Aljoscha VI

In den ersten fünf Teilen erlebt Aljoscha wie ein Mann auf der Straße zusammenbricht und sich daraufhin ein Doktor und eine Heilerin an Kopf und Füße gegenüberstehend, um die richtige Behandlung des Kranken streiten. Dabei schneit dieser Mann vor aller Augen Stück für Stück ein und verstirbt schließlich. In der Zwischenzeit stellen sich die Bewohner des Ortes stellvertretend für ihre Ansichten hinter den Doktor oder die Heilerin. Aljoscha entscheidet sich für den Doktor. In der Folge entkommt er mehreren Schlägereien und landet halb erfroren an genau jener Stelle, an der der Mann am Morgen erfror. Er findet eine Ledertasche mit Papieren des Mannes. Diese nimmt er an sich und wird von einem weiteren Betrunken verprügelt. Der Gastwirt will ihn nicht mehr in seiner Gaststube haben. Somit wird es für ihn Zeit, einen anderen Ort zu suchen:

Er sah in den Lichtkegel, der aus dem Fenster der Gaststube leuchtete, in dessen Fensternische er seit mehreren Jahren hockte, sich recht und schlecht im Gastraum aufwärmte, dabei auf die übervollen Teller der Gäste schielte und ungeduldig darauf wartete, dass einer von den gut gekleideten Herren satt oder zumindest müde wurde, den halbvollen Teller launig von sich schob und kopfüber am Tische einschlief. Aljoscha wusste, dass mit den Ereignissen der letzten Tage eine Rückkehr in den wärmenden Gastraum mit seinen weit gereisten Gästen und dem gewalttätigen Besitzer unmöglich geworden war. Ohne es begründen zu können, ahnte er, dass er aus diesem Ort weggehen musste. Es war ihm nur noch nicht ganz klar, wohin er in dieser Welt zu gehen hatte, wo ab jetzt sein neuer oder gar angestammter Platz werden würde. Er grübelte, ob es richtig war, so zu denken und ob es richtig war, die Geschwister ohne einen herzlichen Abschied allein zu lassen. Andererseits wollte er dem Jähzorn und der Wut der unberechenbaren Heilerin mit all ihren Anhängerinnen entweichen. Denn so viel war ihm klar, sie würde ihn nun, nachdem ihre Macht von ihm und den Doktor Michail Michailowitsch in diesem Ort infrage gestellt worden war, nicht mehr in Ruhe lassen und, wo sie nur konnte, ihn verfolgen. Das Gasthaus als tägliche Zuflucht, die Schule mit dem Lehrer, der grundlos zuschlug und der Vater, der nach dem Tod der Mutter traurig und manchmal unberechenbar wurde, und die Geschwister, um die er sich zu kümmern hatte, waren nun nicht mehr sicher. In diesen Bereichen seines Lebens hatte die Heilerin, wenn sie nur wollte, Zugang und konnte ihren Hass jederzeit durchsetzen. Um sich diesen einengenden Gedanken zu entziehen, machte er das, was er gern in solchen Momenten tat, er sah in den Himmel und suchte seine Heiligen. Dass sie ihn beschützten, wusste er, denn zu oft war er in seinem bisherigen Leben dem Tode nahe gewesen und jedes Mal wurde er, wie durch ein Wunder, gerettet. Nur das dieser Himmel, in dem seine Schutzheiligen wohnten, jetzt voller weißer, dicker Schneeflocken war. Er verfolgte einen vorbeiziehenden Windzug, der eine Vielzahl von Schneeflocken in einem Zuge mit sich fortriss und zu einer einzigen großen Wolke verband. Er folgte ihrem langgezogenem Wolkenflug aus dem Dunkel der eiskalten Nacht auf die verschneite Straße, die Wegbiegung mit ihrer kindshohen Verschneeung, sah weiter und weiter, hinüber zu den Häusern und von dort wie sich die Tür des Gasthauses in dem schneefeinen Gestöber, das sich rasch um die Tür zu einem tanzendem Spiel verwirbelte, öffnete und zwei angetrunkene Gäste aus dem Lichtkegel mehr oder minder singend herausschwankten. Sie stützten sich an den Schultern, klopften sich abwechselnd auf die Mäntel und liefen den beschneiten Weg zur Straße in seine Richtung entlang und diskutierten lebhaft über finanzielle Möglichkeiten, ja gar den unsagbaren Reichtum, den Sankt Petersburg oder Moskau böten. Sie waren sich einig, dass ein jeder ehrbarer Russe die Städte mit den goldbedeckten Kathedralen, den Flüssen und den großen farbigen Palästen mit ihren ausladenden Treppenanlagen, die sich an den breit ummauerten Ufern wie Perlen aufreihten, sowie die Einwohner in ihren edlen Kleidern, unbedingt gesehen haben musste. Auch waren sie sich einig, dass die Petersburger Mädchen, hoje, den Moskauer Frauen, naja, in jedem Fall vorzuziehen seien. Dabei schnalzten sie laut und fuhren sich anerkennend über ihre Bärte. Aljoscha weckte bei dem Gespräch, das er, so gut es eben im Schneegestöber zu belauschen war, weniger die Lust auf irgendwelche Mädchen oder gar Frauen, denn damit konnte er in seinem Alter nicht wirklich etwas anfangen, egal wie oft und merkwürdig die Männer darüber zu sprechen kamen. Manchmal ging ihm die Heimlichtuerei der Großen zu weit und er war sich sicher, dass das nicht viel mehr sein konnte, als Besserwisserei gegenüber den Kleinen. Denn so viel hatte er begriffen, hatten die größeren Jungen tatsächlich mit Mädchen zu tun, waren sie meist launisch oder sonnten in Tagesfantasien vor sich hin und waren außer Stande auf dem Felde die ihm zugewiesene Arbeiten zu verrichten. Und nicht selten bekamen sie für ihre Mädchenträume eine mit dem Besenstil oder gleich die flache Hand. Aljoscha weckte vielmehr die Vorstellung vielleicht in diese Kathedralen und Paläste gehen zu dürfen, zumindest kurz hineinzuschauen, um die goldglänzenden hochherrschaftlichen Leute oder gar die Zarenfamilie bestaunen zu können. Diese Vorstellung gefiel dem Jungen und er folgte den Herren so nah als nur irgend möglich, um ja keines ihrer kostbaren Worte zu verpassen. Diese Worte zogen den Jungen immer und immer näher an die beiden Herren heran, dass er ihnen, als diese plötzlich an einer Kreuzung zu stehen kamen, fast in den Rücken gefallen wäre. Die Herren besprachen noch dieses und jenes und verabredeten sich schließlich für den nächsten Tag Punkt neun Uhr an der Bahnstation nach Moskau, um gemeinsam ins Kaufhaus zu gehen und dort die neuesten Waren von Übersee einzukaufen. Die Verabredung gefiel Aljoscha. Und so beschloss der Junge, in seiner Not und auch aus seinem kindlichen Wagemut heraus, am anderen Morgen ebenfalls dort zu erscheinen und sich hinter den beiden Herren auf irgendeine geschickte Art in eine der vielen Wagons zu schleichen, sich unter eine Bank zu legen oder hinter einen Stapel Waren zu kauern und ebenfalls nach Moskau zu fahren. Vielleicht bekäme er für den Inhalt der gefundenen Tasche etwas Geld, um seinen Geschwistern warme Kleidung und Schuhe zu kaufen. Vielleicht könnte er dem Schaffner bei seiner Rückkehr auch das nicht bezahlte Fahrgeld nach Moskau zurückerstatten, denn Dinge zu benutzen, ohne sich die Genehmigung des Eigentümers einzuholen, oder sie gar zu stehlen, war Sünde.

Am anderen Morgen, es war immer noch kalt und der verdeckte Himmel ließ den Schnee immer noch herunterrieseln, wenn auch nicht mehr in der Fülle, wie die Tage zuvor, tummelten sich die dickbepelzten Damen und Herren umringt am ofenbeheizten Bahnsteig und traten von einem Bein aufs andere und sahen ungeduldig in Richtung, aus der der Zug kommen musste. Bei dem Anblick der feinen Leute wünschte sich Aljoscha in eben einem solchen Pelz zu stecken, weniger weil er zu diesen ehrbaren, hochgestellten Leuten zählen wollte, nein, das war ihm bewusst, dass solch ein vermessener Wunsch gegen die heilige Ordnung und somit nur Unheil mit sich bringen konnte. Vielmehr wünschte er sich in einen Pelz, weil er sich seit gestern Nachmittag auf der Straße befand und fror. Und immer wenn er fror wünschte er sich gern in die wohltuende Wärme dieser edlen Pelze hinein, denn das gab ihm für einen Moment das wohlige Gefühl nicht mehr so sehr zu frieren. Bei diesen Gedanken schlich er an den Holzstapel, griff sich zwei Scheide und trug sie zum Ofen. Er spekulierte darauf, dass keiner dieser Wartenden sich fragen würde, was der zerlumpte Junge dort tat. Vielmehr würden sie wie von einer unsichtbaren Hand dirigiert, stillschweigend Platz machen und ihm seine niedere Arbeit verrichten lassen. Und so trat Aljoscha an den Ofen heran, besah ihn, legte erst einen Scheid, danach den anderen Scheid auf den Boden, nahm das Ende seines Schals, wickelte es um die Hand und öffnete ganz langsam die Luke. Er ging einen Schritt zurück, danach wieder nach vorn, nahm den Schürhaken, drehte ihn um die eigene Achse, rieb das saubere Eisen sauber und stocherte genüsslich in der orangen Glut. Die Wärme, die die Öffnung hergab, tat ihm gut. Am liebsten hätte er sich neben den Ofen gelegt und die Müdigkeit und die Aufregung der letzten Tage mit einem ausgiebigen Schlaf beendet. Wieder stocherte er in der Glut und beobachtete die Wartenden. Wie von ihm vorhergedacht, beachteten sie ihn keines Blickes und erzählten von den Schönheiten, die Moskau zu bieten hatte, und von dem, was sie in den unzähligen Geschäften für ihre Verwandten alles zu kaufen gedachten. Für einen Moment träumte er sich bei der wohltuende Wärme in all die gesagten Worte und Wünsche der Umherstehenden hinein, schloss die Augen und taumelte leicht vor sich hin. Doch ein Schlag in den Nacken und die Aufforderung nicht zu träumen und vielmehr seine Arbeit zu verrichten, ließ ihn wieder wach werden. „Du elender Faulpelz, wir frieren hier und du steht faul herum, na so etwas hat der Herrgott zum frühen Morgen noch nicht gesehen. Nichtsnutz!“  Aljoscha hob den Scheid und schob ihn schnell in die Öffnung. „Na wird’s was, du Taugenichts! Beeil dich, sonst mach ich dir Beine!“ Aljoscha mit der Stimme des Mannes im Nacken, hob rasch den anderen Scheid auf und schob ihn ebenfalls hinein. Er sah wie die Flammen sich um die zwei Holzscheide schlangen und Stück für Stück an ihnen empogzüngelten und kurz aus der Luke herausloderten. Verschlafen hob er die Hände und hielt sie in Richtung Öffnung. Ein weiterer Schlag von links und dann einer von rechts auf sein Genick nahmen ihm das Gleichgewicht. Um nicht mit dem Gesicht in die Öffnung zu stürzen, streckte er die Arme, spreizte die Hände seitwärts und stützte sich mit dem ganzen Gewicht seines schmalen Körpers an der metallenen Ofendeckung ab. Er stieß die Teekanne um, dass sie krachend in den Schnee fiel und diesen für einen kurzen Moment braun werden ließ, um dann in Windeseile zu Eis zu gefrieren. Der Mann schlug ein weiteres Mal auf ihn ein, dass er sich noch fester an der glühenden Ofenabdeckung festhielt. Die Hitze schoss in die Hände. Es kam ein weiterer Schlag und ein Fluch hinzu. Ein anderer Mann, zog ihn von dem Ofenloch weg und rieb ihm frischen Schnee auf die Handinnenflächen. Aljoscha begriff nicht recht was mit ihm geschah. Er zog die Schultern zusammen und beugte sich nach vorn. Aus dieser demütigen Stellung heraus, die weitere Schläge verhindern sollte, versuchte er den Mann, der seine Hände abrieb, zu erkennen. Er blickte für einen kurzen Moment zu ihm auf und erkannte Doktor Michail Michailowitsch, der ihn und seine Geschwister in letzter Zeit mit guten Worten und kleinen Geschenken unterstützte, und hinter dem er sich heute Morgen gestellt hatte, als die Heilerin kreischend den Sterbenden im Schnee für sich beanspruchte und ihn dann kurzerhand erfrieren ließ. „Aljoscha, meine guter Junge, was machst du denn hier? Guter Junge, du gehörst nach Hause!“ Nachdem der Doktor ihm die Hände gründlich mit Schnee abgerieben hatte, kam der pochende Schmerz in ihm wieder hoch. „Was willst du hier!“, fragte er und Aljoscha antwortete zögernd: „Ich will nach Moskau, verehrter Herr!“  Nach einer Pause rief der Doktor: „Unsinn, Moskau ist nichts für dich, du überlebst dort keine zwei Wochen. Moskau ist etwas für feine Leute. Besser du bleibst hier!“ Doch Aljoscha blieb hartnäckig und sagte. „Ich, ich kann doch nicht…, Sie wissen, was die Heilerin angerichtet hat, Sie wissen, sie wird jeden im Ort gegen mich aufbringen, den Gastwirt, den Lehrer, den Vater, die Frauen vom Markt. Alle! Alle! Wo soll ich hin? Außerdem habe ich die vielen Papiere aus dem Beutel bei mir. Die muss ich doch irgendwem übergeben!“, flüsterte Aljoscha. Bei dem Wort Beutel zuckte der Doktor für einen Moment zusammen und schaute nach links und rechts, ob auch niemand zuhörte. Er holte tief Luft, schwenkte seinen rundlichen Kopf mit der großen, runden goldfarbenen Brille, die auf seiner Fleischnase wie ein aufgestecktes Fahrrad am Bordstein steckte. Und um ein Haar wäre bei der übereifrigen Bewegung die spitze Pelzmütze vom Kopfe heruntergefallen. Er holte noch einmal Luft, dieses Mal vorsichtiger, drehte wie geistesabwesend die Hand einmal um die eigene Achse herum und zog sie mit den Fingerspitzen nach unten, als wolle er einem eben eingetretenen Patienten bedeuten, dass er sich ohne viel Federlesen zur anstehenden Untersuchung entkleiden und hinlegen solle. In einem undefinierbaren Tone sagte er: „Zeig mir doch einmal die Papiere!“ Aljoscha holte die Papiere aus der linken und rechten Hosentasche und übergab sie dem Mann. Der Doktor hielt sie vor sich hin, schob den Kopf mit der aufgesteckten Brille noch näher an die Papiere und musterte die Zeilen von oben bis unten wie die Haut eines unbekleideten Patienten. Dann sagte er: Soso, naja, hm!“ Und nach einer Pause sagte er „das ist aber interessant!“ und schob dabei seinen Kopf zurück, wieder vor und wiederholte: „So, so, interessant! Sehr interessant… hab ich so noch nicht gelesen… da müssen wir sehen!“ Er sah von den Papieren abwechselnd zu dem Jungen in Richtung Zug, sah wieder zu dem Jungen, schob den Kopf hoch, um etwas Bedeutendes zu sagen, zog den Kopf aber abrupt zurück bis tief in den Kragen hinein, sodass man denken konnte einen Mann ohne Hals vor sich zu sehen. Aus der Brille schielend, die wie auf seinem Kragen zu thronen schien, sagte er erstaunt: „Soo, so, ach je, du frierst ja mein Junge, du frierst. Oh, entschuldige“ und griff in seine Tasche, nahm eine zusammengefaltete Decke heraus, die er wohl auf längere Fahrten mitzunehmen pflegte, und wickelte sie fest um die Lenden des Jungen und knotete sie vorn am Bauchnabel gekonnt mit einer straffen Schleife zusammen. Der Zug fuhr ein und die Leute in ihren Mänteln drängelten Pelz an Pelz, Mütze an Mütze, Schulter an Schulter an die Wagontüren, dass man das Gefühl bekam in einer einzigen Woge aus braunen, schwarzen, ockerfarbenen Fellhaaren unterschiedlichster Formen und Längen zu schwimmen. Die Leute stiegen hektisch ein oder drängelten mit mahnenden oder vorwurfsvollen Worten heraus. Doktor Michail Michailowitsch griff den Jungen abrupt am Arm und sagte: „Aljoscha, höre mir jetzt gut zu! Diese Zettel haben, glaube ich eine große Bedeutung. Sie könnten dein und mein Leben im Guten wie im Bösen verändern. Wenn du bereit bist, immer das zu tun, was ich von dir verlange und mir verspichst, stets bedingungslos zu gehorchen und deinen Mund zu halten, nehme ich dich mit nach Moskau. Versprich mir das!“ Der Junge, der nicht mit der Heftigkeit und dem klammernden Griff des schmächtigen Doktors gerechnet hatte, stand sprachlos vor ihm. Aljoscha ahnte seine Sprachlosigkeit. Er ahnte, dass er nicht schwieg, weil es sich nun mal so gegenüber den Wohlgeborenen dieser Welt gehörte, oder weil er drohenden Schlägen entgehen wollte oder weil es klug in dieser Situation gewesen wäre. Nein, er schwieg, weil er diese Situation gegenüber einem geliebten Menschen überhaupt nicht kannte. Und erstmals, so schien es ihm, wagte er sich, dem Doktor ins Gesicht zu sehen und er wusste nicht, was er von diesem Gesicht halten sollte. Er sah die braunen Augen hinter Gläsern unter flauschigen Augenbrauen. Ihn verwirrten die vielen Pelzkragen, die sich hektisch in einem Knäul hin und her um den Mann mit der Goldbrille bewegten. Ihn störte der Ruß, der den Bahnsteig entlang zog. Ihn verunsicherten die fleißigen Gepäckträger, die schnellen Schrittes ihre schweren Kofferkarren quer durch die vielen Leuten störungsfrei zu manövrieren versuchten. Wegen alledem blieb er stumm. Wieder griff der Doktor ihn am Arm und wiederholte seine Worte, dieses Mal eindringlicher, und er sprach ihn beim Namen an. „Aljoscha! Aljoscha, hörst du mich. Bist du bereit dich mir bedingungslos unterzuordnen!“ Der Junge sah auf die Brillengläser des Mannes und erkannte in ihnen das Gesicht eines Jungen mit schmalem Gesicht, schmaler Nase, langen lockigen ungepflegten Haaren auf einem dünnen Hals, der wiederum im gestrickten Schal seiner Mutter steckte. Der Doktor warf seine Tasche zu Boden, riss die kurzen Arme hoch und drehte sie im Kreis vor den Augen des Jungen und fragte in die Länge gezogen: „Aljoscha?“ Der Junge nickte geistesabwesend. „Aljoscha, bist du bereit“, hob der Doktor an und in die Länge gezogen, „das zu tun, was ich dir sage und mir nicht zu widersprechen, egal, was ich von dir verlange?“- „Einsteigen, Einsteigen, bitte einsteigen!“, rief eine warnende Stimme. „Einsteigen, der Express nach Moskau fährt in wenigen Minuten ab!“ Bei dem Wort Moskau wurde der Junge aus seiner Starre wach und sah durch die Gläser und erblickte den Zorn des von ihm verehrten Mannes. Der Doktor wedelte immer noch mit seinen Händen vor den Augen des Jungen. Aljoscha nun wach geworden, drehte den Kopf nach links und rechts, sah den langen Zug mit seinen vielen Wagons und der dampfenden Lokomotive, die ihn in die Paläste und Kathedralen bringen sollte. Er erinnerte sich an die blödsinnige Formulierung, dass Petersburger Mädchen irgendwie schöner seien als die Moskauer Frauen und hatte auf einmal eine Ahnung, dass da irgendwas dran sein musste, den Mädchen klingt doch irgendwie viel weicher als das Wort Frauen. Außerdem spürte er wieder den Wunsch seinen Geschwistern nach seiner langen Reise viele Geschenke mitzubringen. Er hob die Schultern weil er nicht wusste, was es mit dem Doktor, den Geschenken, der Heilerin auf sich hatte, weil er Hunger verspürte, weil der Nacken schmerzte, die Hände brannten, weil der Bahnsteig zunehmend leer wurde, weil… „Alles einsteigen, alles einsteigen, der Zug nach Moskau fährt gleich ab. Bitte alles einsteigen. Letzte Möglichkeit!“ „Aljoscha“, wiederholte der Doktor, “bist du bereit!“ – „Alles einsteigen!“ rief der Bahnvorsteher unbestimmt. „Aljoscha, wirst du das tun, was ich von dir verlange?“, mahnte der Doktor. „ Bitte wegtreten und die Türen schließen! Bitte gehen Sie dort weg, verehrter Herr!“, rief der Bahnbeamte bestimmt aber freundlich. „Aljoscha!“ – „Bitte von der Bahnsteigkante wegtreten!“, wiederholte der Bahnvorsteher im bestimmten Tonfall. „Aljoscha!“, rief der Doktor wieder und wieder. Von der drohenden Ohnmacht vernebelt, von der irrwitzigen Idee beseelt, sich und seinen fünf Geschwistern aus dem Elend befreien zu wollen, von der Freundlichkeit dieses Mannes irgendwie umhüllt und doch ahnend enttäuscht, von der kindhaft-jugendlichen Verwirrung nach Neuem, nach Unbekannten, nach Licht, nach weniger Schnee, weniger Schlägen, nach Irgendetwas, vielleicht auch nur weit weg vom Fenster, weit weg von den Speiseresten und hin zu den lebenslustigen, frohen Kaufleuten, die ungestüm im Wirtshaus aßen und „Hejo, Herr Wirt riefen“ und von der Fremdheit berichteten, die der Wirt so gern hörte und die sie ihm reichlich mit Trinkgeld vergoldeten, wenn er ihnen nur lange genug zugehört hatte. Der Junge nickte apathisch und sagte benebelt: „Wenn, wenn Sie es wünschen, so gehöre, so gehöre ich Ihnen, verehrter Herr Michail Michailowitsch. Ich, ich mache alles, alles was Sie von mir verlangen, ich gehorche Ihnen, ich werde Sie bedienen, ich…, ich bin gottesfürchtig.“ Er taumelte. „Versprich es bei den Heiligen, bei deiner Mutter und bei deinen Geschwistern!“, zischte der Doktor. „Ich verspreche es beim toten Leib meiner Mutter und bei all meinen Heiligen im Himmel und dem Leben meiner Geschwister!“ Der Doktor machte eine beschwichtigende Bewegung und sagte leise: „Gut Junge, gut, ist schon gut, dann sind wir beide, du und ich, uns einig und an Weihnachten in Moskau. Mit ernster Stimme fügte er zu: „Nun steig ein und folge mir! Beeil dich, komm, deine Zukunft liegt nun in meinen Händen!“ Er steckte die Papiere in seine Brusttasche, griff die Reisetasche und die schlaffe Hand des Jungen und zog sie und seinen nachfolgenden fast wehrlosen Körper die Stufen hinauf in den Zug und den Gang entlang in sein Abteil. Dort angelangt, zog er hastig die Gardinen zu und setzte den Jungen auf den gegenüberliegenden Sitz, auf dem er sofort umkippte und einschlief. Er setzte sich ihm gegenüber und beobachtete den Schlafenden mit den ungewaschenen, schwarzen Locken, dem dürren Körper in der dreckigen Kleidung, der sich bei jedem seiner Atemzüge auf und ab bewegte und von der wollenen Decke, die der Doktor von einer seiner vielen Reisen, über die er sich nur ungern äußerte, mitgebracht hatte und die mit einem festen Knoten am Körper des Jungen nun zusammen gehalten wurde. Fortwährend sah er ihn an und sagte: „Weihnachten, mein Junge, Weihnachten sind wir in Moskau. Weihnachten sind wir bei mir!“ Zitternd putze er die Brille, griff danach noch zitternder in die Brusttasche und holte den Stapel Papiere hervor, die der Junge in den letzten Tagen so sorgsam und nichtsahnend in seinen Hosentaschen mit sich trug. Mit Mühe faltete der Doktor die Seiten auseinander. Beim Knistern des Papierstapels hielt er abrupt die Luft an, dass sein kleines rundes Gesicht puterrot anlief und er nach Luft ringen musste. Dabei zitterten seine Hände so heftig, dass sich die Zettel im Abteil verteilten. Einer dieser Zettel verfing sich in den Locken des Jungen und glitt auf sein schlafendes Gesicht. Unter diesem Blatt, das mit schwungvollen Buchstaben und Zahlenreihen und zwei roten Siegeln mit Doppeladler versehen war, murmelte Aljoscha: „Mos…kau… Peters…b.“ Der Schaffner pfiff zweimal kurz, die Lokomotive schnaufte, die Wagons ruckelten und der Express-Zug nach Moskau setzte sich langsam in Bewegung.

Weiß-orange-blauer Rollkragenpullover

Ich stand an der Gedenkstätte am Mauerstreifen der ehemaligen Grenzsicherungsanlagen der DDR in Berlin in der Bernauer Straße. Ich beobachtete die Kinder, die auf dem in die Erde eingelassenem Metallstreifen wie auf einem Holzbarren spielend balancierten. Ich sah wie sie die Fußspitzen mal auf die eine Seite, mal auf die andere Seite der Sperranlage schoben, als tanzten sie darauf. Sie drehten sich auf dem Metallband um die eigene Achse, reckten die Hände in die Luft und kicherten. Die Sonne schien ihnen dabei ins Gesicht. Als sie genug von ihrem Spiel hatten, taten sie so, als hopsten sie im hohen Bogen von einer Mauerkuppe. Sie gingen in die Knie, hoben die Arme nach oben, sprangen in die Luft und auf die Pflastersteine. Die einen in den Osten, die anderen in den Westen, so wie ihnen zumute war, geradewegs in die offenen Arme ihrer Eltern. Das gefiel mir. Ich sah den Kindern mit der mir unbekannten Sprache zu und sagte zu alledem kein Wort. Ich schwieg.

Von den Kindern ermutigt, ging ich langsam auf den Mauerstreifen zu. Ich beugte meinen Kopf nach unten und sah auf das Metall, das in der Sonne gleiste und meine Augen wie einen Flutlichtstrahler, der mir ins Gesicht gerichtet wurde, blendete. Ich stellte erst den einen Fuß auf das Metall, auf dem die Kinder eben noch ausgelassen gespielt hatten und danach den anderen darauf. Ich drückte beide Füße fest auf den Streifen, um zu prüfen, ob das Metall nicht doch nachgab. Ich wippte. Mir wurde schwindlig. Für einige Sekunden blieb ich starr auf dem Metallstreifen, der die ehemalige Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik symbolisiert, stehen. Ich bekam Rückenschmerzen. Ich umgriff meinen rechten Rippenbogen. Die Rückenschmerzen nahmen zu. Ich griff nach dem Spray in der Jackentasche, das ich nach der Wende vom Arzt verordnet bekam, zog es heraus und nahm zwei Hübe. Erleichtert sah ich in die Sonne, schloss die Augen und drehte den Kopf in die Strahlen. Ich drehte den Kopf hin und her, wie ich es zwei Jahre lang wöchentlich tat, wenn ich mein gefordertes Limit erfüllt und dafür extra Zeit zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Ich setzte mich auf das Metallband und versuchte in meine mitgenommene Tüte zu atmen. Die Kinder kamen von vorn und hinten auf den Metallstreifen angestürmt und winkten mir zu, weil sie dachten, ich mache irgendwelche Kunststücke. Ich blies in die Tüte und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Die Kinder lachten und zeigten auf mich. Ich beugte mich auf, setzte einen Fuß vor den anderen und tat so, als ob ich von einer Kante stürze. Die Kinder gaben keine Ruhe, umringten mich und sprachen in verschiedenen Sprachen auf mich ein. Der anschwellende Lärm ängstigte mich. Ich senkte den Kopf nach unten und setzte mich wieder hin. Die Kinder tollten um mich herum, hoben und senkten ihre Hände im Licht der Sonne, das ihre Schatten auf mich niederprasselten. Mit einem sanften Stoß befreite ich mich aus dem Kreis ihrer Beine. Ich bewegte mich zu der rostigen Eisenwand und blieb vor der Galerie stehen. Meine Luftnot wurde nicht wirklich besser. Ich ging die metallene Galerie entlang, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Ich drehte mich zu der Wand, schaute ohne wirklich hinzusehen auf die Fotos der Männer, Frauen und Kinder und verharrte vor dem Foto eines lächelnden, schwarzhaarigen jungen Mannes im Rollkragenpullover. Das Gesicht mit den braunen Augen, den Grübchen und dem Leberfleck am Kinn war mir vertraut. Ich kannte es. Ich kannte das Lächeln und ich liebte es. Ich kannte auch den Rollkragenpullover. Dieser Pullover war diesem Mann wenigstens zwei Nummern zu groß gewesen und er meinte, dass das elende Ding sowieso nur kratzte. Dieser Pullover, den er auf dem Foto trug, war von meiner Mutter frisch gewaschen und auf die Leine gehängt, was uns damals nicht daran hinderte ihn beim Weggehen in ein anderes Land von der Leine zu nehmen und an den Rucksack zu binden, um ihn in der Nacht zu verwenden, wenn es kalt werden würde. Kalt vom Warten auf den richtgien Moment. Kalt vom Kauern im Gras. Kalt auch vor dem Unbekannten. Angst hatten wir anfangs nicht. Ich betrachtete das Foto und suchte die Stelle an der Schulter, an der der Pullover von meiner Großmutter ausgebessert wurde. An dem Tag, an dem ich ihn von der Wäscheleine nahm, wurde er vier Mal beschädigt. Nie wieder war ich diesem Mann in dem gestreiften Pullover, diesem Gesicht, dem schönen, schlanken Körper, der sich darin verbarg, so nah, wie in dieser warmen Sommernacht. Zusammengekauert, Knie an Knie, Herz an Herz, Gesicht an Gesicht. Ich weiß nicht, ob er es in dieser Nacht, in diesem Moment geahnt hatte. Diese Frage kann ich bis heute nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob er überhaupt begriff, dass ich ohne ihn nicht weg wollte, weg konnte, das ich aber unbedingt weg musste, ich mich unter den Anderen nicht wohlfühlte, die dummen Sprüche nicht mehr ertrug und endlich frei sein wollte. Frei. Ich habe mich Abend für Abend in meiner Zelle gefragt, was passiert wäre, wenn ich ihn nicht überredet hätte. Und ich habe in den Nächten, in denen ich mich auf Zelleninsassen einlassen musste, gefragt, warum er mitging, wo er doch hätte bleiben können, er, der bei allen im Ort beliebt war, den jeder mochte, die Lehrer, die Schüler und die gut aussehenden Mädels im Besonderen. Nur in diesen Minuten, in denen die anderen in der Zelle mir ihren Rücken zudrehten und taten, als ob sie schliefen und nichts mitbekommen wollten, war ich mir absolut sicher, die Wahrheit über uns beide zu kennen. Schon als Kind spürte ich, dass er der Stärkere von uns beiden war. Ich liebte seinen Mut, seine Sportlichkeit, seine Fähigkeiten mit den Größeren aus der Schule zu wetteifern. Ich beneidete ihn dafür, dass er jeden mitreisen konnte, dass er uns zu allen Dummheiten überredete, die wir, egal, wie sie endeten, nie bereuten. Ein letztes Mal habe ich seinen Mut gespürt, als er sich im Scheinwerferlicht vor mich warf, mein Gesicht mit seinen Händen berührte, mein Kopf fest an sein Gesicht drückte und im Lichtkegel mehrerer Scheinwerfer küsste und danach wie in einem amerikanischen Schwarz-Weiß-Film die Augen schloss und die Arme seitwärts auf meine Beine fallen ließ. Den zusammengeknüllten Zettel, den er in meine Hand schob, verscharrte ich mit den Fuß und versuchte mir die Stelle mit einem in die Erde aufgemalten X einzuprägen, während die Grenzposten auf uns einprügelten, auf seinen leblosen Körper ebenso wie auf meinen zusammengekauerten. Was auf dem karierten Zettel stand, werde ich nie erfahren. Deswegen bin ich wohl jetzt auch wieder hier bei Ihnen? Ich weiß, seit Jahren sagen Sie mir immer wieder, dass ich mich vom Mauerstreifen fernhalten soll, dass ich aus dieser imaginären Rolle heraustreten muss, dass ich stattdessen einen eigenen Zettel beschreiben soll. Sie sagen das so, als wäre es ein Kinderspiel, Verantwortung für sich, für diese Nacht und für ihn zu übernehmen, wo es doch die DDR gab.

Was ich Ihnen noch nicht erzählt habe. Die Kinder kamen zurück und umringten mich. Sie lächelten und sahen auf das Foto des jungen Mannes mit dem weiß-orange-blau gestreiften Rollkragenpullover. Sie tapsten mit ihren schmutzigen Fingern auf das Foto und kicherten, dass ich für einen Moment wütend wurde. Ungeduldig zogen sie mich an der Hand und führten mich an genau jene Stelle, an der ich in die Tüte geblasen hatte und an der ich so tat, als ob ich von der Mauerkuppe in die Tiefe stürzte. Sie streckten ihre Köpfe ungeduldig zu mir hoch und sahen mich fragend an. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte und schwieg. Ich nahm meine Tüte, die ich stets bei mir trage und machte das, was ich immer mache: Grimassen. Das habe ich Ihnen beim letzten Besuch auch schon erzählt? Entschuldigen Sie bitte.

Alles, außer AfD

Siebzehn Uhr vierzig. Ich habe noch Zwanzig Minuten Zeit. Diese Wahlliste ist heute wieder besonders lang. Der Tisch reicht gar nicht aus. Namen über Namen über Namen und kein Schwein kennt sie. Am liebsten möchte ich den Schein zerreißen. Bloß, wohin mit den Papierschnipseln? Ich muss doch mit irgendetwas aus der Kabine rauskommen. Und was sage ich dann den anderen? Dass ich Wahlscheine… durchstreiche… das weiß doch keiner. Schließlich ist es eine geheime Wahl. Früher, da habe ich beim Wählen vorsichtig an die Decke gesehen, unter den Tisch gegriffen, ob da nicht doch irgendwo eine Kamera heimlich versteckt ist, bevor ich alles aus Frust durchgestrichen habe. Einmal, als ich wieder in eine dieser sinnlosen Endlos-Umschulungsmaßnamen gesteckt wurde und die junge Göre mit der Strähnchenfrisur mir wochenlang erst kein und dann ein viel zu geringes Übergangsgeld berechnete, habe ich auf dem Zettel alles durchgekrakelt und JAQUELINE NAGLER IST EINE DOOFE, UMSCHULUNGSWÜTIGE UND DAZU NOCH RECHENSCHWACHE ZIEGE draufgeschrieben. Das muss sehr geräuschvoll gewesen sein, denn einer aus der Nachbarkabine fragte mich lauthals, warum ich überhaupt wählen gehe, wenn ich doch sowieso die Kandidaten allesamt nur durchstreiche. Mann!, war mir das peinlich. Zu Honeckers Zeiten wäre ich dafür bestimmt abgeholt worden. Jetzt weiß ich noch nicht, wen ich dieses Mal von den verlogenen Politikern wählen soll. Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr vierundvierzig. Vier Minuten? Alles i.O. Die Uhr ist ein Hochzeitsgeschenk von Babette und das Einzige, was mir von ihr geblieben ist. Kandidaten über Kandidaten, eine endlose Reihe von Politikernamen. Was haben wir hier? SPD? Da weiß ich schon lange nicht mehr, wofür diese Partei überhaupt noch steht mit ihrem ständig wechselnden Partei-Vorsitzenden. Mit dem Harz IV war meine Babette weg. Erst hatte meine Frau NPD gewählt, da habe ich getobt und gefragt, ob sie vom Antifaschismus noch nie etwas gehört hätte und das mein Opa bei den Nazis gesessen hat. Kurze Zeit später hat sie durch meinen Cousin Ronny, der mit so einer aufgetakelten älteren, völlig zugeschminkten Abteilungsleiterin vom Arbeitsamt rumachte und dadurch stets in Ruhe gelassen wurde, eine Anstellung in Probe im Grundbuchamt bekommen. Urplötzlich hat sie nicht mehr NPD, sondern abwechselnd PDS und SPD gewählt. Da hätte sie auch gleich wieder die SED wählen können… Als sie stellvertretende Abteilungsleiterin wurde, wählte sie über Nacht die CDU. Und jetzt, wo sie zur Abteilungsleiterin aufgestiegen ist und sich so ´ne teure Elektrokarre leisten kann und mit dem Regionalleiter aus dem Westen zusammen ist, kauft sie nur noch Biogelumpe bei REWE und wählt Grün. Grün muss man sich erst einmal leisten können, sage ich immer zu meinen Kumpels. Grün kostet Geld. Grün gibt’s nicht umsonst. Babette kann froh sein, dass das damals geheime Wahlen waren, sonst wäre sie ihren Abteilungsleiterposten wegen ihrer NPD-Stimme ganz schnell wieder losgeworden. Apropos CDU? Die ist doch eher etwas für ältere Abteilungsleiter, die aus dem golden Westen kommen. Zudem ist die Merkel doch fast so lange dran wie zu unserer Zeit der Honecker. Und die FDP? Der Lindner in seinen schweineteuren Anzügen, seiner Haarverpflanzungsmacke, den Strähnchen und dem Privatisierungsfimmel nützt mir nichts. Mit meiner Glatze würde ich in dieser Partei der Vollhaaridioten auffallen. Dann doch eher Die Linke? Die sind für mehr Grundsicherung, mehr Rente, mehr Arbeitslosengeld, mehr, was- weiß-ich-was. Aber davon ist bei mir noch nichts angekommen, außer, dass sie die Wagenknecht rausgeschmissen haben. Was haben wir hier noch auf dem Zettel? AfD? Naja, ne, die AfD kommt für mich eigentlich nicht wirklich in Frage. Die habe ich schon beim letzten Mal nicht wirklich gewollt. Durchgelesen habe ich mir ihr Programm… ein… zweimal vor dem Schlafengehen. Interessehalber. Man hört ja so einiges, und da dachte ich mir… du liest dir das mal genau durch. Schaden kann´s nicht. Schlechter kann dir danach nicht gehen… Mutig sind sie, das muss man ihnen lassen. Obwohl sie niedergeschrien werden, ihnen das Wort in jeder Fernsehsendung abgeschnitten wird, schaffen sie es immer wieder doch ihre Meinung zu sagen. Naja, also, der Höcke ist ´ne Zumutung, das gebe ich als antifaschistischer Enkel zu, das… das geht dann wirklich zu weit. Und die Weidel mit ihrer AfD-typischen Perlenkette, ihrem Zopf und ihren überlangen Hemdkragen, ist auch völlig daneben. Ich habe wirklich nichts, nichts  gegen Lesben… aber früher gab´s so etwas noch nicht… Die Storch, die immer so verprügelt in die Kamera schielt, mit der Forderung zur Not die Flüchtlingskinder an der Grenze niederzuknallen, als ich das gehört habe… Das will doch kein vernünftiger Mensch. Trotzdem, ich könnte jetzt hier… reineweg ausversehen…  mein Kreuz… auf ihren Kreis… setzten, so wie damals meine Babett bei der NPD… und keine Sau wird´s jemals merken. Ist doch alles geheim. Kamera..?, ne, sehe ich nicht. Das ist der unbestreitbare Vorteil einer geheimen Wahl. Nicht wie bei Erich. Was sagt die Uhr? Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr achtundvierzig. Schon acht Minuten vergangen? Ach Gott. Babettes Uhr funktioniert immer noch tadellos. Das muss man ihr lassen, gekauft hat sie immer nur die guten Dinge. Ein Händchen hatte die und war stets modisch gekleidet. Nun gut, dafür habe ich ja auch `ne Menge Überstunden gemacht. Nein, nein, meine Stimme bekommen die von der AfD nicht. Etwas wirklich zu bieten haben die nicht. Und Arbeitslosengeld zu privatisieren, das bekommt nicht mal die FDP hin. Hm, wem gebe ich sie denn nun? Ich kann doch nicht schon wieder aus der Kabine rausgehen ohne gewählt zu haben. Das geht doch nicht! Das habe ich früher mal gemacht. Davon ging mein Mindestlohn auch nicht weg. Den Zettel durchkrakeln, Gesichter draufmalen, wieder einen fetten, ekeligen Popel aus der Nase ziehen und ihn quer über die Zeilen schmieren, allen Kandidaten ein Kreuz verpassen, ein eigenes Parteiprogramm dranklippen… das hat mir nur in diesen Sekunden unendlichen Spaß gemacht. Geholfen hat es mir überhaupt nicht. Mein Gott, früher da war das irgendwie alles einfacher. Bei Honecker sowieso. Und nach der Wende da haben sich die Parteien wenigstens unterschieden, da hatte ich Hoffnung. Die überschlugen sich förmlich mit Visionen. Da machte es Riesenspaß, mal den einen, mal den anderen zu wählen, um eine Veränderung zu erreichen. Nach der Wende, da war ich so glücklich, dass meine Stimme endlich richtig gezählt wurde, da habe ich die Nacht vorher nicht richtig schlafen können, mich im Bett rumgewälzt, mit Babette rumdiskutiert, mit ihr Pläne geschmiedet, dass wir erst eine kleine Firma für mich und dann eine Firma für sie aufmachen werden, in eine schöne, schicke neue Wohnung ziehen, dann vielleicht ein Haus kaufen und um die Welt reisen und uns dann im Alter in Mallorca oder Frankreich niederlassen. Darüber hatten wir uns so heftig gestritten, dass wir tagelang nicht miteinander sprachen, bis ich dann wie immer nachgab und mit ihr nach Mallorca ziehen wollte. Zur ersten Wahl bin ich allen Ernstes im Jugendweihanzug gestolpert. Man musste ja dem Tag gemäß gekleidet sein, hieß es bei Honecker. Früher, ja früher, da war ich so aufgeregt, dass die im Wahllokal dachten, ich habe etwas getrunken. Die haben einfach nicht kapiert, dass ich unendlich glücklich war. Wir dachten ja alle, dass der Honecker und das Politbüro und die Mauer bis in alle Ewigkeit bleiben. Am Wahlabend bin ich mit dem Radio wie ein durchgeknallter Jugendlicher in der Altbauwohnung rumgerannt und habe Nachrichten auf allen Kanälen gesehen, sogar die Aktuelle Kamera verfolgt. Der Fernseher lief und lief und meine Babette fragte, ob sie die Stromrechnung gleich vom Kneipengeld abziehen soll. Wen ich damals gewählt habe… natürlich die Grünen. Unser Land war damals ökologisch tot. Später hing meine Wahl von den jeweiligen Arbeitsstellen, den Befristungen und den Löhnen ab. Schluss damit. Ich fasele hier vor mich hin. Früher, das war gestern. Basta! Wie lange bin ich hier? Oh Gott, siebzehn Uhr dreiundfünfzig. Dreizehn Minuten! Wem gebe ich denn nun mein verflixtes Kreuz? Das sich noch keiner beschwert hat, dass ich hier so lange sitze. Bei Erich wärs das mit der Karriere gewesen. Also, die AfD, mit ihren Ansichten zu Klimaschutz, zu völlig übertriebener Homosexuellen- und Lesbenwerbung an Schulen und zu straffällig gewordenen Ausländern sind für mich irgendwie… zumindest teilweise nachvollziehbar, obwohl ich selber noch nie Probleme mit solchen Leuten hatte, da ich keinen persönlich kenne. Im Gegensatz zu den Grünen kann man sich die AfD aber leisten. Die Kinder, die am Freitag auf die Straße gehen, haben noch nie auf etwas verzichten müssen. Ich schon. Jahrelang. Und den nächsten Urlaub verbringen die sicherlich mit Mama und Papa in der Karibik und knipsen tausende Fotos mit ihren gigantisch großen Handys, die sie dann sinnlos in die Welt schicken. Namen, Namen, Namen. Ist denn nicht irgendeiner für mich dabei? Gar nichts? Irgendetwas auf dem Wahlzettel muss doch mein Leben betreffen. Ich habe doch alles gemacht, was man von mir verlangt hat. Erst Schule, Junge Pioniere, FDJ, dann Armee, Tischler, dann Industriemeister, danach Fach-Ingenieursstudium. Nebenbei Altbauwohnung ausbebaut und Familie großgezogen. Ich bin mehrfach ausgezeichnet worden. Ich war immer ein Vorbild der Gesellschaft. Und schwuppdiwupp wurden nach Artikel soundso des Einigungsvertrages meine beiden Abschlüsse, alles, was ich geleistet habe, im goldenen Westen plötzlich nicht mehr anerkannt. Der verdammte Einigungsvertrag hat solche wie mich verraten. Klammheimlich. Einfach so. Und ich habe zu all dem Scheiß noch gejubelt, die Deutschlandfahne in Leipzig geschwungen und mich über die 6.000 DM gefreut, die ich 1 zu 1 umtauschen durfte. Fix einen Artikel geschrieben und schon gibt’s mich und meine Berufe nicht mehr. „Darf man das?“, habe ich die vom Amt gefragt. „Jawohl!“ So eine Sauerei kann man mit mir, mit uns doch nicht machen. Erst meine Arbeitsstelle weg, dann Babettes Laden zu. Das Arbeitsamt meinte, vom Prinzip sei ich ein Ungelernter und hätte mich still zu verhalten, denn ich sei ja schließlich Gewinner des wiedervereinigten Landes. Ich kenne eine Menge Leute im Osten, denen es auch so geht. Das sind die Fachschul-Ingenieure, die jetzt mit dem Herrn Gauland sympathisieren, oder ihm zumindest heimlich Erfolg wünschen, damit die Großparteien endlich eine saftige Abreibung bekommen. Ich kenne aber auch ´ne Menge, die die AfD nur wählen, weil sie damit endlich erreichen wollen, dass die Parteien sich endlich um uns kleine Leute kümmern. Nicht, dass diese Leute rechts sind, dass ich rechts wäre. Nein, nein, ich bin nicht rechts. Überhaupt nicht. Das bin ich nicht! Ich bin nur… nur nicht zufrieden. Ich merke, dass es überhaupt nicht weitergeht. Ich bin den Parteien scheißegal. Dass das keiner verstehen will. Ich denke… ich meine… würden nur ausreichend Leute die wählen, dann würden sich vielleicht die anderen Parteien, die ich alle mal gewählt habe… anstrengen und ich würde endlich aus dem verkackten Mindestlohn rauskommen, vielleicht meinen DDR -Abschluss wiederbekommen. Ich will ja gar nicht mehr als Ingenieur arbeiten, das würde ich sowieso nicht mehr packen… aber zumindest anerkannt werden, wieder anerkannt durch die Straßen gehen, „Guten Tag!“, sagen können, „Ich habe ein Fachschulstudium hinter mir, ich bin nicht ungelernt, Frau Nagler!“ Das, das wäre doch toll. Aus der ofenbeheizten Wohnung im vierten Stock, die ich vor über dreißig Jahren ausgebaut habe, würde ich auch gern endlich rauswollen. Mit 55 findet man die 86 Stufen auch nicht mehr prickelnd. Nur einen neuen Mietvertrag, kann ich mir doch im Moment gar nicht leisten. Und dass Babette wiederkommt, glaube ich schon lange nicht mehr, die bleibt bei ihrem reichen Wessi. Ich muss eher aufpassen, dass unsere Carola nicht Drüben bleibt. Dann bin ich ganz allein. Vom Prinzip her würde ich die AfD niemals wählen. Niemals. Aber vielleicht tut es ein anderer… Es gibt doch noch mehr Unzufriedene. Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr achtundfünfzig. Achtzehn Minuten. Oh Gott. Wo verdammt noch mal setzte ich jetzt das verflixte Kreuz hin? Ich habe ja nur die eine Stimme. Dafür bin ich doch 89´ auf die Straße gegangen. Dafür wurde ich vorgeladen… Klärung eines Sachverhaltes. Dafür habe ich mich mit meinen linientreuen Eltern, meinem Bruder und der knallroten Tante verstritten. Was soll ich jetzt ankreuzen? Linke? In der PDS war ich ´ne Zeit lang und auch in der… DSU. Hat alles nicht mein Leben verändert. Ich war bereit! Ich bin immer noch bereit! Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr neunundfünfzig. Neunzehn Minuten. Ach, herrjeh. Neunzehn Minuten! Ich muss mich entscheiden.

Bitte kommen Sie zum Ende, das Wahlbüro schließt um Achtzehn Uhr.

Soll ich, oder soll ich nicht? Wäre ich nur heute nicht hergekommen. Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl in meinem Jugendweihanzug hier noch einmal anzutanzen. Ich gehöre einfach nicht in diese Future-und-noch-was-Zeit, wo alles möglich sein soll und ich nicht begreife, was das bitteschön sein soll und wie man das macht, wo mich doch keiner will. Mich hier. Ich sitze hier seit Neunzehn Minuten, seit neunzehn… seit… Jahren und warte, warte, tagein-tagaus. Wenn es mir nicht zu blöd wäre, würde ich zugeben, dass… dass… dass irgendwer Fremdes jetzt meine Hand nehmen soll, um das verflixte Kreuz zu machen. Das, das kann ich nur keinem sagen. Wem denn? Ich hoffe, dass wenigstens die anderen die richtige Entscheidung treffen.

Mein marineblaues Motorrad

Alles abgenutzter Autoschrott. Benjamin bescheißt besonders bei Bauteilen, beispielsweise bei billigen Bremsbelägen. Chaotischer Chassisaufbau; charakterloser Charmebomber. Der denkt doch, der darf da drüben am Dorfrand dreckige Droschken demontieren. Einfach eklig, eher einen eigenen Ersatzteilshop eröffnen. Feurig-farbige Frontscheinwerfer fürs fetzige Fahrvergnügen (gehören dann auch dazu)

Gestern bei Gintonic gestenreich die Geldmenge eines eigenen Ersatzteilladens ausführlich analysiert. Henriette hat erst heißen Honigtee hastig heruntergeschlüft, dann gestaunt, aber hinterher herzhaft gelacht. Hässliche herrische Blondine. Die hätte die Ersatzteilfrage auch ein bissel ernster abhandeln dürfen. Im Interesse aller homosexuellen Fahrer habe ich fest in Henriettes hellblaue, geldgierig glänzenden Augen gesehen. Jemine, die hat aber affig geguckt. Geizig ist die geworden! Jahrein, jahraus juchtelt die mit der ewig jammernden Jeanine aus Jux ins Illertal. Just dieses Jahr im Juli. „Könnt ihr komischen Kerle euch das kein bissel in die Kalender krakeln“, kreischte Janine „für Ersatzteile habe ich derzeit keinen Kopf!“

Leider, leider hat keiner der Jungs im Leisesten Interesse an dem langweiligen Illertal. Lieber fahre ich allein durchs Land, besuche leidenschaftliche Liebhaber. Mir ist das alles im Grunde genommen egal. Mein marineblaues modernes Motorrad macht mindestens hundert km/h. Nur noch Nachbesserungen an den Nocken, danach ist alles nigelnagelneu. Oktober ordere ich noch das Ölpapier aus Øresund für die Ersatzteile. Problemlos per Postanweisung oder per PayPal blechen. Perfekt. Qualität geht mir nämlich über alles. Quälereien mit qualitativ minderwertigem Quatsch, mag ich nicht. Ein Quäntchen Glück braucht man aber heutzutage bei den Bestellungen.

Regelmäßiges Reinigen, rät Ron, ist jedoch immer noch die allerbeste Medizin für eine richtig rassige Rennkarre; dann kann einem rein rechnerisch im Grunde genommen auch absolut nichts passieren. Sonst sehe ich sekundenlang silberfarbene Sternchen schwirren, Schnuppen schweben, Schweife schwingen. Seit Sizilien im letzten Jahr schaue ich mich gründlich um, bevor ich abbiege. Tatsächlich trainiere ich den Schulterblick seit dem tragischen Tag, theoretisch genommen, tagein, tagaus. Und untertourig fahre ich seit dem auch nicht mehr. Verkehrstechnisch sollte ich mich vielleicht auch vielmehr auf den Staumeldefunk verlassen. Vielleicht fahre ich dann erstmals unfallfrei. Wenn wirklich wieder Wahnsinnsstau werden sollte, fahre ich eben in meiner neuen Wolljacke im Winterurlaub Waldwandern. Xaver von Xanten begleitet mich und wir hören auf der Fahrt die neue Mucke von Xatar oder Xavier Naidoo oder überprüfen bei XING schnell mal unser Profil und hantieren stundenlang auf dem Rastplatz mit meiner nagelneuen Xbox. Yin checkend, Yanswurzel rauchend und auf meiner Yamaha Yuccapalmen träumen, könnte ich dann auch zu genüge.  Zur Zeit zieht mich aber eine zähe Zettelwirtschaft runter, die mich zu zermürben droht und mir ziemlich zu schaffen macht.

Was will ich da mit meinem attraktiven Albert oder dem xenophoben Xaver, wenn ich kein kleinwenig Zeit zu verspüren glaube und mich stattdessen schier in unendlich unergründlichen und zudem zusätzlich auch anstrengenden Alliterationen vielsagend verirre.

Gewürzgurken

Es ist kann nicht meine Aufgabe sein, diese Entscheidung in Frage zu stellen. Meine Arbeit ist es lediglich, die Entscheidung, die das Gericht nach sozialistischen Normen gewissenhaft geprüft hat, schnell und präzise umzusetzen. Eigentlich können die sich gar nicht beschweren. Ich bin leise, halte den Atem kurz an, dass sie mich nicht bemerken, strecke meine Hand lautlos in ihre Richtung aus… und ehe sie das von mir angewärmte Metall spüren, führe ich den mir gestellten Auftrag im Bruchteil einer Sekunde aus. Nicht einmal Parfüm oder Seife verwende ich an solch einem Tag wie heute, damit die nicht bemerken, dass…

Dafür, dass so einer schwerste Verbrechen an unserem sozialistischen Staat begangen hat, bekommt er einen milden… Ich habe Leute schon ganz anders sterben sehen… durch das Fallbeil z.B. Dass Geschrei, der sinnlose Kampf, das Aufbäumen des Oberkörpers. Was für eine Kraft die entwickeln können. Da haben selbst drei geübte Männer zu tun, so einen zu bändigen, damit… Man glaubt das nicht, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Die schütteln den Kopf, bäumen den Körper hin und her, als ob sie den Nacken damit schützen könnten… Es hat früher eine Menge Kraft gekostet, bis wir so einen Verräter mit dem Lederriemen festgebunden… und bis es dann endlich erledigt war. Da sind die Schädlinge an unserer großen sozialistischen Sache doch heutzutage gut bedient. Kurz und schmerzlos. Meine Mutter zum Beispiel, die war eine wahrhaft tapfere Kommunistin der ersten Stunde und musste so früh und jämmerlich sterben… Das hat ein ganzes Jahr gedauert. Oder auch unsere Nachbarin, die arme Frau Tretter, eine Seele von einer Frau, die brachte uns im Herbst gläserweise Marmelade und ihre selbst gemachten knackigen Gewürzgurken in unsere Mansardenwohnung. Das Gurkenrezept haben wir beim Aufräumen ihrer Wohnung gefunden. Seitdem weckt meine Frau Jahr für Jahr nach genau diesem Rezept die Gurken ein. Am liebsten würde ich jetzt… irgendwie bekomme ich beim Warten Appetit auf die Gurken… und danach genüsslich eine rauchen. Ich höre noch keine Schritte. Wenn ich hier unten im Dunkeln in dem kalten Raum stehe und warte, kommt man auf solche Gedanken. Manchmal mache ich mir Gedanken, was so ein gewissenloses Subjekt antreibt. Eigentlich darf ich das nicht, aber manchmal, da denke ich über den Delinquenten nach, was das für einer ist, z. B. sein Gesicht, seine Stimme, ob er Familie hat, ob er Kinder hat, ob er auch einen Garten besitzt mit Gurkenbeet, ob er z.B. einen Hund, wie meinen Rocco hat, und was einen Faschistischen Saboteur wie ihn dazu antreibt, unser schöne Heimat mit Anschlägen zerstören zu wollen, was so einer überhaupt denkt, wenn er… ich meine, denkt er wirklich allen Ernstes, er kann unseren ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden einfach so an den Imperialismus, an den Westen verraten. Wir sind schon mit ganz anderen fertig geworden, mit ganz, ganz anderen. In der Zeitung liest man nichts, von dem, was ich hier… im Dunkeln… Das will meine Partei wegen der Hetze der amerikanisch gesteuerten Auslandspresse nicht. Ich, ich würde das auf der ersten Seite in knallroten Buchstaben verkünden. Für alle in der Welt gut sichtbar. Alle sollen wissen, was mit Spionen und Saboteuren bei uns passiert. Mein Vorgesetzter schrie mich vor Jahren an, als ich ihn fragte, was für einen Saboteur denn ich..: „Fange bloß nicht damit an, dir die Schweine vorzustellen. Das sind Verräter, alles vaterlandslose Verräter, die uns, die dich, teurer Genosse, die deine Familie, Freunde, die alles woran wir glauben und wofür wir gekämpft und wofür wir teuer gelitten haben, an den Imperialismus verraten wollen. Alles Konterrevolutionäre! Da darf man kein Mitleid haben, da darfst Du, standhafter Genosse, kein Mitleid zeigen. Die hatten früher auch kein Mitleid mit uns. Mitleid ist Konterrevolution. Hörst du, Genosse, Konterrevolution!“ Nein, Mitleid hatte ich noch nie mit solchen Elementen, es ist nur manchmal so etwas wie… wie Neugierde hier unten im Dunkeln, weiter, weiter nichts. Wirklich nichts. Ich weiß nicht, woran ich denken soll. Rauchen darf ich ja nicht. Nur so dastehen und warten, warten und an nichts denken, bis der Delinquent seine letzten Zeilen im Nebenraum geschrieben hat, die sowieso niemand zu lesen bekommt, warten, warten bis er endlich irgendwann hier ahnungslos reinspaziert kommt, das geht bei mir nicht immer. Aufgeregt bin ich nicht. Aufgeregt, das war ich vielleicht früher, ganz früher, am Anfang. Am Anfang, da ist man ja immer aufgeregt. Das geht Jedem so. Jetzt ist es nur noch Neugierde, Zeitvertreib, die ich mir mit ein, zwei Schlucken vertreibe… Wo hab ich sie? Hier… Schon am Abend fülle ich mir mein Flachmännchen ab, damit ich es auf keinen Fall vergesse. Alles Griffbereit. Gut. Wo war ich stehen geblieben? Vom Prinzip her ist es doch eine Gnade so schnell und unproblematisch für Verbrechen gegen die Werktätigen des Sozialismus abgeurteilt zu werden. Es ist ein Geschenk. Jawohl, ein Geschenk. Ich weiß nicht, wie das bei mir mal werden wird, wie lange ich… ich meine, brauchen werde. Ich habe darüber schon oft nachgedacht. Also, bei mir muss es auch schnell gehen. Wobei ich immer noch der Meinung bin, 100 Jahre Gulag wären für die hinterhältigen Agenten des Imperialismus eine mehr als gerechte Strafe. Aber nach den Grundsätzen der sozialistischen Gerechtigkeit, hat unser Strafgesetzbuch in § 60, Abs1 ein viel zu mildes Aburteilen vorgesehen: den Tod durch Erschießen. Nahschuss in das Hinterhaupt des Delinquenten, heißt es im Text. Wie gesagt früher, da war das Hinrichten noch ein wirkliches Hinrichten, das der Verbrecher mitbekam. Da stand er mir gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Er musste in meine Augen sehen und ich in seine. In diesem Moment musste er sich entscheiden, ob er z. B. Theater machen und rumzappeln wollte,  oder ob er z. B. eine Memme sein wollte und sich in die Hosen pisste, oder ob er z. B. mit seinen konterrevolutionären Sprüchen uns ein letztes Mal beeindrucken und mit seinem Freiheitsgefasel in unsere Arbeit reinreden wollte. Mein Gott, die konnten zum Schluss diskutieren, als ob sie damit bei mir eine Chance gehabt hätten. Am liebsten, am liebsten waren mir die Stillen, die sofort begriffen, dass… Manchmal grinste mich z. B. einer einfach nur an. So etwas konnte ich auf den Tod nicht leiden, weil mich ihr dummes Grinsen zu Hause nicht losließ, weil ich dieses Grinsen tagelang sah. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum ein Verräter grinst. Kapitalistische Saboteure. Provozieren bis zum Schluss. Wenn ich ehrlich bin, hinter das Grinsen bin ich auch heute noch nicht gekommen, egal wie sehr ich darüber nachdenke. Und mit jemanden darüber reden, darf ich nicht. Da hat es doch sein Gutes, dass unsere große Partei-und Staatsführung aus humanen Gründen den Nahschuss für solche Verräter vorsieht und ich ihr Grinsen nicht mehr ansehen muss. Wie sagte der Staatsanwalt nach meiner ersten Exekution zu mir: „Genosse, indem die Todesstrafe der Sicherung und dem zuverlässigen Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates, der Erhaltung des Friedens und dem Leben der Bürger dient, trägt sie einen zutiefst humanistischen Charakter.“ Recht hat er! Ich glaube, jetzt kommen sie.

Jedes Mal bleibt der Staatanwalt unmittelbar auf der anderen Seite der Tür stehen und verkündet, dass das Gnadengesuch vom Staatsratsvorsitzendem der DDR abgelehnt wurde. Ich höre ihn durch die Tür sprechen: „Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es jetzt!“ Vielleicht ist es gut so, dass ich das Gesicht nicht zu sehen bekomme. Diese Personen haben hier vor mir ihre Persönlichkeit für immer verspielt, sie sind Verurteilte und ich habe den Auftrag ihre Aburteilung vorzunehmen, sobald sie diesen Raum betreten. Alles andere ist dann nicht mehr meine Sache. Die heimliche Entsorgung und Verbrennung auf den Südfriedhof als anatomischen Sondermüll übernehmen die Genossen des MfS. Ich führe die Sache aus, bekomme die vereinbarten 150 Mark und habe für den Rest des Tages frei. Offiziell heißt es für die Kollegen im Strafvollzug, dass ich einen Sozialistischer Spezialauftrag habe oder dass ich krankgeschrieben bin. Nicht einmal meine Frau weiß, dass ich jetzt hier stehe, die müsste jetzt auf dem Weg zur Arbeit sein. Nein, nein, das ist ganz allein eine Sache zwischen mir, meiner Partei, der Großen Sache, dem Verräter und den zwei Wärtern, die mit ihm vor der Tür stehen. Wenn alles reibungslos abläuft, schließen sie mit Schlüsselrasseln auf, um mich vorzuwarnen, stoßen die Tür weit auf, bleiben stehen und bitten den Delinquenten höflich einzutreten. Ich stehe hinter der Tür, gehe von hinten an ihn heran, bleibe genau hinter seinem Rücken stehen, höre auf zu atmen, um ihn keinesfalls zu erschrecken, strecke meinen Arm aus, drücke den Zeigefinger durch und führe meinen Spezialauftrag ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, aus. Warum sollte ich zögern. Es gibt keinen Grund dafür. Solange ich das hier auf diese Weise mache, habe ich es noch kein einziges Mal erlebt, dass einer von den Delinquenten geschrien oder irgendwie Widerstand geleistet hätte. Dafür mache ich das alles viel zu schnell. Ich habe das alles Tausendfach auf dem Schießplatz des MfS probiert und beherrsche jeden Handgriff im Schlaf. Und wenn ein Auftrag wie heute ansteht, probiere ich es zuhause mit einer Spielzeugpistole, meist in der Zeit, wenn meine Frau die Hausordnung macht. Früher hat sie mich ab und zu vor dem Schlafzimmerspiegel erwischt und ich musste ihr das irgendwie erklären. Ich sagte ihr etwas von Filmszenen nachspielen. Um das zu vermeiden, gehe ich seit dem in den Keller, stelle mich hinter das Gatter und übe wie ich ins Ziel treffe. Manchmal setze ich mich auch einfach nur hin, öffne ein Glas Gewürzgurken, futtere das gesamte Glas aus und lass mich von meiner Frau später ausschimpfen. Die Schlüssel klappern, die Tür geht auf, die Silhouette eines schlanken Mannes, der mindestens einen Kopf größer ist als ich, kommt herein und schaut ins Dunkel. Ich trete von hinten an ihn heran, strecke den Arm aus und drücke den gespannten Hahn meiner Walter P 38 durch. Der Delinquent sackt lautlos vor mir auf den Boden. Das Licht wird angeschaltet. Die zwei Wärter, der Staatsanwalt, der Gefängnisdirektor und der Arzt treten nacheinander herein. Der Arzt beugt sich flüchtig zu ihm herunter, greift mit Daumen und Zeigefinger sein Handgelenk. Er nickt. Die Wärter breiten ein Tuch aus und heben den Delinquenten in einen bereitgestellten Sarg. Erst jetzt lasse ich den Arm sinken, sichere die Waffe, ziehe das Magazin heraus und verlasse den Raum.

Armer Anton / Zacharias Zahnlücke / Zoras zickige Ziehmutter / A-Z

Armer Anton

Am Anfang arbeitet Anton auffallend akkurat. Ansonsten aber angelt Anton allabendlich ausgelassen an Aischas attraktiven Ausschnitt. Außer Angestellter Angermeier argwöhnt abermals an Antons albernen Angeleien. Aber Antons außergewöhnlicher Augenglanz ändert alles. Abrupt äußern ahnungslose Angestellte ähnliche Anliegen. Aber Angermeiers Augäpfel äußern alles andere als Annäherung. Also ändert Anton ärgerlich alle Anstrengungen an Aischas ausladendem Ausschnitt. Armer Anton!

Zacharias Zahnlücke

Zacharias Zindelmeier zeigt zögerlich zwei Zahnlücken. Zahnarzt Zangemann zeigt Zindelmeier ´zig Zängchen. Zacharias zaudert, zittert, zuckt zusammen. Zangemann zerrt, zieht, zerrt, zick-zack, zick-zack, zerstört Zahnhälse, zählt zwanzig Zwischenteile. Zufrieden zeigt Zangemann Zindelmeier zehn Zahnlücken. Ziemlich zahnfrei zieht Zacharias Zindelmeier zweifelnd zum Zeitungsstand, zählt zähneklappernd Zeitungsgeld zusammen.

Zoras zickige Ziehmutter

Zora Zindel zupft zufrieden zinnoberfarbene Zierpflanzen. Ziehmutter Zarathundra zetert Zora zusammen. Zähneknirschend zieht Zora zickig zum zerfallenen Zierbrunnen zurück. Zuviel Zank zerstört Zoras zarte Zauberwelt.

A-Z

Achmed besitzt Charme. Das ekelt Franz. Ganz hetzerisch ist Jeanine. Kevin lacht mitunter nur oder posiert quasselnd Richtung Schulklasse. Tatsächlich untersuchen vergleichsweise wenig Xenophobe Zustände.

Pauke Petrys Plan platzt /Hörn Höcke

Pauke Petrys Plan platzt

Pauke Petrys politische Pöbeleien passen planlosen Pegidaanhängern perfekt. Plötzlich plappern politisch prasselblöde Pegidisten Paukes perverse Putin-Phantasien. Parteiübergreifend pfeifen politikinteressierte Personen Pfeifkonzerte, parodieren prachtvoll Petrys Pampe, präsentieren per Parlamentsbeschluss Persönlichkeitsrechte pur. Plötzlich platzt Pauke Petrys Plan. Peng!

Hörn Höcke

Hörn Höcke hockt hinterlistig hinter hochgezimmerter Hirnschranke. Hörn horcht hungrigen Hilfesuchenden hinterher, hetzt, holt hastig hasserfüllte Hilfsbürgertruppen herbei. Hundert hat Höcke herausgeschrien! Hunderttausend! Hunderttausende! Hundertmillionen Hilfebedürftige holen Häuslebauers hartersparte Habseligkeiten heraus, handreichen Hehlerwaren. Halt! Halt hetzt Höcke herzaufbäumend. Halt! Halt! Höckes Hilferuf hinterlässt hilfswillige Helfershelferhelfer. Herbeigeströmte hetzen Hilfesuchende. Hörn Höckes Hysterie hat Hochkonjunktur.

Europarechtler Erdogan – Masse mal Maaslosigkeit

Europarechtler Erdogan

Eilig ersetzt Erpresser Erdogan ersatzlos Europarecht. Er erzählt epenhaft, er errette Eulen. Erdogans Etüden erzürnen Europapolitiker (etwas). Eiskalt erpresst er Eliten, ebenso einfältig empfängliche Einwohner. Erlasse erledigen erbarmungslos ehemals ehrbare Existenzen. Entmutigt emigrieren einige. Europapolitiker erstarren entgeistert, experimentieren eindeutiges Europarecht, erschwindeln Etikette. Ekelhaftes Einvernehmen. Erdogan exerziert exaltierte Ersatzarmeen, erpresst eisern, ermittelt effektiv, einstweilen exemplarisch. Erfolgsmann Erdogan äschert einsame ängstliche Eulen ein. Erdoganisch erodiert „Einiges Europa“.

Masse mal Maaslosigkeit

Musterschüler Meiko Maas macht mit Maaslosigkeiten mediale Massenüberwachung momentan möglich. Mittels maasgeschneiderten Mutmaasungskatalogen minimiert Messdiener Maas moderne Medienrechte, macht Meinungsfreiheit mundtot, Menschenrechtsorganisationen machtlos, Mediennutzer mutlos. Meikos Maasregelwahn mobilisiert Massen. Meutere mit!

Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit! – Bedauernswerte Beatrix

Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit!

Während wir wankelmütig werden, webt Waliča Weidel wohlgefällig wirre Welttheorien, woraus westdeutsche Wirtschaftswundermelancholie, wurmstichiger Weltkriegswundenpathos, wohlhabende Wirtschaftsflüchtlingsangst wechselseitig weichgemaicht werden. Willenlos wanken wacholderschnapstrunkene Wracks, wehrmachtsbereite Wendeverlierer, wetternde Witwengruppen westwärts, wandern wohlklingenden weidelschen Widerhall. Währenddessen wettgeifern Wahlkampfveranstaltungen weichgespültes wolkenfreies Wunschzettelallwetterhoch. Wenn wir (wieder) wegschauen wird Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit Wahrheit werden.

Bedauernswerte Beatrix

Brechstange Beatrix benutzt bei Bootsflüchtlingen bereitwillig beleidigende Begriffe, bisweilen bei bestimmten Berufspolitikern besonders beliebt. Bleibt Brechstange Beatrix bei brandstifterischem Benehmen, brauchen bedürftige Bootsflüchtlinge bei brennenden Bleiben, besser bewachten Behausungen, besonnene Bundes-Bürger bei bewährten Bürgerrechten.

Aljoscha, Teil V

Aljoscha fiel kopfüber in den Schnee und wurde wach. Ein Mann, der in zusammengeschnürten Fußlappen breitbeinig auf der oberen Stufe stand und auf ihn herabsah, aß den Rest des Kuchens, über den der Junge vor ein paar Minuten eingeschlafen war. Er schrie: „Was willst Du hier? Schere dich weg, Du versperrst mir den Weg! Du Dieb, Du hast den Kuchen gestohlen. Gib es zu!“ Der Junge erkannte das kantige Gesicht mit der flachen Stirn und der breiten Nase und dem zottligen Bart. Oft hatte er in seiner warmen Nische sitzend beobachtet, wie dieser Mann aus unerklärlichen Gründen plötzlich Ränkeleien anzettelte und auf die Gäste einschlug, bis diese zu Boden gingen und regungslos liegen blieben. Selbst der Gastwirt schien jedes Mal vor diesem Mann Angst zu haben, denn er blieb stets still hinter dem breiten Tisch seiner Theke stehen oder ging schnell in die Küche oder den Keller, bis der Kampf ausgetragen war und der Zusammengeschlagene blutüberströmt das Gasthaus verließ. Der Mann drückte mit seinen schmutzigen Fingern den Kuchenrest in einem Zuge in den Mund und wischte sich schmatzend über den ungeschnittenen Bart. Er sprang von der obersten Stufe herunter, drehte sich zu dem Jungen und blieb mit breit ausladenden Armen vor ihm stehen. Der Junge lag immer noch regungslos im Schnee. Der Mann machte einen Schritt auf den Jungen zu, beugte sich über ihn und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. In der Zeit des Schlages griff er mit der anderen Hand geschickt das im Schnee liegende rotlederne Beutelchen, warf es in einem Schwunge hoch und ließ es in seine Hand gleiten. Der Junge, der glaubte, dass der Schlag wegen des Stück Kuchens erfolgte, sagte ehrerbietig: „Herr, verehrter Herr, ich habe den Kuchen eben von einem großherzigen Gönner geschenkt bekommen und nicht gestohlen. Wenn Sie, verehrter Herr, jedoch den Kuchen wollen, dann dürfen Sie ihn selbstverständlich nehmen!“ So als ob er die Worte des Jungen nicht hörte, schlug der Mann ihn ein weiteres Mal in das Gesicht. Dieses Mal heftiger. Er zog den Jungen am hochgestellten Kragen in einem Schwung nach oben, das dieser für einen Moment den Boden unter den Füßen verlor und sich in die Luft erhob. Dabei löste sich die Jacke aus dem Gürtel und der Junge stand mit freier Brust vor ihm. „Woher hast Du das Beutelchen, Du verdammter Tagedieb?“, schrie der Mann aus voller Kehle. Ohne weitere Worte des Jungen abzuwarten, schlug er mit einem kurzen, aber treffsicheren Schlag genau zwischen die Rippen des Jungen, dass dieser rücklings wieder in den Schnee fiel und sich krümmte. Wieder zog er ihn am Kragen hoch, dieses Mal aber so heftig, dass die Arme aus den Ärmeln rutschten und die Jacke im hohen Bogen in den Schnee flog und der Junge mit freiem Oberkörper vor ihm stand. Wieder schlug er ihm mit einem gekonnten Hieb zwischen die Rippen oberhalb des Magens. Und wieder fiel der Junge. Dieses Mal krümmte er sich nicht. Die Wucht des Schmerzes, die in seinem Leibe einsetze, machte ihn für einen Augenblick atemlos und nahm ihn die Möglichkeit, eine abwehrende Körperbewegung einzunehmen. Stattdessen wartete der Junge im Schnee liegend, bis er wieder Luft holen konnte und sich die Lunge mit Atem füllte. Er holte kurz hintereinander Luft und hauchte: „Bitte, bitte, fremder Herr, bitte lasst mich in Ruhe, ich sage Ihnen doch, wenn Ihr den Kuchen möchtet, bitte, so könnt Ihr ihn haben!“ Voller Gier öffnete der Mann das Beutelchen und schüttete den Inhalt in die Hand. Da sich außer ein paar zusammengeknüllten Zetteln kein Geld darin befand, schüttelte er wieder und wieder an dem Beutelchen. Als immer noch keine Kopeke herausrollte, zog er das Beutelchen auseinander, sah hinein und schlug, als er immer noch keine Münze darin fand, mit der Faust auf das Leder. Er warf die zusammengeknüllten Zettel in den Schnee und steckte das Beutelchen in seine Manteltasche. Von Wut erfüllt, stapfte er nochmal zu dem Jungen und schrie so laut er konnte: „Wo, wo ist das verdammte Geld? Wo hast du das Geld versteckt? Sag es, Du elender Tagedieb! Wo, wo, wo, verdammt noch einmal, wo? Sag es! Sag es!“ Der Junge, der am Tonfall und den ruckartigen Bewegungen die Raserei an dem Manne wiedererkannte, machte sich so klein er konnte. Um den Schlägen soweit als möglich, zu entgehen, kauerte er sich zusammen, zog die Füße an das Gesäß und schlang Arme und Hände um die Lenden und Beine. Der Mann, von der devoten Haltung, die der Junge einnahm, angestachelt, schlug mit den Fäusten auf den Rücken des Jungen wie ein Hungriger auf den Küchentisch. Als ihm die Puste ausging, trat er mit den Füßen auf den Kopf und die Schulter. Benommen von den Schlägen und taumlig von den Tritten, versuchte der Junge sich aufzurichten und an die Barmherzigkeit des Mannes zu appellieren. In diesem Moment beugte sich der Mann nach vorn, um einen vom Baume herunterbrechenden Ast aufzuheben. Beim Umgreifen des Astes kamen sich die Gesichter der Beiden nah. Der Junge sah den starren, tiefen Blick der Augen und begriff, dass alles Bitten und Flehen zwecklos sein würde. Der Mann umgriff mit beiden Händen den Ast, hob ihn hoch, schwang ihn wie eine Peitsche in die Luft, um den Jungen den alles entscheidenden Hieb zu versetzen. In diesem Moment rollte der Junge seinen schlanken Körper durch den Schnee, genauso wie er es vorhin tat, als die Pferde der Kutsche auf ihn zurasten. Er krabbelte zu der Öffnung unter der Treppe und schlupfte hindurch. Der Mann, der über die unerwartete Bewegung des Jungen verdutzt war, hielt den Ast immer noch in die Luft und blieb regungslos stehen. Mit dem Ast in den Händen, stellte er sich vor die schmale Öffnung und schlug so lange auf die Stufen, bis der Ast zerbrach. Der Junge hoffte, dass der Mann zu ungeschickt war, um ihn aus der Öffnung hervorzuholen. Ohne zu wissen, welchen seiner Heiligen er jetzt bitten musste, um zu erreichen, dass diese den Mann völlig betrunken werden ließen, faltete er die Hände und bat laut murmelnd zu den Stufen schauend, in die Richtung, in der er den Himmel und seine Heiligen vermutete. Er bat sie, dass sie den Mann endlich betrunken machten. Er bat sie, dass dem Mann genauso wie den Betrunkenen, die der Junge in den letzten Jahren zuhauf in den Gasthäusern kennen gelernt hatte, die Kräfte entwichen und wie es bei Betrunken üblich war, schnell die Laune verlöre und sich einer neuen Sache zuwendete. Und schließlich bat er seine Heiligen, dass sie den Mann, wenn möglich, abrupt müde werden ließen, in den Schnee sinken und einschlafen lassen sollten. Der Mann stand indes unbeirrt vor dem Loch wie vor einem Fuchsbau und trat abwechselnd mit den Füßen dagegen. Immer wieder beugte er sich vor, griff in das Dunkel der Öffnung und ruderte blind mit der Hand umher. Er spreizte und schloss die Finger zu Schnappbewegungen und versuchte so den Jungen herauszuziehen. Immer wieder sah der Junge die suchende Hand, mit dem vernarbten Handrücken, sah die dicken Finger, an denen einige Glieder fehlten, die in Richtung seines nackten Oberkörpers schnappten. Als der Mann von der Raserei erschöpft war und er begriff, dass er den Jungen auf diese Weise nie zu fassen bekommen würde, trat er nochmal wütend gegen die Bretter der Öffnung und gab lauthals Flüche über Löcher käuflicher Frauen ab, die der Junge jedoch nicht verstand. Zum Abschluss schlug er nochmal prüfend auf jede einzelne Stufe, ob nicht doch eine Möglichkeit bestand, den Jungen aus dem Versteck zu zerren und zu verprügeln. Als er erkannte, dass die Stufen fest vernagelt waren, fluchte er nochmals und verschwand. Der Junge kauerte still in dem Loch. Er lehnte seinen Kopf gegen die Bretter des Gasthauses und sah wie einzelne Zettel des Beutelchens vom Schneegewölk einer Windböe erfasst wurden, hochwirbelten und in einem Schwung direkt vor dem Eingang seines Versteckes zum Liegen kamen. Trotz oder weil er nicht wirklich lesen konnte, reizte ihn die Neugierde zu erfahren, was auf den Zetteln geschrieben stand. Auf allen Vieren krabbelte er aus dem Loch heraus, griff nach den Zetteln, die eben noch vor ihm am Boden lagen und die nun wieder von einer Böe erfasst wurden, sich in die Luft erhoben und wild um seinen Kopf tanzten. Von der unsichtbaren Macht der Böe angelockt, krabbelte er weiter und weiter und erhaschte einen nach dem anderen. Nach all den Schlägen, deren Wirkung noch nicht ganz in seinem Körper angekommen war, empfand er auf einmal Freude. Er drehte sich flink von rechts nach links, von oben nach unten. Nachdem er die Zettel eingesammelt hatte, griff er das am Boden liegende letzte Stück Papier. Er beugte sich über das Blatt und bemerkte, wie sich ein Schatten erst über das Blatt und dann über ihn schob.

Aljoscha Teil IV

Er setzte sich auf die Schwelle des Gasthauses, das ihn und seine Geschwister all die Jahre zuverlässig ernährt hatte und das ihm deswegen jetzt der vertrauteste Ort auf dieser Welt war. Aljoscha wusste, würde er jemals zu Gelde kommen, würde er viele solche Gasthäuser über das Land verteilt bauen, den Kindern darin Zuflucht gewähren, sie jeden Tag mit süßem Brei und Kuchen ernähren und ihnen das Alphabet in schönen großen Buchstaben auf die Fensterscheiben schreiben lassen. Außerdem würde er darauf achten, dass keiner der anderen Gäste jemals die Hand gegen eines der Kinder erheben würde. In diese wunderbaren Gedanken versunken, lehnte er seinen Rücken an die Hauswand aus dicken übereinander gefügten Kiefernstämmen. Er drehte den Kragen hoch, drückte seinen schlanken Hals in den schmutzigen Stoff hinein und überkreuzte die Beine. Weil er dennoch zu frieren begann, schnürte er den aus Lederresten verflochtenen Gürtel, der seine Hose und die dünne Stoffjacke nur leidlich zusammenhielt, enger um die Taille und hauchte über die erkalteten Fingerkuppen. Dabei hörte er durch das geschlossene Fenster die vielen Stimmen, die wild durcheinandersprachen. Da er von je her nicht die Neigung der Anderen besaß, Dinge, die ihn bewegten seinen Mitmenschen mitzuteilen und deswegen auch von klein auf, keinerlei Veranlassung verspürte, mit irgendjemanden über das notwendige Maß hinaus ins Gespräch zu kommen und wegen dieser Eigenschaft in früheren Jahren manchmal in der Nachbarschaft sogar als geistig zurückgeblieben gegolten hatte, wunderte er sich nicht wirklich über das Gemurmel. Schon lange hatte er es aufgegeben herauszufinden, was Leute dazu antrieb, immerzu zu erzählen, anstatt sich still über den Tag, die Heiligen und die schöne Natur zu erfreuen. Eine Zeit lang hatte er es wie die Anderen versucht. Aber egal was er erzählte, sie machten sich entweder mit hämischen Sprüchen über seine Worte lustig oder fuhren ihm bei jedem zweiten Satz über den Mund, sodass er seine Gedanken oftmals nicht zu Ende bringen konnte. Und so nahm er es als eine Art Schicksal an, den Anderen still zuzuhören und dann und wann, wenn diese eine Pause einlegten, nachzufragen oder sie wortlos anzusehen, zuzustimmen oder auch gar nichts dergleichen zu tun und ihnen stattdessen zu versprechen für sie und ihre Sorgen zu beten. Die Erfahrung schien dem Jungen Recht zu geben. Bemühte er sich mit ihnen um eine Tagearbeit, bekam meist er den Auftrag und nicht die Gesprächigen. Zufrieden rieb Aljoscha den Kopf über die Rinde der Kiefernstämme und betrachtete den leckeren Kuchen, den der freundliche Mann ihm eben auf der Straße einfach so in die Hand gelegt hatte. Er rieb sich über die Stelle der Stirn, auf die ihn der Fremde eben geküsst hatte und überlegte, wann er das letzte Mal einen so unerwarteten Kuss erhalten hatte und ob er überhaupt schon einmal von einem Mann geküsst wurden war. Dass seine Mutter so etwas mit ihm früher vor dem Zubettgehen gemacht hatte und er mit solchen Aufmerksamkeiten häufiger bedacht wurden war, als die sieben Geschwister, begriff er immer dann, wenn sie ihn nach dem Kerzenlöschen in die Waden kniffen, einen Klaps auf die Schulter gaben oder die kleinen Geschwister beim Fortgehen der Mutter weinten und von ihm getröstet werden wollten. Er lächelte über den Gedanken, zwickte sich selbst in die Seite und beschloss, all seinen Geschwistern, wenn er nachher Hause käme, mindestens einen Kuss auf die Stirn und einen weiteren auf den Mund zu geben. Glücklich über seine Idee, schob er die Zunge über die Zuckerkruste und tupfte sanft über die unebenen Klümpchen, die der Bäcker wohl in der Schnelle seiner vielen Handbewegungen unachtsamer Weise darauf verteilt haben musste. Nach einer Weile machte er eine Pause, schob den runden Marmorkuchen vor die Augen und schaute ihn aus der Tiefe seines hochgeschobenen Kragens an, als wollte er sich noch einmal überzeugen, dass er tatsächlich im Besitze eines so schmackhaften Kuchens war. Er hielt ihn an die Nase und sog den Duft des Teiges in sich hinein. Aljoscha streckte die Zunge soweit er konnte heraus und begann mit der Zungenspitze kleine Kreisbewegungen über die Klümpchen zu ziehen, bis diese glatt geleckt waren. Unebenheit für Unebenheit leckte er so Stück für Stück herunter. Und Schicht für Schicht leckte er anschließend auch den dicken Zuckerguss ab. Als dieser abgeleckt war atmete er zufrieden ein und aus, schloss die Augen und begann in den Teig zu beißen. Endlich spürte er ein Mandelstück. Er pulte es aus dem Teig, schob es zwischen die Zähne, verharrte einen klitzekleinen Moment und zerknackte es schließlich. Das Geräusch gefiel ihm. Wieder begann er zu pulen und holte ein weites Mandelstück hervor. Auch bei diesem machte er eine Pause und biss darauf. Aljoscha pulte und pulte bis der Kuchen in zwei Hälften zerbrach. Dankbar gedachte er des fremden rothaarigen Mannes, mit den lustig klingenden Glöckchen an den Stiefeln und der schönen Pelzkappe, der ihn völlig unerwartet geküsst hatte und dessen Kuss er immer noch als angenehm empfand. Er freute sich über seine Heiligen und war sich sicher, dass sie ihn nie verlassen und auch weiterhin beschützen würden. Mit dieser Gewissheit, die er schon als kleiner Junge aus irgendeinem Grunde in sich trug und die ihm schon frühzeitig das Gefühl gab, eines Tages still für Gottes Ruhm und Ehre tätig werden zu dürfen, schlief der Junge auf der oberen Stufe kauernd und sich in einem Kloster mit weißen hohen Mauern sehend und allerlei Geschenke an die Armen verteilend, ein.

Aljoscha III

Aljoscha, der noch nie in seinem Leben gestohlen hatte, und der sich so eine furchtbar Tat, trotz seines immerwährenden Hungers auch für sein weiteres Leben nicht wirklich vorstellen konnte, ließ den Beutel, der ihm aus einem unerklärlichen Grunde in die Hand gekommen war, vor Schreck wieder in den Schnee fallen. Ängstlich drehte er sich um, um zu prüfen, ob ihn womöglich ein neugieriger Straßenpassant bei seinem Funde beobachtete und falsche Schlüsse daraus zog. Er betrachtete den Beutel mit der glänzenden Messingschnalle und bestaunte den goldenen Farbton, den er sonst nur vom Abendmalkelch und den reich verzierten Ikonen kannte. Er freute sich über das angenehme Gefühl, das der Glanz ihm in die Augen brachte. So, als wollte er die Schläge seines Vaters artig in Empfang nehmen, beugte er seinen Kopf langsam nach vorn, streckte den Rücken gerade, schob den Hintern etwas heraus und ließ die Arme geradewegs über die goldgelbe Stelle im Schnee hängen. Er beobachtete, wie der Glanz zusehend unter den herabfallenden dicken Flocken verschwand. In dieser Haltung drehte er sich noch einmal nach links und rechts, fand aber keinen Passanten weit und breit. Aljoscha wusste, dass es nicht richtig war, fremdes Eigentum an sich zu nehmen. Und dennoch tat er es. Aus einem ihm unerklärlichen Triebe und gegen seine innere Überzeugung und sicherlich auch weil er den Fund gleich morgen einem hohen Beamten der Stadt überreichen wollte, umgriff er mit beiden Händen das rotlederne Bündel mit der schönen goldleuchtenden Schnalle und schob es unter sein Hemd und drückte es an die Rippen. Die Kühle des Metalls, die er spürte, empfand er, trotz dessen er fror, als angenehm. Er schloss die Augen und glaubte zu fühlen, wie der Glanz seinen Körper durchdrang. Magensäure stieß in ihm auf und sein Bauch begann zu schmerzen und erinnerte ihn, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Er öffnete die Augen und starrte auf die Tür des Gasthauses, die sich soeben knarrend auftat und aus der ein Schwall würziger Düfte herausströmte. Ganz gegen seine Gewohnheit und ganz gegen die Order des Gastwirtes keinen der wertvollen Gäste auch nur im Geringsten zu belästigen, sprach der Junge den nahezu zwei Meter großen Mann mit runder Pelzmütze und knielangen Ledermantel an, der soeben die Stufen des warmen Gastraumes heruntertaumelte. Der Junge trat einen Schritt beiseite und musterte die bunten Stiefel mit den Glöckchen am Schaft. Er verbeugte sich und sagte ehrerbietig: „Verehrter Herr, sehr verehrter hoher Herr, bitte geben Sie mir ein Stück von dem, was Sie in der Hand haben. Ich weiß, hoher Herr, dass es sich nicht geziemt, ehrbare Herren anzubetteln. Aber ich habe Hunger und mein Vater hat meine sieben Geschwister zu ernähren. Ich komme auch morgen zu Ihnen und fege Ihre Stube sauber. Ganz gewiss, hoher Herr!“ Der Mann, der schwankend an dem Jungen vorbei gestolpert war, drehte sich um und fragte jedes Wort einzeln betonend: „Sieben? Sieben Kinder hat dein Vater? Soso! Hast Du auch richtig gezählt?“ Aljoscha verbeugte sich noch tiefer und antwortete kaum hörbar: „Ja, hoher Herr! Gewiss, es sind drei Jungen und vier Mädchen, mit mir also acht!“ Wieder fragte der Mann die Worte betonend: „Drei, sagt du? Soso. Acht? Und Du lügst mich auch nicht an?“ Er kaute und betrachtete aus dem Augenwinkel den Jungen, der mit bauen Lippen und durchgeweichten Fußlappen vor ihm stand. Der Mann hörte plötzlich auf zu kauen und hielt die Speise, die der Junge begehrte, in den Schatten des Fensters. Der Junge, der die Speise immer noch nicht erkennen konnte, aber umso mehr sehnte, drehte seinen Kopf blindlinks nach dem begehrten Stück im Dunkel der Nacht, wo er es vermutete. Der Mann, der dies beobachtete, tat so, als ob er weiter aß und sagte mit vorgetäuscht vollem Munde: „Kannst Du überhaupt zählen und schreiben? Weißt Du überhaupt, wie eine Acht geschrieben wird?“ Dabei pusselte er fortwährend an den Lippen und schmatzte. Aljoscha beugte sich noch tiefer, dass er fast vornüber und dem Fragenden auf die Stiefel gefallen wäre und sagte erleichtert: „Ja, aber ja, verehrter Herr, ich kann zählen und schreiben!“ Damit der Herr nicht auf die Idee kam, ihn nach Zahlen zu fragen, die er noch nicht kannte oder schon wieder vergessen hatte, kauerte sich Aljoscha vor ihn in den Schnee und malte vor dessen eisenbeschlagenen Stiefelspitzen in Schönschrift und mit ausladenden Handbewegungen die Zahlen Drei, Vier und Acht. Der Mann, der sichtlich erstaunt war und dem Jungen das in den Schnee Geschriebene sofort glaubte, ließ überrascht die Speise fallen. Er schob die Mütze in den Nacken, kratze sich am rotblonden Stirnhaar und ging wortlos auf die Straße. Nach wenigen Schritten blieb er abrupt stehen, drehte sich um, ging den Weg zurück und hob die Speise auf. Er wiegte seinen Kopf im Schneegewölk und wedelte mit seiner breiten Hand vor dem Gesicht des Jungen. Er betrachtete die klaren, braunen Augen, die schmale Nase und den etwas zu klein geratenen Mund mit den blauen Lippen. Er nahm die Hände des Jungen, legte das eben Weggeworfene hinein und sagte im sanften Ton, den man dem stattlichen Mann mit seiner lauten Stimme niemals zutrauen würde: „Und das Du schön brav weiterlernst. Ich sage dir, mein Junge, aus dir wird einmal wer, vielleicht ein Beamter. Man weiß nie!“ Bei dem Wort nie, tätschelte er dem Jungen zärtlich über die Wange und kämmte ihm das nasse, schneeverklebte, schulterlange Haar zu einem Scheitel. Er drückte sein rundes Gesicht mit dem rotblonden Backenbart an das blasse Gesicht des Jungen, umgriff dessen Hals zog ihn an sich heran und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ging, dass die Glöckchen an den Stiefeln erklangen. Dabei sagte er: „Drei, soso, Acht, aus dem wird nochmal etwas Großes! Sieben Geschwister, und er kann Schreiben und Lesen. Wer hätte das gedacht? „Trällernd bog er in den abschüssigen, unbefestigten Seitenweg ein, der in einen tückischen rechten Winkel zum Bach hinabführte und auf dem sich schon viele ihre Knöchel nicht nur im winterlichen Schneegestöber an den vielverzweigten tiefen Wagenfurchen verstaucht hatten und auf dem schon so mancher Betrunkene abkam und in die unübersichtliche nahe Wasserbiegung rutschte und von dort fortgeschwemmt wurde. Er pfiff eine fröhliche Melodie in die Nacht und rief: „Soso, drei, aus dem wird noch mal ein Beamter. Ich sage euch, fein wird er werden, fein, drei und vier, eine sehr feine Acht. Ich spüre sowas!“ Vom eben Geschehenen verunsichert, wischte sich der Junge mit der einen Hand die Spucke vom Mund und schob mit der anderen Hand geistesabwesend langsam das eben Geschenkte zwischen die Lippen und biss darauf. Die Süße des Zuckers und das Aroma der Schokolade, die er beim Kauen auf einmal auf seiner Zunge verspürte, machten ihn glücklich. Er winkte dem Mann, von dem plötzlich weder sein Trällern noch das Glöckchengeläut zu hören waren, hinterher und rief: „Danke, danke für das schöne Stück Kuchen. Gott beschütze Sie, verehrte Herr! Gott gebe Ihnen ein langes und gesegnetes Leben

Aljoscha, Teil II

Um sich abzustützen ließ der Angetrunkene, der dem Geruche nach in sein Beinkleid uriniert haben musste, seinen Kuchen fallen. Aljoscha half dem völlig Betrunkenen beim Aufstehen, stellte sich aber dabei so geschickt zwischen den Mann und das Stück Kuchen, dass es der Betrunkene trotz des Suchens, nicht finden konnte. Aljoscha wusste nur zu genau, dass Betrunkene, wenn sie ihr Ziel aus den Augen verloren, recht schnell etwas anderes unternahmen. Mit dieser Beobachtung hatte er schon mehr als einmal Schläge von seinem Vater abhalten können. Aljoscha stellte sich vor den Mann, stützte ihn übertrieben heftig unter dem Arm und sagte in seiner seit frühen Kindertagen anerzogenen ehrerbietigen Stimme: „Väterchen, verehrtes Väterchen, Sie müssen nach Hause, sonst erfrieren Sie hier auf der Straße. Gehen Sie, sehr verehrtes Väterchen, gehen Sie bitte hier entlang, Ich stütze Sie. Gehen Sie, es ist dunkel. Gehen Sie hier entlang, ich zeige Ihnen den Weg!“ Dabei verneigte er sich, wie es ihm seine geliebte Mutter beigebracht hatte, weil sie wusste, dass Leute wie sie im Leben nur weiterkommen würden, wenn sie sich tief genug vor anderen verneigten. In ihrer Erziehung bestand sie bei all ihren Kindern umso mehr auf der tiefen Verbeugung, da es ihrer Meinung außerdem die einzige Möglichkeit war, kostenlos Menschen für sich zu gewinnen oder, wenn sie Groll in sich trugen, diesen ohne Aufhebens aus der Welt zu schaffen. Aljoscha verneigte sich, wie er es gelernt hatte vor dem seiner Meinung nach nicht allzu hohen Herren und zeigte mit seiner Tschapka zur Straßenmitte, die der Betrunkene nun überqueren müsse. Der Mann machte sich ruckartig und mit einem verächtlichen Blick von dem frierenden Jungen los, sah von den Fußlumpen hinauf zu dem dürftigen Schal, der nicht wirklich den Hals und die dünne Brust des Jungen bedeckte, drehte sich noch einmal nach dem Kuchen um, schien aber nicht mehr so recht zu wissen, was er eigentlich suche, schüttelte den Kopf und fluchte unverständliche Worte und blieb mitten auf der Straße stehen. Eine vorbeifahrende Kutsche brachte Aljoscha endlich die rettende Idee. „Väterchen, verehrtes Väterchen“, sprach er ihn mit einer ungewohnt listigen Stimme an, „passen Sie auf, sonst werden Sie von der Kutsche überfahren. Sicherlich ist der Fahrer wieder betrunken. Kommen Sie, schnell, kommen Sie, Verehrtester, ich bringe sie rasch auf die andere Seite der Straße!“ Er griff dem Mann kräftig am Arm und zog ihn von der Straße herunter, drehte ihn in die Richtung, in die der Angetrunkene ursprünglich gehen wollte und gab ihm einen Schubs auf die Schulter, dass der Betrunkene fast wieder hinfiel. Der Mann gehorchte seinen mahnenden Worten, brabbelte etwas von der Jugend, die so gar nichts taugt, und das er als er so jung war, schneidig gewesen wäre, einem heldenhaften General gleich und die Weiber, allesamt, die gesamte Weibsbilderschaft, nur ihm gehorcht hätte. Dabei pfiff er, so gut er es in diesem Zustand noch konnte und nuschelte immerzu: „Jawohl, General, jawohl, Weibsvolk, General, alle Weiber.“ Danach verschwand er, eine Linie von Wassertropfen auf seinem Weg zurücklassend im Schneegewölk.
Aljoscha konnte mit dem Inhalt seiner Worte nichts anfangen, wusste aber, dass Betrunkene zuweilen in nassen Beinkleidern von schneidigen Generälen und willigen Frauen, die angeblich alles machen würden, sprachen. Er rannte auf die Mitte der Straße zurück und suchte das Stück Kuchen, das verschneit irgendwo in seiner Nähe liegen musste. Von dem Stück beseelt und von seinem Hunger getrieben, kniete er sich auf die Straße und tastete mit seinen erfrorenen Händen in das Schneegestöber. Der, so schien es ihm jetzt, nur ihm zum Schure in noch dickeren Flocken herabsank, um auf seiner schmalen Nase und seinen langen schwarzen Wimpern, den verklebten Haarlocken und dem viel zu dünnen Schal, niederzugehen und ihm den Blick auf das begehrte Stück Kuchen zu verwehren. Trotzig schüttelte er seinen Kopf, hob die Hände in den Himmel und sagte leise, fast flehentlich in seiner ehrerbietigen Stimme. “Ihr Heiligen, ihr Heiligen, ihr Lieben, bitte, bitte, lasst mich den schönen Kuchen finden. Ich bitte Euch sehr darum. Ich habe so lange keinen mehr gegessen! Ich schwöre, ich schwöre, ich werde ihn auch mit meinen Geschwistern teilen. “ Er ließ die Hände sinken und sah auf die weiße Straße mit den schwarzen Kutschspuren, die vom frisch fallenden Schnee zusehends aufgefüllt wurden. Er lief von einer Seite der Straße zur anderen und wieder zurück. Er lief vor, zur Seite, machte einen Kreis, dass man hätte in dem dichten Schneegestöber leicht glauben können, einen Betrunkenen, wie sie zu dieser Stunde oft unterwegs sind, sehen zu können. Verwirrt von dem Speichel der sich in immer größeren Mengen in seinem Munde ansammelte, benommen von dem Schmerz den die Säure in seinen Magen anrichtete und irre von dem Wunsch nach der ersehnten Süße des Kuchens, ließ er sich erschöpft vor den Rest der Wagenspur niedersinken. Er breitete die Hände aus und wünschte sich hier und jetzt endlich sterben zu können. Langsam ließ er seinen dürren Körper nach vorn in den Schnee fallen. Er wusste, wenn er jetzt nicht wieder aufstand, dass er starr und kalt werden würde, wie der Mann heute Nachmittag, zwischen dem Arzt und der Heilerin. Plötzlich und aus einem unerklärlichen Triebe heraus, sei es weil er sich um seine Geschwister sorgte, oder weil er immer noch zu viel Lebenswillen innehatte, stellte er sich auf die Knie, stützte sich in die aufgetürmten Schneewehen und spürte auf einmal das Stück Kuchen zwischen seinen eiskalten, starren Fingern. Er setzte sich wie ein Kleinkind breitbeinig auf die Straße und begann zu weinen. Er weinte dicke Tränen, wie man es dem schlanken, zähen Jungen, der durch Schläge nicht nur seines Vaters groß geworden war, niemals zugetraut hätte. Er weinte, dicke Tränen, dass die Flocken auf seinen Wimpern und den verfilzten Haarspitzen zu schmelzen begannen. Er weinte, dass die Tränen auf den Kuchen tropften und den Schnee darauf zum Schmelzen brachten und die verschiedenen Farben der Kuchenzutaten zum Vorschein traten. Er weinte, weil er lange nicht mehr geweint hatte. Er weinte, weil der Vater irgendwie anders geworden ist, seit er seine geliebte Mutter mit eigenen Händen eingegraben hatte. Und schließlich weinte er auch, weil sein Vater ihm an diesem Tage verboten hatte, am offenen Grabe vor den acht Geschwistern zu weinen. Aber am meisten weinte er, weil das schöne Stück Kuchen, nach dem er sich von ganzem Herzen gesehnt hatte, von der Kutsche zerfahren und nun zermatscht vor ihm in zwei Teilen im Schnee lag. Er hob die zwei Stücke auf und versuchte sie mit den steifen Fingern zu streicheln. So, als ob er seiner geliebten Mutter ins Gesicht sah, um sich für eine ihrer vielen Zärtlichkeiten zu bedanken, schaut er in den Himmel und sagte in seiner gewohnt ehrerbietigen aber immer noch verweinten Stimme: „Danke, ihr Heiligen, danke Euch allen!“ Er sah auf die Marmorierung des Kuchens und legte beide Stücke jeweils auf einen Oberschenkel. So als wollte er seine eben gedachten Gedanken des Freitodes im Schnee dennoch umsetzen, legte er sich an die Stelle der Kutschspur, pustete sie vorsichtig frei und begann mit beiden Daumen an dem Steinpflaster zu kratzen. Dabei pustete er immer und immer wieder Schneeflocken von den Kutschspuren weg. Behutsam sammelte er die Krümel des Kuchens, die er von dem schmutzigen Pflaster abkratzen konnte, auf und streute sie vorsichtig in seine Seitentasche. Danach nahm er seine zwei Kuchenhälften, stand auf, bekreuzigte sich noch einmal an der Stelle, wo der Kuchen gelegen hatte und ein zweites Mal mit Blick in den Himmel, wo er die Heiligen vermutete. Mit beiden Händen schützte er die zwei Hälften und trug sie, wie der Pfarrer den allsonntäglichen Kelch vor seiner Brust. Er hauchte über seine Finger, damit der Schmerz, der sich darin befand, endlich verschwand. Taumelnd setzte er sich an den Rand der Straße, sah sich die beiden Hälften an und schätzte deren Größe. Das kleinere der beiden wickelte er in sein Taschentuch und steckte es zu den Krümeln in die Tasche. Das Größere nahm er in beide Hände und versuchte es zu erwärmen. Wieder hauchte er über seine Hände und hoffte so endlich den darin befindlichen Kuchen essbar zu machen. Er stand auf und lief in einem Glückstaumel die dunkle Straße entlang. Er sah die großen Augen seiner Geschwister, ihr erstauntes Lächeln, ihre vielen Fragen und das tagelange Erzählen von dem herrlichen Fund. Voller Glück lief er schneller und schneller und hatte das wunderschöne Gefühl, zu fliegen. Er lief und rutschte an einer frischen Schneewehe aus. Die Kuchenhälfte fiel zurück auf die Straße. Aljoscha erwachte aus seinem Glückstaumel und tapste auf allen vieren der Kuchenhälfte, die im dichten Schneefall verschwand, hinterher. Die heranfahrende Kutsche, vor die er den nicht so feinen Herren eben noch gewarnt hatte, fuhr im Eiltempo über das Kopfsteinpflaster und die Peitsche surrte durch die Luft. Betäubt von dem kostbaren Verlust suchte Aljoscha weiter und bückte sich in die frische Schneewehe. Die Kutsche raste auf den Jungen zu. Aljoscha sah von der Stelle, an der er die Kuchenhälfte vermutete, auf. Er sah die herannahenden Pferde und warf seinen dünnen Leib in die Schneewehe und drehte sich von dieser an den Straßenrand. Er stand auf, betastete sich von den Fußlappen bis zum Schal und konnte kaum glauben, unversehrt geblieben zu sein. Erschöpft von dem Schreck und erschöpft vom Abtasten, kauerte er sich auf den Bordstein, hob die Hände nach oben und sagte in seiner ehrerbietigen Stimme: „Danke, danke, ihr Heiligen, habt vielen, vielen Dank“. Er verbeugte sich ins Dunkel und sackte zusammen. Im Liegen zog er das Stück Kuchen aus der Hosentasche und entfernte das Taschentuch. Er öffnete den Mund und schob die Zunge heraus, um endlich die ersehnte Süße zu schmecken, um die er sich seit über eine Stunde so verzweifelt bemühte. Als er die Stelle erkannte, an der er lag, stieß er sich vom Bordstein ab. Dabei umklammerte er ein im Schnee liegendes morsches Stück Holz und schubste seinen schlanken Körper in einem Zuge nach oben, dass auch die zweite Kuchenhälfte im hohen Bogen im Schnee verschwand. Mit letzter Kraft rannte er über die Straße zum Licht des Gasthauses und stellte sich vor das Fenster an dem er heute Nachmittag seine Buchstaben geschrieben hatte. Verwirrt vom Tage und verwirrt auch vom eben Erlebten, starrte er zum Licht und von diesem auf seine immer noch zitternden Hände. Zwischen den Fingern hielt Aljoscha statt des morschen Holzes, einen rotledernen Beutel mit einer aufwendig verzierten Messingschnalle.

Aljoscha, Teil I

Sobald er bemerkte, dass einer der Männer mit den dickbepelzten Kragen den Gastraum zu verlassen gedachte, sprang Aljoscha vorsorglich auf und wartete, bis dieser das Speisegeld für alle im Raume hörbar, Münze um Münze, auf den Tisch warf. Bevor der Wirt das Geschirr vom Tische nehmen konnte, kratzte Aljoscha hastig die Rester aus der Schüssel und leckte sie aus. Gierig griff er den Becher und trank in einem Zuge, was der Gast bewusst oder unbewusst zurückließ. Nicht selten machten dem Jungen die Getränke wirre und er schlief in der Nische ganz gegen seinen Willen ein und konnte so keine weiteren Speisereste für den Abend erhaschen. War der Gast reich, ließ dieser, teils weil sein Magen bereits gefüllt war, teils aus purer Hochnäsigkeit vor dem Jungen oder vor den anderen Gästen, aber manchmal auch nur aus Barmherzigkeit einen nicht zu Ende gegessenen Knödel oder gar ein Stück angebranntes Fleisch auf dem Teller für ihn liegen, wischte sich demonstrativ den Mund mit dem Ärmel ab, um mit gespielt mürrischem Blick den Teller wegzuschieben, aufzustehen, dem Jungen zuzunicken und wortlos zu gehen. Manchmal beobachteten sie sich beide und der Gönner hatte Freude daran, den Jungen an der Nase herumzuführen und den zurückgeschobenen Teller wieder an sich heranzuziehen und schmatzend weiter zu essen. Aljoscha war gut im Erkennen dieses Spiels, hatte er sich doch von klein an, an die Gesichter, Bewegungen und die Kleidung, der mehr oder weniger lauten Herren, gewöhnt. Und so konnte er über die Jahre einige der Gäste mit einem Lächeln, einem traurigen Gesichtsausdruck oder mit gespieltem Desinteresse für sich gewinnen und so wenigstens die vier kleinen, der acht Geschwister, leidlich miternähren. War kein Gönner am Tische zu erkennen oder war der Gastraum leer und forderte der Wirt von ihm keine Gefälligkeiten, wie Putzen, Holz holen, Asche wegschaffen, ausfegen, machte Aljoscha das, was er in dieser warmen Stube an den nie richtig hell werdenden Wintertagen am liebsten tat: er schmiegte sich in die Nische wie an die Brust seiner längst verstorbenen Mutter und sah stundenlang aus dem Fenster.

Er hauchte ein Loch auf die vereiste Fensterscheibe und beobachtete in dem kleinen Ausschnitt wie die aufgebrachte Menschenmenge langsam auseinanderlief, die sich zum einen hinter die schreiende Heilerin Feodora Iljanowa und zum anderen um den um Sachlichkeit bemühten Arzt Anatolij Michail gescharrt hatten. Den im Schnee liegenden Fremden, um den der ganze Streit im Ursprünglichen gegangen war, ließ man, weil er während des Streitgespräches der beiden erfroren war, für den Leichengräber liegen. Aljoscha faltete die Hände und betete, dass der Fluch, den Feodora Iljanowa vor einer halben Stunde über ihn sprach, weil er sich auf die Seite des Arztes gestellt hatte, wirkungslos bleiben möge. Um sich von ihrem Fluche abzulenken, malte er mit dem Zeigefinger auf die andere Scheibe der Nische Buchstaben, wie er sie vor Jahren einst mit Begeisterung in der Schule gelernt hatte und wie er sie manchmal auf diesen Scheiben nur so zum Zeitvertreib übte. Auch heute begann er mit dem ersten Buchstaben des Alphabetes. Dabei strahlte er, dass sich das Kerzenlicht des Gastraumes in seinen braunen Augen spiegelte. Es folgte der zweite und dritte, der vierte und fünfte Buchstabe. Als die Scheibe vollgekritzelt war, machte er eine Pause und hoffte, dass sie schnell wieder beschlage, damit er weitere Buchstaben auf die Scheibe malen könne. Er drehte sich um und kontrollierte, ob nicht in der Zwischenzeit ein Gast gekommen oder ein anderer sich anschickte zu gehen oder einer mit ihm ein Spielchen, um die Essensreste auf seinen Teller spielen wolle. Nichts von alledem, die Gaststube, war bis auf ein paar bekannte Trinker, die allesamt Geizhälse waren, leer. Er kritzelte in die andere Scheibe den sechsten, siebten achten und neunten Buchstaben und freute sich, dass er nach all der Zeit endlich wieder einmal bis zum neunten Buchstaben gekommen war. Beim Zehnten musste er überlegen. Er schloss die Augen und malte ihn in Gedanken mehrmals und in Schönschrift auf, weil ihm zum Üben der Platz auf den Scheiben fehlte.
Weil seine Stirn zu schmerzen begann, öffnete er die Augen und bemerkte, dass sich der Gastraum gefüllt hatte. Er musste wohl beim Überlegen des Elften Buchstabens eingeschlafen sein, denn seine Stirn ruhte auf der eiskalten Scheibe und fror, dass es ihn nun zu schmerzen begann, wovon er erwachte. Er sah jeden einzelnen Besucher aufmerksam an, musterte die Frisuren, die Hände mit oder ohne Ringen, die Kleidung von den Schuhen bis zum Schal. Vor allen Dingen beobachtete er, wie hastig oder entspannt sie aßen, ob sie den Kloß in ihren Mund reinschoben oder langsam kauten, ob sie sich unterhielten, Pausen einlegten, auch wenn sie allein waren und durch keine Antwort genötigt wurden, die Gabel aus dem Mund zu nehmen. Außerdem achtete er auf deren Gesten, ob die Mundwinkel nach oben zeigten, ob sie lächelten, den Kopf bei ihren Antworten wiegten und die Hände zur Unterstützung des Gesagten zu Hilfe nahmen oder ob sie auf all dies verzichteten. Dann waren sie auf keinem Fall gewillt, so einem armen Jungen wie ihn, einen Bissen auf dem Teller zu gönnen. Aljoscha gähnte und drehte sich zur Scheibe zu den inzwischen verschwundenen Buchstaben zurück. Er überlegte, wie der elfte und zwölfte Buchstabe aussah und malte sie auf die Scheibe. Aber schon beim nächsten Buchstaben kam er nicht weiter und grübelte, ob er jemals diesen Buchstaben geschrieben habe. Ein Schlag auf den Hinterkopf beendete seinen Gedanken. Der Gastwirt zog ihn aus der Nische und sagte: „Du nichtsnutziges Stück Holz, geh´ und hole Wein aus dem Keller. Und das Du mir ja keinen Tropfen verschüttest, sonst prügle ich dich windelweich. “ Aljoscha wusste, dass der Wirt meinte, was er sagte. Er spürte von jeher, wenn jemand Schläge nur androhte oder sie wirklich ernst meinte. Das sah er an den Blicken, den Bewegungen und der Betonung, mit der diese Menschen ihre Worte aussprachen. Er kannte den Blick seines Vaters, bevor der mit der flachen Hand zuschlug, er kannte die Worte des Lehrers, wenn er ihn wegen eines falsch geschriebenen Buchstabens rügte und er kannte die Bewegungen des Pfarrers, wenn dieser mit der Faust auf ihn einschlug, weil er wieder einmal mit dem Banknachbarn tuschelte. Er kannte alle Schläger des Dorfes und hatte mit der Zeit das Gefühl, fast alle Schläge, die es von diesen Menschen jemals zu verteilen gab, im Voraus erhalten zu haben. Es waren nur wenige, die sich nicht wie die Mehrheit benahmen, denen der Ernst in der Stimme fehlte, die ihre Worte nicht mit einer ausholenden Handbewegung begleiteten. Aljoscha gehorchte dem Wirt und rannte in den Keller, holten einen Krug Wein und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Weil er sich ihm gegenüber als unentbehrlich zeigen wollte, ging er ein zweites Mal und ein drittes Mal. Und jedes Mal kam er mit einem halbvollen Krug zurück und stellte ihn ehrerbietig vor dem dünnen Manne in der Tischmitte auf. Der Wirt goss den Wein in die Becher und scheuchte Aljoscha weg. So konnte er wieder in seine Nische zurück klettern und sich an die warmen Bretter schmiegen.
Von der spontanen Rennerei außer Atem, knetete Aljoscha seine Hände warm und begann, da er keinen weiteren Buchstaben kannte, einen zu erfinden. Er nahm den Zeigefinger und zeichnete ihn mit der Fingerkuppe auf die Scheibe. Er betrachtete die Umrisse und hauchte darüber. Weil ihm der Buchstabe gefiel, zeichnete er einen weiteren und noch einen weiteren. Ob es das Malen der vielen Buchstaben war, die ihm ins Bewusstsein riefen, dass er heute noch nichts gegessen hatte oder ob es die Rennerei in den Keller war oder auch die Streiterei um den verstorbenen Fremden vorhin auf der Straße, wusste er nicht. Allein sein Magen begann sich unaufhörlich bemerkbar zu machen. Und so sah sich Aljoscha, von Hunger getrieben, im Gastraum um. Ein Herr, den er vor geraumer Zeit schon einmal beobachtet hatte und von dem er glaubte, dass jener nie einen Bissen für ihn auf seinem Teller zurücklassen würde, sah ihn an und musterte Aljoscha von Kopf bis Fuß. Er lächelte, zeigte seine krummen Zähne, die hinter seinem ungeschnittenen Schnurbart herauslugten und biss in ein großes Stück Kuchen. Aljoscha kaute unwillkürlich mit. Der Mann sah dies und kaute umso deutlicher mit seinen Zähnen auf dem Kuchen. Aljoscha, von den Kaubewegungen des fremden Herren wie von magischer Hand geführt, kaute jede seiner Bewegungen doppelt nach. Der Mann mit seiner abgewetzten Jacke betrachtete den Jungen und begann zu schmatzen. Dabei leckte er die Finger ab und pusselte einzelne Krümel vom Teller auf die Fingerkuppen und schob sie einen Krümel nach dem anderen zwischen seine schiefen Zähne mit den großen Zahnspalten. Aljoscha wurde schlecht. Der Mann rülpste und schob den Teller mit dem Kuchen weit von sich weg, griff in seine Hose und holte ein Geldstück hervor, hauchte auf das Metall und bügelte mit dem Hemdsärmel darüber. Er streckte seine Hand nach oben und ließ das nun blanke Geldstück auf den Rand des Tellers klirren. Dann erhob er sich und stieß den Stuhl um. Bei alledem sah er unentwegt den Jungen an, schlug sich auf den Bauch und winkte ab, als hätte er wieder einmal viel zu viel gegessen. Aljoscha ahnte, dass der Mann nur mit ihm spielte und gar nicht die Absicht hatte ihm eine Ecke seines Kuchens zu überlassen. Trotzdem folgte er aufmerksam jeder Bewegung des Mannes, denn der Schmerz in seinem Magen ließ ihm keine andere Wahl. Damit er dem Herrn, der seiner Meinung nach nicht wirklich ein feiner Herr war, nicht unnötig bei seinem Spiele half, drehte sich Aljoscha zum Fenster, hauchte über die Scheiben und malte die ersten Buchstaben des Alphabetes. Keinesfalls wollte er ihm seine Schwierigkeiten, die er beim Schreiben hatte, so leicht zu erkennen geben. Er schrieb und beobachtete den Mann im Spiegelbild. Der rief den Wirt und sagte: „He, Du, bring mir Papier damit ich den Kuchen einpacken kann, oder soll ich ihn wegwerfen?“ Der Wirt rief Aljoscha zu sich und befahl ihm mit erhobener Stimme und Hand, den Wunsch des Herren umgehend zu erfüllen. Aljoscha nahm das Umschlagpapier und ging an den Tisch. Mit zitternden Händen nahm er den Kuchen vom Teller und legte ihn in die Mitte des Papiers. Der Mann sah dem Jungen zu und fauchte: „Geh weg, schere dich zum Teufel, den Rest mach ich selber, sonst frisst Du ihn mir weg!“ Er klappte das Papier zusammen ohne es an den Enden einzuschlagen. In diesem Augenblick erkannte Aljoscha, dass der Mann sturzbetrunken war und ihm das Stück Kuchen früher oder später aus dem Umschlag rutschen und auf die Erde fallen würde. Er blieb neben dem Mann stehen, der soeben die vier Stufen aus dem Gastraum herunterging und überlegte, ob er ihn sicher zur Tür und von dort über die Straße auf den Fußweg bringen, oder ob er doch lieber in der wohligen Wärme seiner Nische bleiben und abwarten sollte, bis ein barmherziger Gast vorbeikäme, um ihn seinen nicht abgegessenen Teller zu überlassen. Die Säure im Magen schmerzte und das Hungergefühl drängte ihn nicht mehr darüber nachzudenken, ob es klüger wäre, hier angewärmt zu bleiben oder ob es nicht doch besser wäre, dem Gasthause mit seinen Düften zu entkommen und neben den hungrigen Geschwistern Platz zu suchen, sich an diesen zu wärmen, bis auch der Schlaf ihm gnädig den Hunger für ein paar Stunden abnähme. Und so begleitete er den angetrunkenen Gast vor die Tür, auf den beschneiten Boden der holprigen Straße.

Frau Schnorrmann

Langsam legte sich die stickige Zimmerluft in den Raum. Eine nach der anderen atmete den gleichmäßigen Atem, der der noch wach Liegenden verriet, dass die beiden Patientinnen bereits eingeschlafen waren. Und so wurde es kurz nach Mitternacht bis auch Frau Schnorrmanns unschöne Gedanken von dem gleichgültig machendem Geräusch der beiden Frauen erfasst wurden und sich ins Nichts auflösten: die Ankunft vor zwei Tagen; dass die Neue die geordnete Ruhe störe; die heiße Stimme von Frau Bayer; die jungfräuliche Lehrerin Frau Schubert, die im Bett sitzt und alles und jeden schulmeisterlich kritisierte, dass es selbst dem Personal manchmal zu viel wird.

Frau Schnormann bewegte sich im Bett von der einen auf die andere Seite. Dabei fiel ihre Steppdecke herunter und sie erwachte aus einem beunruhigenden Schlaf. Sie setzte sich auf und starrte zur der mehrere Meter hohen Zimmerdecke mit dem verzerrten Fensterkreuz mit Dreipass, welches das Mondlicht auf die weißen Wände projizierte. Sie betrachtete jede der gleichmäßig Atmenden in dem Raum und kletterte, nachdem sie sicher war, dass alle schliefen, vorsichtig über das Bettgitter hinab, hob die Steppdecke auf und legte sie ins Bett zurück. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich ans Fenster, dessen Sims breit ausladend in ihrer Augenhöhe begann. Sie nahm sich einen Stuhl, kletterte darauf, legte ihre dicken Knie auf den Tisch, um auf diesen zu steigen. Mit den Händen stützte sie sich auf den tiefen Sims, öffnete das Fenster, umgriff die dünnen Sandsteinsäulen des Dreipasses und starrte still in die Nacht. Zu viel Mond, zu viel Licht, dachte sie. Das kann sehr gefährlich werden. Sie fror und knöpfte die zwei Knöpfe ihres rüschenbesetzen Nachthemdes zu. Die Kälte erinnerte sie an den Winter, an die ständige Angst, und immer die Russen im Nacken. Sie atmete die kühle, beißende ostpreußische Winterluft, hörte das Pferdegetrappel, wildes Durcheinanderschreien, das Knirschen von schnellen Fußstapfen, und in der Ferne den seit Wochen herannahenden Kanonendonner. Leise schob sie das Fenster zu, kniete sich mühsam auf den Tisch, um von diesem rückwärts auf den Stuhl zu klettern, um von dem wieder mit ihren nackten, für ihre Größe viel zu großen Füßen auf den Boden zu gelangen. Sie wischte mit ihren faltigen Wäscherinnenhänden über die Sitzfläche des Stuhles und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Sie kletterte über das Bettgitter in ihr Bett und bewegte den Kopf mit den faltigen Wangen auf dem Kopfkissen unruhig von der einen zur anderen Seite und kniff die Augen zusammen. Ihre breiten Hände mit den dicken Fingernägeln schob sie ins Gesicht und murmelte ein Gesicht. Es gelang nicht. Zu sehr schwirrten die Gedanken um sie herum und zu sehr beunruhigte sie diese Nacht. Ich halt das nicht aus. Ich weiß nicht was passiert ist, dachte sie. Sie rieb über den Bauch, der in der Windel steckte. Ich muss hier weg! Nein, nein, es ist zu spät, wie damals als sie ihn erschossen. Sie selbst spürte in jener Nacht nichts, die Tochter in ihrem warmen Stoffbündel gehüllt, schrie im Versteck. Sie schrie und hätte die Dorfbewohner fast verraten. Sie solle der Kleinen den Kehlkopf zudrücken, hatten die anderen gefordert. Es müsse sein. Sie dachte damals, die Tochter würde wegen der wenigen Habseligkeiten, schreien, die sie ins Knäuel heimlich eingenäht hatte, weil es doch immer hieß, die Russen würden die Kinder verschonen. Nur die Kinder. Deswegen riss sie die Löffel, die Silberschnalle der Mutter, die vergoldete Uhr, das Zigarettenetui des Vaters und die kleine, bronzene Kaiserplastik des Großvaters, heraus und warf sie in den Fluss. Erschossen hatten sie ihren Franz. Ganz einfach, ohne zu fragen, erschossen, und die Tochter hatte geschrien in dieser kalten, mondklaren Nacht und ließ sich einfach nicht beruhigen. Wie konnte das armselige Ding das nur merken, flüsterte Frau Schnorrmann zur Zimmerdecke, zu den Schatten des Dreipasses und zu dessen blasenförmigen Umrissen und glaubte den Schatten Dickichts im Schnee zu erkennen. Sie kniff die Augen zu, duckte sich in die Bettkuhle und flüsterte: „nur Du weißt warum, nur Du, lieber Gott? Ein Stück Papier hast Du mir gelassen, auf dem steht, dass er tot ist, in schöner Sütterlinschrift, mit einem Stempel drauf. Da sie sehr genau wusste, dass es ihr in diesen Momenten beim Einschlafen half, summte sie „Drei weiße Birken“ und streichelte sich über ihre Nase. Sie lief den Birkenhain entlang, stellte sich hinter die Mauerreste und hörte ihm beim Singen eines seiner vielen Volkslieder zu, die er gern und laut sang. Sie schwang sich heimlich über das Seitenbrett auf das Fuhrwerk, kletterte auf den Holzstapel und fuhr mit ihm ins Dorf.

Weil sie der Schlaf aber nicht haben wollte, öffnete Frau Schnurrmann die Augen, legte die Hände auf den Schoß und grübelte. Das gleichmäßige Atmen der Mitpatientinnen beunruhigte sie auf einmal. Sie kletterte wieder über das Bettgitter, ging zum Schrank, in dem die Schwestern die Kleidung bei der Ankunft einer Jeden hineinsortierten, nahm ihre Kleidung heraus, entfernte den schief eingeklebten Pflasterstreifen, auf dem ihr Name in hastig geschriebenen Buchstaben stand und zog die Sachen an. Da sie ihre Schuhe nicht fand, ging sie barfuß in ihrem viel zu großen grauen Mantel und dem viel zu langen grünen Rock durch den Raum, nahm ein Bündel Zellstoff, den die Schwestern vorsorglich am Abend auf alle Nachttische gelegt hatten und stellte sich an das gegenüberliegende Bett. Den Rock hatte sie vorher noch mit dem Pflasterstreifen zusammengeklebt, auf dem ihr falsch geschriebener Name stand. Die Patientin lag auf dem Rücken, die Arme auf der Brust, das Gesicht weit nach oben gerichtet, der Mund geöffnet. Mit ihrer blassen Haut wirkte sie wie eine in weißen Stein geschlagene Friedhofsskulptur. Frau Schnorrmann stellte sich an das Kopfende, seufzte und betete mit ihrer tiefen, brummenden Stimme, leise ein Vater Unser. Sie griff den Stapel mit den dünnen Zellstoffbahnen, zerpflückte diese zwischen ihren dicken Fingern zu kleinen Blütenknäulen und verstreute die Knäuel feierlich auf das Gesicht und auf die Brust der Schlafenden. Liebevoll streichelte sie über deren Wangen, murmelte Kinderreime und küsste sie. Von alledem aufgewacht, begann die Patientin um Hilfe zu schreien. “Was machen sie denn da? Die ist verrückt“, rief sie! „Bringt sie hier weg!“ und griff nach der Klingel. Völlig irritiert stand Frau Schnorrmann mit dem Zellstoff in der Hand, vor ihr. Die Nachtschwester betrat das Zimmer und herrschte sie an:“ Was wollen sie hier? Wissen sie nicht wie spät es ist? Gehen Sie sofort wieder in ihr Bett. Sie müssen doch schlafen, wenn sie gesund werden wollen!“ – „ Schaffen Sie mal die Oma hier fort“, geiferte die Patientin weiter und warf die zerpflückten Zellstoffknäuel, der auf ihrer Brust lag, hinter ihr her.
Mit gesenktem Kopf ging Frau Schnorrmann artig an der Hand der herbeigerufen Schwester. Sie entfernte das Bettgitter und legte die Frau wieder ins Bett. Frau Schnorrmann murmelte:“ Aber ich dachte, ich darf noch mal, aber ich muss sie doch wenigstens…!“ und sah dabei die Schwester an – „Ich bring ihnen noch etwas zur Beruhigung und dann schlafen wir aber fein. Es ist doch schon spät“, beschwichtigte die Schwester liebevoll die Frau.
Am anderen Morgen saß Frau Schnorrmann wortlos in ihrem Bett, zerriss den restlichen Zellstoff und streute ihn über ihre Bettdecke. Die lindgrüne Windel, die bis unter die dünnhäutige Brust reichte, irritierte den Arzt bei der Visite, dass er ihr das Nachthemd eilig zuknöpfte und beiläufig fragte „Was haben Sie denn da gestern Abend gemacht?“. Frau Schorrmann, die ihren Unterkiefer unaufhörlich hin- und herbewegte und mit den Händen die Zipfel der Bettdecke gegeneinander rieb, blickte ihn freundlich an. Sie hob die Schultern und sprach mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme „Wissen Sie“, dann machte sie eine Pause, holte tief Luft, denn sie hatte vor jedem Studierten Respekt, „wissen Sie, ich wollte doch nur noch ein einziges Mal, ich musste sie doch…!“ Sie hob wieder die Schultern und sah hilflos in die Runde der Visite. Da müssen wir unbedingt etwas dagegen machen!“, unterbrach empört die Stationsschwester, sonst bekommt der Nachtdienst eine Meise.“ – „Na, dann geben Sie ihr 10 Tropfen Valocordin zum Abend und ein bisschen Haloperidol zur Nacht!“, beschwichtigte der Arzt, streichelte über den Kopf der Frau und ging zum nächsten Bett.

Nach der Visite klingelte das Telefon der Stationsleiterin und eine Schwester erkundigte sich, ob sich die 90´jährige Frau Schnormann noch auf ihrer Station befände und das ihre Tochter heute Nacht plötzlich auf ihrer Station verstorben sei. Die Stationsschwester überlegte, wie sie die Nachricht der verwirrten Frau übermitteln könne. Sie beauftragte mit der Nachricht eine neue Mitarbeiterin.

Die junge Schwester betrat das Zimmer, nahm eine Schüssel, füllte sie mit Wasser und wusch Frau Schnorrmann. Sie fragte sie nach ihrem Leben, nach besonderen Wünschen, massierte den Rücken, die Hände und die Füße. Die Schwester brachte es jedoch nicht fertig, der Frau den Tod der einzigen Tochter mitzuteilen und stellte ihr wortlos das Frühstück hin. Mittag trat sie wieder an ihr Bett, räumte das Frühstück weg, reichte ihr das Mittagessen und überlegte, wie sie ihr endlich den Tod mitteilen könne. Mit leiser Stimme fragte sie: „Haben Sie sich schon in diesem Zimmer eingewöhnt? Haben Sie noch einen Wunsch? Kann ich Ihnen das Kissen aufschütteln?“ Die alte Frau, die auf der Seite lag und von der nur ein Stück der grünen Windel zu sehen war, drehte sich zu ihr um, legte den Kopf auf die Hand, die auf dem Kopfkissen lag und schwieg. Die Schwester zwirbelte unaufhörlich den Haarlocken und sagte: „Frau Schnorrmann, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ihre Tochter ist letzte Nacht unerwartet gestorben. Frau Schnorrmann, haben sie verstanden, was ich eben gesagt habe?“ Die alte Frau setzte sich auf, griff die runden Hände der Schwester und streichelte sie. Sie runzelte die Stirn und wog ihren von Falten übersäten Kopf nach links und rechts, dass ihr Zopf wackelte. Mit tiefer, fast männlichen Stimme sagte sie müde: „Ich weiß, Kindchen. Da kann ich nun nichts mehr machen.“ Sie lächelte die Schwester an, dass ihre drei verbliebenen schiefen Zähne in der linken Mundhälfte, hervortraten. „Wenn ich Ihnen nur helfen könnte“, sagte die Schwester, weinend am Bettrand sitzend. Frau Schnorrmann schob ihre faltigen Hände um die Wangen der Schwester und flüsterte in ihrem ostpreußischen Dialekt: „Ich weiß Kindchen. Ich weiß es bereits!“ Danach schob sie ihre Hände um ihre flache Brust und murmelte. „Weißt Du, ich habe sie eigenhändig getragen, von Ostpreußen bis hierher, die Russen im Nacken und die Kanonen im Ohr. Es war Weihnacht 44`“. Sie streichelte nochmal die Schwester, legte sich zurück auf die Seite, dass nur die grüne Windel zum Vorschein kam und starrte das Bettgitter an.

Kreiseln

Ich starre zur Deckenleuchte, zum Fenster und von dort zum Nachttisch. Keine der Schwestern beachtet mich. Ich höre mich fragen, was ich hier soll und höre sie antworten, dass ich ganz ruhig im Bett liegen bleiben muss und nicht aufstehen darf. Das Zimmer ist voll alter Leute und mein Bett steht in der Mitte des lindgrün gestrichenen Raumes mit dem glänzenden Linoleum. Ein Notbett, denke ich. Die anderen Patienten sind still oder schlafen oder schauen teilnahmslos zur Zimmerdecke; das Personal wäscht, bettet oder spritzt ihnen Medikamente oder hantiert an Schläuchen und Infusionen. Die Schwestern kommen an mein Bett und beugen sich über mich. Eine stellt sich an mein Kopfteil und streichelt über meine Stirn; eine Zweite greift meinen Arm und prüft die Flexülen im Handrücken; die Dritte legt die Manschette an den Oberarm und misst Blutdruck; die Ältere setzt sich kumpelhaft auf mein Bett und schlägt die Beine übereinander. Ich sehe sie an, kann die Buchstaben auf dem Namensschild im blendenden Licht nicht erkennen, frage, wie sie heißt und was ich hier soll. Mit ihren Fingernägeln zeigt sie auf ihr Zwerchfell und reibt kleine Kreise. Immer und immer wieder reibt sie auf der Stelle ihres Kittels kleiner werdende Kreisbewegungen, dass das Rot zu einem Punkt verwirbelt. Ich habe das Gefühl, dass sie das absichtlich macht und mir irgendetwas andeuten will. Sie nimmt meine Hand, zieht sie sanft auf ihren Oberbauch, schiebt die Hand auf meinen Bauch zurück, reibt sie über meine Haut und ermuntert mich wortlos, den Unterschied zu erspüren. Als ich den Unterschied ahne, werde ich müde, schließe die Augen und schlafe sofort ein.

Ich stehe auf. Ich wandere ziellos umher. Ohne mir darüber bewusst zu werden, suche ich einen Arzt. Als mir meine Suche bewusst wird, lege ich mich zurück ins Bett. Ich ziehe die Decke über den Kopf. Ich winkle meine Beine an und umklammere sie, denn vor dem Frühstück will ich keinen Arzt sehen. Das Frühstück wird gebracht. Ich schiebe den Kopf unter der Decke hervor. Ich fahre mit den Fingern durch meine ungekämmten Haare. Ich beginne hastig zu essen und zu trinken. Dabei kann ich nicht sagen, was ich esse und trinke und wonach es schmeckt. Die Schwester, die eben noch auf meinem Bettrand gesessen hatte, läuft an mir vorbei. Sie schüttelt den Kopf und zeigt mit dem Zeigefinger auf das Zwerchfell und kreiselt darüber. Sie nickt freundlich und ermuntert mich, ebenfalls zu nicken und das Essen endlich wegzuschieben.

Ich nicke ihr zu, werde wach, sehe den vollen Teller, mit dem Brötchen, dem Kaffee, dem Apfel, und dem Käse und der Marmelade. Ich schiebe alles beiseite, entferne die Schläuche, stehe auf und suche einen Arzt. Ich gehe hinaus in den Gang, von dort die Treppe herunter, nach draußen und vom Eingang hinüber in den Garten. Die Patienten, die eben noch geschlafen haben, drängeln sich vor mich jeder mit einem Zettel in der Hand an der Tür eines verschlossenen Zimmers. Unwillkürlich denke ich an Kinder vor einer Essenausgabe in der Schulküche. Ich sehe die nackten Rücken der Patienten und überlege, ob ich das träume und dass ich R. sofort anrufen muss. Er hat mir erst vor kurzem gesagt, dass er weiß, wie man kontrolliert, ob man schläft oder wach ist. Ich suche mein Handy, greife ins Leere und beginne zu frieren. Ich verlasse die Menge aufgeregter Patienten mit ihren entblößten Hintern und begegne wieder der Schwester, die mir auch dieses Mal freundlich zunickt und sich dabei über den Bauch streichelt. Ich renne vor der Schwester mit ihrem weinroten Fingernagel davon. Richtungslos irre ich durch Räume mit gedimmten Licht, ziehe einen leeren Stuhl hinter mir her und stelle ihn in eine freie Ecke, bleibe neben ihm stehen und betrachte Patienten, die aufgeregt Dinge tun, die ich nicht verstehe. Ich gehe in einen anderen Raum und stelle mich auch hier still in die Ecke und beobachte die Kleidung der Patienten, die weder Farbe noch Schnitt hat. Auch ihr Verhalten ist mir unverständlich: mal greifen sie nach etwas, dann lassen es los, geben das Gegriffene einem anderen Mitpatienten, um es sofort wieder von diesem im Empfang zu nehmen oder weiterzugeben. Schnell verlasse ich auch diesen Raum und ziehe den Stuhl hinter mir her, gehe ins Freie, zu den Lichtern, die über mir von allen Seiten leuchten. Ich freue mich, dass die Sonne heute so intensiv über mir strahlt und strecke meine Brust immer und immer wieder nach oben. Mir kommt der Gedanke, noch nicht genug Sonne gespürt zu haben. Ich lasse mich aufs Laken zurücksinken, werde traurig und sinke weiter ins Laken und wundere mich, dass ich jetzt an so etwas denken muss. Mir kommt die Erinnerung, dass ich mir ganz fest vorgenommen hatte, an diesen Gedanken nie und nimmer denken zu wollen, weil man nie genug Sonne spürt und es immer zu wenig Licht gibt und ich bei solch einem Gedanken nur traurig werden kann.

Ich öffne die Augen, sehe hinüber zum Fenster in den grauen Novembermorgen und von dort zum Wecker auf den Nachttisch. Ich bemerke, dass ich eine weitere Stunde geschlafen habe.
Benommen schiebe ich die Decke zurück, stehe auf und gehe barfuß ans Fenster. Ich ziehe die Gardinen auseinander, lehne die Stirn an die Scheibe und betrachte die Frau, die schnellen Schrittes durch den beginnenden Schneeregen quer über die Straße läuft und die große Ähnlichkeit mit der Krankenschwester aufweist, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf meinem Bettrand gesessen hat. Die Frau bleibt plötzlich stehen, dreht sich um, schaut durch den dichter werdenden Schneeregen zu mir nach oben und nickt mir zu. Ich schließe die Augen und weiß, dass es so oder so ähnlich geschehen wird. Ich hebe den Kopf von der Scheibe, hauche verschlafen über den Stirnfleck, male kleiner werdende Kreise darauf und reibe sie mit dem Ärmel des Nachthemdes vom Glas. Mit beiden Händen ziehe ich die Gardinen wieder zusammen und tapse zur Kommode. Ich greife das Handy, öffne das Akkufach, nehme den Akku heraus und lege mich wieder hin.

Ich weiß nicht, was ich denken soll

Ich fahre den Einkaufswagen zum Käseregal. Aus dem Gang mit den Konserven kommen junge Zigeuner. Ich schiebe den Wagen schnell weiter. Ich weiß, dass man Zigeuner nicht sagt. Und trotzdem forme ich wie von fremder Macht geführt dieses Wort lautlos in meinem Mund und schiebe mich an den plappernden Frauen vorbei. Ich schiebe meinen Einkaufswagen an den Sinti oder Roma-Männern, wie es korrekt heißen müsste, entlang, die jeder neugierig in einen anderen Gang schauen. Hab´ ich mir`s doch gedacht, geht es mir durch den Kopf, ihr wollt klauen. Ich beiße mir bei dem Wort Klauen auf die Lippen und denke, dass ich das maximal vermuten darf und mir fest vorgenommen habe aus der jämmerlichen Geschichte der Zigeuner meine Konsequenzen zu ziehen und stets zuerst eine Unschuldsvermutung abzugeben. Ich erinnere mich, dass ich mich tagelang im Internet belesen hatte, um deren Schicksal nachzuvollziehen. Ich weiß seitdem, dass sie wie die Homosexuellen und Kommunisten noch vor Hitlers Machtergreifung auf Listen geführt und verfolgt worden, dass sie in Auschwitz ein spezielles Lager hatten, und dass sie die Einzigen waren, die einen Aufstand führten, sodass die SS abziehen musste und erst am nächsten Tag alle Gefangenen ermorden konnte.

Ich flüstere lautlos Entschuldigung und schiebe meinen Einkaufswagen zurück. Im Vorbeigehen greife ich ein Glas Senf und nicke den Männern freundlich zu. Ich schiebe den Wagen zu der Sinti-Frau, mit der aufwendig gesteckten Frisur und überlege, ob und wie ich sie eigentlich ansprechen soll. Im bemühten Tonfall frage ich mit meinen Englischkenntnissen: „Can I help you, please?“ Dabei lächle ich und wiederhole meine Frage ohne eine Antwort abzuwarten. „What can I do for you?“ Das Plappern der Frauen hört auf, sie sehen mich an und die Sinti-Frau mit der verschnörkelt schönen Haarkreation winkt meine Worte mit einer laxen Handbewegung ab. Weil ich mir nicht sicher bin, ob sie mich versteht, wiederhole ich dieses Mal meine Frage an die Schwangere, die mit den Händen über ihren dicken Bauch streichelt. „Can I help you?“ Ich lächle und zeige auf das Wurstregal. Sicher, geht es mir durch den Kopf, sicher sind sie mit der Fülle an Wurstsorten überfordert. Als ich nach der Wende das erste Mal in einen Supermarkt stand, wusste ich auch nicht, was ich wollte und packte den so Wagen voll, dass das Geld an der Kasse nicht reichte und ich mich mit hochrotem Kopf entschuldigen musste. Da mir diese Situation unangenehm wird, nehme ich irgendeine Packung Wurst aus der schier endlosen Fülle, bedeute ihr, dass die Wurst sehr gut schmecke, werfe sie in meinen Wagen und fahre weiter. Im übernächsten Gang bleibe ich stehen und überlege, ob sie vielleicht wegen der Frage, ob die Wurst aus Schwein oder Rind bestünde, verunsichert ist. Ich erinnere mich an meine Internetsuche und weiß, dass die Zigeuner oder Sinti und Roma oder wie auch immer, überwiegend Christen sind und somit auch Schwein essen. Ich erinnere mich, dass es mir nach dem Gelesenen damals unverständlich blieb, warum besonders die Kirchen ihre Verfolgung mit den Namenslisten in den Taufbüchern ermöglichten und sich Himmler genötigt sah, sich für deren Unterstützung öffentlich in einer Radioansprache zu bedanken. Ich schiebe meinen Wagen weiter durch die Gänge und überlege, warum sie über Jahrhunderte so viel Hass erleben mussten. Bei den Juden hat man sich der Frage gestellt und es gibt jede Menge Bücher dazu. Bei den Sinti bleibt die Frage bis heute unbeantwortet. Deswegen bekommen sie auch kein jährliches Flüchtlingskontingent zuerkannt. Ich schiebe den Wagen zur Aktionstheke und beginne zu wühlen. Mir fällt der Spruch des Vorsitzenden des Zentralrates der Sinti und Roma ein, der in einem seiner wenigen Interviews sagte, dass er im Windschatten des Holocaust leben musste. Unlängst las ich einen Beitrag, dass deutsche Zigeuner, die an der Front kämpften und mit Tapferkeitsmedaillen geehrt wurden, umgehend nach Auschwitz kamen, wenn sich herausstellte, dass sie Zigeuner waren und dass die Uniformen und Auszeichnungen bei Bewachern und Gefangenen für Verwirrung sorgten.

Ich wühle in der Aktionsware und nehme eher lustlos, und um aus meiner wirren Gedankenspirale herauszufinden, einen Doppelpack gebackene Camembert, obwohl ich weiß, dass ich die Kalorienbombe im Ganzen fresse, wenn ich die Packung einmal aufhabe. Der Gruppe an Männern und Frauen drängt lautstark in Richtung Kasse. Weil mir es unangenehm ist, hinter den Männern zu stehen, renne ich an die andere Kasse und werfe schnell die Wurst, den Senf und den gebackenen Camembert aufs Band. Die Verkäuferin sieht mich ungläubig an, steht auf und schaut in den leeren Wagen, in Richtung meiner Tasche, auf meine Hände und sagt in die Länge gezogen: „Ist das alles?“ Ich schaue zurück und komme mir wie ein Dieb vor. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die anderen Wartenden, die jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgt. Ich lasse die schwangere Sinti-Frau mit den tausend Armreifen, die beim Aneinanderschlagen so wunderbar klingen, an mir vorbei. Empört sage ich: Wenn Sie heute kein gescheites Angebot haben, dafür kann ich doch nichts.“ Nur um sie zu ärgern, ziehe ich den Hunderter aus dem Portemonnaie und bekomme prompt die Frage: „Haben Sie´s nicht Kleiner?“ Ich lächle sie an und sage: „. Leider nicht. Tut mir wirklich leid! Ist wohl heute bei Ihnen nicht viel Umsatz?“ Wortlos gibt sie mir das Wechselgeld. Sofort kommen mir die Sinti-Männer in den Sinn. Hastig schütte ich das Geld ins Portemonnaie und verstecke es in der Brusttasche. Die schwangere Sinti-Frau sieht mich an und steigt auf die Rolltreppe. Demonstrativ nehme ich das Portemonnaie wieder aus der Brusttasche und stecke es wie sonst üblich in die Gesäßtasche. Ich werfe die Einkäufe in den Rucksack und gehe ebenfalls zur Rolltreppe. Die Sinti-Männer huschen auf die Stufen und stehen nun doch vor mir. Auf der Rolltreppe betrachte ich die Männer mit ihren völlig ausgetretenen Schuhen und bin mir sicher, dass sie mit den Dingern nach Deutschland gelaufen sein müssen und dringend neues Schuhwerk bräuchten. Ich betrachte ihre Kleidung und wundere mich. Rosa und gelb scheinen denen wirklich nichts auszumachen. Die Männer kommen im Erdgeschoss an. Die Schwangere erwartet sie, zieht ihr Sweatshirt hoch, lässt eine Vielzahl an Wurstpackungen herausgleiten und verteilt sie an die Männer. Ich laufe an ihnen vorbei, tue so, als ob ich die Wurst nicht sehe und starre stattdessen zu der Frau mit der hochgesteckten Frisur. Ich gehe zum Rad und denke, typisch Zigeuner. Über meinen Gedanken erschrocken, trete ich wütend ins Pedal und fahre los. An der Straßenkreuzung, bremse ich ab, steige vom Rad, nehme das Portemonnaie und ziehe den Fünfziger, den Zwanziger, die zwei Zehner und den Fünfer Wechselgeld heraus. Ich falte sie zusammen und werfe sie dem Zigeuner, ich berichtige mein Gedankenwort, dem Sinti, der schon seit Jahren hier kniet, in den Pappbecher mit dem verblassten Aufdruck. Ich nicke. Er sieht mich an, bekreuzigt sich und will meine Hand küssen. Ich habe nichts gegen euch, denke ich. Ich betrachte den knienden Mann mit seiner gegerbten Gesichtshaut, der mich dankbar anlächelt. Ich nicke ihm nochmal zu und weiß auch heute wieder nicht, was ich von Sinti oder Romas oder wie man korrekterweise heutzutage sagen muss, halten soll.

Die Internette

Bevor die Internette mit dem Taxi zur Arbeit ins nahe gelegene Krankenhaus fährt, hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Ladekabel zusammenzurollen und ihre beiden Smartphones wie Revolver links und rechts in die Gürteltaschen zu verstauen.

Sie wirft sich auf die Rückbank, streift die Pantoletten ab und stützt die Füße an die Scheibe der gegenüberliegenden Tür. Sie greift zu den beiden Smartphones und tippt den Inhalt ihres Traumes -, oder auch nur die Dauer des nächtlichen Gewitters mit der Anzahl der Blitze als erste Nachricht ein. Aufgeregt versendet sie diese Informationen an ihre noch schlafenden Abonnementen. Reichen für die Weitergabe ihrer News Daumen und Zeigefinger nicht aus oder bekommt sie die von ihr gefürchteten Muskelkrämpfe im Daumen, setzt sie sich auf und tippt und scrollt stattdessen mit der Nase Informationen ins Tablet.

Fährt die Internette an der Krankenhauspforte vor, steigt sie aus und schreibt die letzten Worte über grandiose Mitternachtsschwimmen, über einen Feuerwehreinsatz, den ihre Freunde durch ein drei-Meter hohes Lagerfeuer ausgelöst haben oder auch über ein Wettessen mit Todesfolge und verschickt die Nachrichten mit 33 Emojis. Erst danach schlüpft sie in ihre Pantoletten und versteckt das Tablet geschickt unter ihrer luftigen Kleidung. Schweißgebadet greift sie das mitgebrachte Handtuch aus der Tasche und trocknet sich Hals, Hände und die Stirn ab. Sie schleicht hinter die Pförtnerei und wringt das Handtuch über der in schnurgerader Reihe gepflanzten Köpfe des Pfücksalats aus, die der Pförtner jedes Frühjahr für sein Frühstück angelegt hat. Ist sie damit fertig, stopft sie das Handtuch wieder in die Tasche, geht zurück zum Auto und schickt dem Fahrer Infos über wichtige Kulturveranstaltungen auf sein Smartphone, die ihm jede Menge zusätzliche Fahrgäste versprechen. Hat sie hingegen wieder heikle Informationen über das abendliche Treiben seiner geschiedenen Frau oder böse Streiche seiner drei heranwachsenden Kinder parat, krakelt sie mühselig Buchstaben auf linierte Zettel, faltet diese zusammen und legt sie als Lohn für treue Fahrdienste auf den Beifahrersitz. Mit einem Nicken bedankt sich der Fahrer, fragt, wann er sie wieder abholen soll und braust mit Lichtsignal davon.

Betritt die Internette das Foyer des Krankenhausgebäudes, schnappt sie alle Meinungsfetzen auf, die sie bekommen kann. Mit diesen geht sie in die neonbeleuchteten Flure und fragt entgegenkommende Mitarbeiter nach den Launen ihrer Chefs oder Kollegen. Noch im Hören greift sie in den Beutel, winkt besorgt oder erfreut den Berichterstattern zu und gibt die Melange aus Meinungsfetzen und eben geäußerten Nachrichten blind in die Smartphones ein und drückt aufgeregt gleichzeitig die Entertasten. Bevor sie auf Station ankommt, hat sie so ein erstes Stimmungsbarometer der Belegschaft noch vor den Sechs-Uhr-Nachrichten abgesandt. Und es ist kein Wunder, dass, seit sie sich mit ihren beiden Smartphones in die letzte Personalratswahl mit zigtausend Rund-SMS eingemischt hat und der aussichtsreichste Kandidat von Platz eins auf den vorletzten Platz rutschte und andere Kandidaten, die seit Jahren aktiv für die Rechte der Mitarbeiter kämpfen, urplötzlich rausfielen, -die Geschäftsführung, die Personalabteilung sowie der Personalrat zu ihren treuesten Kunden zählen sollen. Einzig der Pförtner weigert sich beharrlich eines von den doofen Smartphonedingern zu kaufen und den unverständlichen Quatsch, den sie Tag und Nacht schreibt, zu lesen. Seit geraumer Zeit wird gemunkelt, dass die Pflegedienstleitung extra wegen ihr einen nicht näher benannten Mitarbeiter mit Diplomstudiengang der Neuen Medien beschäftigt, der tags und manchmal auch nachts mit der Weiterverarbeitung ihrer Nachrichten beschäftigt sei. Auch hält sich das Gerücht, die Personalakte der Internetten sei nur wegen ihrer eifrigen Smartphonetätigkeiten bei allen Entlassungsgesprächen immer wieder unauffindbar. Viele, die dieses Gerücht verbreiten, stellen ungefragt der Internetten ihr Wissen zur Verfügung. Auch scheint ihr, dass die Chefs ihr gegenüber irgendwie aufmerksamer geworden sind, ihr neuerdings jede Menge Komplimente machen und sie des Öfteren in der Kantine zum Essen einladen.

Gelangt die Internette endlich auf Station, geht sie voller Ungeduld in die Zimmer, öffnet die Fenster und lässt die ersten Sonnenstrahlen auf die Gesichter der noch schlafenden Patienten scheinen. Sie klopft sie wach, nimmt die Becher vom Nachttisch, reicht sie ihnen an die Münder und fragt ganz nebenbei, wie viele Besucher gestern das Radrennen des Enkels hatte, wie das Essen derzeit schmeckt, wie laut sie die Musik beim diesjährigen Sommerfest des Krankenhauses fanden oder auch nur wie sie die Kleiderordnung auf einer Skala von eins bis zehn einstufen würden. Haben die Patienten ihre Informationen im Halbschlaf genuschelt, klopft sie ihnen anerkennend auf die Schulter, stellt die leer getrunkenen Becher auf die Nachttische zurück, notiert die Flüssigkeitsmenge im Einfuhrprotokoll, zieht die Decken bis zur Nasenspitze hoch, schließt die Fenster und gibt noch im Raume stehend umgehend Votings zur Genießbarkeit des Patientenessens, des Lärmpegels im Krankenhaus und zum schrillsten Ärztekittel an alle Whatsapp-Gruppen ihres ellenlangen Verteilers weiter. Und nur wenn die Daten mehr als zwei, drei SMS überschreiten, schiebt sie sich seit Neuestem in einen der sehr schmalen Patientenschränke, zieht das Tablet unter dem Shirt hervor und schreibt ausführliche Rundmails mit Grafikanhang und Balkendiagramm. Dabei kommt es ihr zugute, dass sie die eigens für diese schmalen Schränke begonnene Diät erfolgreich beendet hat. Anschließend kommt sie wie nach einem Toilettengang erleichtert aus dem Schrank, schiebt zufrieden die Tür zu und steckt das Tablet unters Shirt. Meist bemerkt sie erst jetzt, dass sie in der Zwischenzeit furchtbar müde geworden ist und sie dringend einen Frühstückskaffee braucht. Im Pausenraum angelangt, schiebt sich die Internette in ihre Lieblingsecke an die Stirnseite des Tisches, streift die Schuhe ab, legt die Beine hoch und lauscht gleichzeitig allen Gesprächen der Mitarbeiter. Da es sehr anstrengend ist, die Verwandten und Bekannten der Mitarbeiter auseinanderzuhalten, kann es schon mal vorkommen, dass der Internetten die Augen zufallen und sie in einen wohltuenden Sekundenschlaf hinabgleitet. Erwacht sie wieder, gibt sie die oft unvollständigen Sachverhalte in ihre beiden Smartphones ein. Nicht selten ist sie von der Brisanz ihrer neu gewonnenen Informationen so perplex, dass sie vor Schreck gleichzeitig in zwei, drei oder gar vier Brötchen beißt und den viel zu heißen Kaffee abwechselnd aus den umherstehenden Kaffeepötten runterschlüft. Ist die ihrer Meinung nach viel zu kurze Pause vorbei, zieht die Internette ihre Pantoletten an und fragt die Stationsleiterin, ob sie die Patienten in den OP fahren oder von dort abholen darf. Vorher schleicht sie in den Umkleideraum und wechselt ihre zwei schwächelnden Smartphones gegen zwei mit aufgeladenen Akkus. Die akkuschwachen Smartphones steckt sie an einer Verteilerdose an, die ihr ein Handwerker, aus der Schar der unendlichen Verehrer, in den Umkleideschrank heimlich eingebaut hat. Mit den zwei aufgeladenen Smartphones bewaffnet, schnappt sie sich ein im Gang geparktes Bett nebst Patient und beginnt ihre ausgedehnte Spazierfahrt durch alle Etagen und Winkel des Krankenhauses. Zuerst führt sie ihr Weg in die Wäscherei. Dort horcht sie was die Besungene an Zetteln, Eintrittskarten und anderen interessanten Fundstücken in den schmutzigen Wäschestücken gefunden hat und welche wichtigen Nachrichten sich daraus rekonstruieren lassen. Anschließend schiebt sie das Bett mitten in die Raucherinsel der Krankenpflegeschule, holt ihre Zigaretten heraus, steckt sich und dem halbschlummernden Patienten eine Zigarette zwischen die Lippen und gibt der qualmenden Schülerschaft Tipps, wo in den nächsten Nächten angesagte oder gar streng verbotene Tanzveranstaltungen mit anschließendem Nacktbaden stattfinden. Kommt die Internette von der kleinen Raucherpause an der Kantine vorbei, kann sie sich meist nicht beherrschen. Sie wirft ihre und des Patienten Zigarette in die Ecke, stellt das Bett mit dem magennüchternen Patienten neben den beleuchteten Lunchautomaten, zieht sich ihr saftiges Schinken-Käse-Sandwich mit Ei und Salat aus dem Automatenfach und stürmt an die Kasse zu Herrn Auskunft. Dort tauschen sie Speicherkarten mit verschiedenen Diagrammen und Grafiken aus und besprechen wichtige Kulturveranstaltungen, die im Umkreis von mindestens einhundertfünfzig Kilometern stattfinden. Und jedes Mal nimmt sich die Internette ganz fest vor beim nächsten Schwatz nicht wieder zwei, drei Stunden in der Kantine zu verweilen. Denn oft kommen die Patienten danach viel zu spät zu ihren OP-Terminen oder versterben, weil die Sauerstoffmaske zwischenzeitlich verloren gegangen oder der Infussiomat leer gelaufen ist. Sie übergibt ihre halbtoten Patienten am OP-Eingang und übernimmt die frisch operierten Patienten. Da das Handy im OP und ITS-Bereich keinen Empfang hat, hasst sie die Zeit der Übergabe und drängt das Personal zur Eile. Anschließend rast sie wie von der Tarantel gestochen mit dem Patienten in den Flur zurück und prüft mit zitternden Händen den Empfang ihrer beiden Smartphones. Mit der Fülle an Informationen beantwortet sie auf der Rückfahrt bereitwillig jedem Mitarbeiter, wann, wo, wie, welche wichtigen Veranstaltungen stattfinden, wie hoch die Eintrittsgelder sind, wie viele Karten sich überhaupt noch im Umlauf befinden und ob die Fragenden zu dieser oder jener außergewöhnlichen oder einmaligen Veranstaltung kommen müssen. Gern beendet sie ihre Tipps mit dem mahnenden Satz, dass ein Fernbleiben ein nicht wieder gut zumachender Frevel oder gar ein untrügerisches Zeichen von kultureller Einfältigkeit vor aller Welt darstelle und der Ferngebliebene sich nicht mehr bei Tage unter die Menschheit getrauen könne. Sind die Fragenden noch im Zweifel, schiebt sie den standardisierten Satz hinterher, dass auch sie todmüde sei, dass auch sie Wäsche in der Waschmaschine habe und auch ihre Fenster vor Dreck aus den Rahmen fielen, aber sie sich gar nicht mehr im Spiegel ansehen könne, wenn sie der Veranstaltung fernbliebe. So angeheizt beteuern die Informierten, dass sie in jedem Falle zur angemahnten Veranstaltung kämen. Oft trifft sie am Abend den Handwerker, der ihr fortwährend zulächelt, Teile ihres alten oder neuen Stationsteams oder gar ganze Abteilungen dort an. In diesen Momenten fühlt sie sich seltsam geborgen und glaubt sich ihrem großen Ziele näher, einmal alle Mitarbeiter des Krankenhauses als familiäres Ganzes zu erleben. Sie nimmt die Smartphones und macht Fotos, die sie als Panoramabilder in verschiedene Netzwerke stellt und mit den Namen aller Abgebildeten versieht. Die Gelungensten klebt sie später an einer der wenigen freien Plätze ihrer vier Meter hohen, weiß getünchten Wände der Drei-Zimmer-Altbauwohnung mit Außentoilette. In sehr guten Momenten gelingt ihr das Kunststück, die Anwesenden im Saale in tobende Begeisterung zu versetzen. Dann schunkelt sie so lange hin und her, bis die Anwesenden die von ihr vorgegebene Bewegung aufgreifen und in eine einzige Woge verwandeln. Nach solchen Veranstaltungen fährt sie nicht, wie sonst üblich, mit dem Taxi zum nächsten Ereignis, sondern schaltet ihre beiden Smartphones aus, nimmt ihre bunten Pantoletten in die Hand und planscht im Springbrunnen und träumt davon, endlich von einem schönen Mann entdeckt zu werden. Barfuß tanzt sie nach Hause. Sie legt sich ins Bett und schaukelt sich mit dem Rhythmus der abendlichen Woge in den wohl verdienten Schlaf und stellt sich die Frage warum sich niemand getraut, sie endlich anzusprechen. Und nur wenn sie wieder einen ihrer furchtbaren Albträume hat, schreckt sie aus ihrem Schunkelschlafe auf und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf ihre beiden Handys, die sie stets fest umklammert in den Händen hält. Dabei überlegt sie, was sie eigentlich machen wird, wenn sie, wie im Traume geschehen, wirklich in ein Funkloch fallen sollte.

Würde man den Pförtner nach ihr fragen, würde er sagen, dass sie eine ausgesprochene Handymacke hätte und er beim besten Willen nicht sagen könne, woher sie die viele Kohle nehme, um die täglichen Taxifahrten bezahlen zu können. Außerdem würde er behaupten, dass sie endlich einen Mann in ihr unstetes Leben lassen müsse. Dann würde sich das mit der Doppel-Handymacke und dem Taxirumgekutsche schnell legen. Außerdem könne er dann wieder seinen geliebten Pflücksalat abernten und zum Frühstück essen.

Die Gastnehmerin, Teil V

Sie steht auf, zupft ein verwelktes Blatt von der Grünpflanze, wirft es in den Mülleimer und geht auf die Toilette. Wie immer lehnt sie die Tür an und ich höre wie ihr Urin in die Schüssel läuft. Damit ich das Geräusch des Urinstrahls heute nicht hören muss, lege ich Jazzmusik in den Spieler und drehe die Musik laut. Sie kommt aus dem Bad und schimpft erwartungsgemäß, dass das furchtbare Affenmusik sei, dass die Nachbarn dieses Geheul auf keinen Fall dulden würden und auch sie bei der furchtbaren Musik sofort gehen werde. Ich schalte die Musik etwas leise, sage beiläufig, dass es mir leidtue und warte bis sie sich angezogen hat. Ich begleite sie zur Tür. Sie bleibt im Flur stehen und fragt, ob nicht doch etwas Geld in dem Geldbeutel sei und ob ich noch einmal gründlich nachsehen könne. Siegessicher gehe ich zum Küchenschrank zurück, nehme mit ausladender Handbewegung den Geldbeutel aus dem Fach, werfe ihn in die Luft und drücke ihn ihr in die Hand und ermuntere sie, doch selber noch einmal ganz gründlich hineinzusehen. Sie schaut hinein und dreht die Spitze ihres Schuhs, als wollte sie eine Zigarette austreten. Sie klopft mit der Hand auf die Oberfläche ihrer Tasche und flüstert, ob ich nicht wenigstens etwas Kleingeld im Portemonnaie sei. Die Gastnehmerin, Teil V weiterlesen

Die Gastnehmerin, Teil IV

Sie legt ihren Wunschzettel neben den Teller, zupft am Ärmel ihres zu großen Kostüms und schließt die Knöpfe. Sie streckt die Finger durchs Haar, dreht an ihren Locken und beißt mit ihrem schlecht sitzenden Gebiss auf die Unterlippe, dass es aus der Kieferleiste kippt. Erschrocken schiebt sie das Gebiss zurück und greift an die Goldkette, die bis zur Brustmitte hängt. Sie umgreift den antiken Anhänger mit dem ovalen Granat, den sie aus einem unbekannten Grunde als einzig verbliebenes Schmuckstück noch nicht verkauft hat. Mit dem Schmuckstück ihrer Großmutter pendelt sie heftig hin- und her, sodass ich die Befürchtung bekomme, die feinen Kettenglieder könnten reißen und der Anhänger auf dem Fußboden landen. Dabei höre ich ein rhythmisches Tippen unter dem Tisch. Ich drehe mich zu ihr herüber, höre wie das Geräusch lauter und schneller wird und überlege, wo ich es gehört habe. Es war bei ihrem letzten Besuch. Aus einem mir unerklärlichen Grunde bin in der darauf folgenden Nacht aufgewacht und hatte erkannt, dass sie immer dann, wenn sie etwas als unangenehm empfindet, mit dem Fuß auf den Boden tippt, als wollte sie lieber weglaufen. Sie lässt den Anhänger los, hält die Hand vor den Mund und fragt in kaum hörbarer Stimme: “Kannst Du mir etwas Geld leihen?“ Die Gastnehmerin, Teil IV weiterlesen