, schiebe den Zeigefinger in den Mund, ziehe ihn heraus, schiebe ihn wieder rein und raus und sage vorwurfsvoll, ehe du mich beißt. Mit dem kleinen Finger umrunde ich das breite Kinn, den Hals bis zum Adamsapfel, bleibe dort stehen und pikse mit der roten Fingernagelkuppe in den Apfel und zähle die kleinen schwarzen Härchen die dort aus der Haut wachsen und überlege, wie lange es brauchen wird, bis die Härchen sich krümmen und die von mir geliebte Form des Kopfhaares annehmen. Als ich früher in dein Gesicht schaute und deine Barthaare zählte, wunderte ich mich wie schnell die dicken schwarzen Haare dir aus der gebräunten Haut wuchsen. Schon damals schob ich meine knallrot lackierten Finger durch dein Haar und zirbelte den Bart. Die Kombination von Knallrot, Schwarz und Braun machte mich wild, auch wenn dir meine rot angepinselten Krallen, wie du sie abfällig nanntest, nie wirklich gefielen. Hier rasieren die Schwestern dich, bevor ich deinen Bart zu sehen bekomme. Außerdem, mein Lieber, ist deine Haut wie weiße Babyhaut geworden. Dass sie weiß ist, stört mich nicht wirklich, das habe ich dir schon oft ins Ohr geflüstert. Ich finde, dass sie mich sogar anmacht. Aber dass sie dein Kinn und deinen Hals babyglatt rasieren, bringt mich auf die Palme. Deswegen habe ich auch ab und zu Lust Haare mitzubringen, die ich zuhause heimlich in den Kartons unter deinem durchgelegenen Jugendbett aufbewahre, um sie dir zu einem Bart anzukleben. Oder, dass ich wenigstens ab und zu ein paar Haare mit meinem schwarzen Filzstift, mit dem ich täglich die pflegerischen Anordnungen der Schwestern auf den Karteikarten unter dem Bett benote, anmalen zu dürfen. Aber das geht nun wirklich nicht, das sehe ich ein. Dann denken die womöglich hier, dass ich völlig durchgeknallt bin. Ich seufze, schließe die Augen, reibe blind über deinen rasierten Kehlkopf mit den Stoppeln und stelle mir vor, dass dort ganz viele schwarze, gelockte Haare wären. Ich streichle um den surrenden Schlauch, der aus deinem Hals ragt und flüstere dir zu, dass es mir leidtut, was die vergesslichen Schwestern mit dir hier alles anstellen. Ich verspreche dir, heute wird das Alles für dich und mich ein Ende haben.

Ich richte mich aus meiner Embryonalhaltung auf, küsse deinen glatten Kehlkopf und lasse die nasse Zunge darüber gleiten. Mit dem Daumen massiere ich die glänzende Stelle und sage, dass gefällt dir, mein Lieber? Stimmt. Ich schaue kurz auf die Leuchtanzeige meiner Uhr und horche, ob vom Gang her ein Geräusch zu hören ist und mache, nachdem ich nichts höre, weiter. Ich umgreife deine Ohren und schiebe dein Gesicht auf dem Kopfkissen unter mein Gesicht. Ich stütze meine Hände auf deine Schultern und bewege meine Hüften, als ob ich tief in dich eindringen würde. Als du noch nicht hier lagst, tat ich das nämlich immer, weißt du das noch. Wie damals ärgere ich mich auch jetzt, dass ich kein Mann bin und in dich eindringen kann. Ich mochte es, wenn du dir auf mir zu schaffen machtest. Ich mochte es, wenn du mit deinen langsamen, tiefen Stößen in mich eindrangst und ich dein langes, dickes und schneeweißes Ding in mir spürte. Und ich mochte es wenn dein schwarzes Kopfhaar im Rhythmus über deine Schultern mitschwang. Ich umklammerte erst deinen muskulösen Hintern mit meinen Beinen und danach mit den Händen und klopfte dabei so lange und so heftig auf deine Arsch, bis alles aus dir raus war. Mach weiter, mach weiter, du kleine Hexe, hattest du mir zugeflüstert. Oft habe ich danach meine rot lackierten Finger genommen und sie an deinen Hüften entlanggekratzt. Ich kneife mich links und rechts in meinen Hintern, öffne die Augen und sehe zu deinen beiden Mitpatienten, die wie immer still daliegen. Ich hebe deine Bettdecke an und schaue mit einem prüfenden Blick, ob noch alles an dir dran ist. Es hat sich nichts geändert, genau wie der Rest deines Körpers. Nur, dass er jetzt komplett weiß ist. Dein ganzer schöner zwei Meter und einen Zentimeter langer Körper. Früher konnte ich mich an dem weißen Streifen, der an dem braunen Körper herunterbaumelte, nicht sattsehen. Pinsel hab ich zu deinem Ding gesagt. Quast hast du geantwortet. Das ist ein Quast. Dein Ding war so weiß, dass ich damals dachte, dass es nur deswegen so weiß war, weil du es in mich reinschobst, weil ich ja innen auch weiß war wie eine Farbdose. Aber das war quatsch. Dein Hintern war ja auch weiß. Wie du deinen Hintern damals anhobst, im Rhythmus immerzu im Rhythmus anhobst, immer und immer wieder. Ich weiß warum ich auf Musiker stehe. Ich schließe die Augen und flüstere, schön, das war damals wunderschön. Manchmal zählte ich deine Haare während du in mich eindrangst. Weit war ich damit aber nie gekommen. Gleich kriegst deine Narkose, hattest du gesagt, warte, gleich kriegst du, du kleine Hexe. Du sagtest das, wenn du merktest, das ich über deine Schulter sah und deine Haare an den zuckenden Gesäßmuskeln zu zählen begann. Und weil ich damit nie sehr weit gekommen war, hatte mich das laute Zählen deiner Gesäßhaare irgendwann an meine Narkose erinnert. Die Anzahl deiner Haare hatte ich dabei jedes Mal genauso vergessen, wie die Zahl bei der Narkose. Und dann ärgerte ich mich wieder, dass ich kein Mann war. Wenn du fertig warst und tief Luft holtest, fragte ich dich, wie das ist, was für ein Gefühl das ist und ob du mir dieses Gefühl erklären kannst, ob du mir Beispiele nennen kannst, damit ich dich besser verstehe, wenn du es in mir treibst. Schließlich wollte ich alles wissen, was du machst. Alles. Meist lächeltest du und sagtest in die Länge gezogen, geil, einfach nur affentittenobergeil. Ich war mir sicher, dass du damit meinen Körper meintest, fragte dich aber vorsichtshalber, ob das Gefühl bei allen Mädchen gleich geil war. Du sagtest ja, ja, und deutetest mit weit aufgerissenen Augen einen Orgasmus an. Es machte mich jedes Mal wütend, das du mir nicht sagen wolltest, wieviel Mädels du nun vor mir hattest. Und wenn ich deswegen in Wut geriet, konnte ich dir sogar mit voller Wucht auf deinen steifen Penis schlagen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich bei dem Thema einfach nicht beherrschen. Und wenn ich merken würde, dass du wegen einer der Schwestern einen Steifen bekommst, dann würde ich, glaube ich, es wieder tun. Mein Gott, wie ich dich in diesen Momenten abgrundtief gehasst habe. Da ich aber jetzt nicht schon wieder an die blöden Missverständnisse denken will, schiebe ich mich weiter auf deinem Körper hin und her. Meine Haare lasse ich dabei in deinem Rhythmus über meine Schulter herunterschwingen. Mit den Haarspitzen reibe ich deine Nase, bis du schnaubst. Empört sage ich, das passt dir wohl nicht. Ich ziehe eine Schnute, knicke deinen Schlauch zusammen und beobachte wie lange es dieses Mal dauert, bis du endlich reagierst. Ich öffne dein albernes Krankenhaushemd. Typisch, die Schwestern haben dir wieder eines aus ihren Beständen verpasst. Ich lege mein Ohr an deine Brust, reibe über deine Haut und flüstere, dass ich dir dein Geschnaube verzeihe. Wie zu Beginn, macht mich deine warme Haut an meinem Ohr wieder etwas schläfrig und ich gähne. Ich weiß, sage ich, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf dir einschlafe. Wenn mir das jetzt passiert, flüstere ich dir ins Ohr und die mich erwischen, sind alle Vorbereitungen umsonst gewesen und ich bin geliefert und die schmeißen mich im hohen Bogen raus. Deswegen habe ich mir etwas einfallen lassen. Heute Nacht, mein Schatz, heute Nacht ist es endlich soweit.

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Bei Kaffee und Kuchen

Eines Sonntagnachmittages im April trug es sich zu, dass ich Besuch empfing. Es läutete und mit einem großen Strauß gelber Tulpen tratet ihr auf den Flur. Wir fielen uns in die Arme, küssten uns auf die Wangen und freuten uns, was für wunderbar sonniges Frühlingswetter ihr doch mitbrachtet und alsbald ein erstes Picknick anstünde. Und wie bei jedem Sonntagsbesuch hattet ihr auch euren geliebten Perserkater im Weidenkorb mit. Schläfrig hob er kurz die Augenlider, ehe er uns wieder unserer Wiedersehensfreude überließ. Der Kaffee wurde gekocht, die Blümchenteller wurden bestaunt und die Tulpen mit Wasser versorgt. Ein geselliges Geschnatter begann, den Kuchen im Mund lachten wir und übertrafen einander im Loben unserer beiden selbstgebackenen Kuchen. Natürlich nach Omas Rezept und nur sie könne ihn perfekt. Die zweite Kaffeekanne wurde gekocht und es blieb nicht aus, einen Gang auf die Toilette zu unternehmen. Bereits vorbereitet, konnte sogleich noch die Kochwäsche angestellt werden. Das Stubenfenster weit geöffnet, genossen wir die warmen Sonnenstrahlen. Der Familie ginge es wunderbar, die Kinder würden studieren und der Job wäre anstrengend, aber bald hättet ihr Urlaub, darauf würdet ihr euch freuen. Ja und den Kater den würdet ihr mitnehmen im Wohnwagen, aber im Herbst auf die Malediven, da wäre das nichts für ihn und ihr würdet überlegen ihn in eine Katzenpension zu bringen für die fünf Tage, denn die Nachbarin wäre ja verstorben, die sich immer gekümmert hätte. Nun würde dort eine WG leben, die jeden Montag Partys feiere und ihr wäret ja froh, dass eure Kinder so nicht wären. Der Kuchen wäre ja so lecker gewesen, aber ihr wäret nun so satt, sodass ihr gleich nach Hause spazieren und das Abendbrot heute wohl entfallen würde. Unglaublich lecker wäre es gewesen und toll sich endlich einmal wiedergesehen zu haben. Das müssten wir bald wiederholen und ja, dass Picknick, das sollten wird bei dem schönen Wetter im Auge behalten. Es wurde noch einmal in den Badezimmerspiegel geblickt, ehe die Jacken vom Haken genommen und lässig über die Schulter gelegt wurden. Und wo denn eigentlich der Kater wäre, der hätte sich wohl mal wieder ein ruhiges Plätzchen gesucht und wäre eingeschlafen, der dicke Liebe. Die Waschmaschine piept und während ihr eure Schuhe anzieht, könne die Wäsche auch schnell aus der Maschine genommen werden, schließlich sind es nur drei große Bettlaken. Das Wiedersehen auf den Lippen, steht ihr in der Tür und schreit laut auf, als ich einen Perserteppich aus der Maschine ziehe.
Zu dem Picknick ist es nie gekommen.