Flecken, dunkelblau (2)

(Fortsetzung des Textes von letzter Woche. Eine 78jährige Patientin einer geschlossenen psychiatrischen Station erörtert mit einem Psychologen die möglichen ursachen der unerklärlichen Verletzungen, die sie nachts erleidet.)

Oh, ich weiß, was sie sagen werden. Sie werden mir eine Nacht in einem Schlaflabor vorschlagen. Sie werden vorschlagen, dass wir dem Spuk leicht auf die Schliche kommen, wenn Sie mich unter Kameraüberwachung stellen und mein Gehirn an allerlei Elektroden anschließen. Am nächsten Morgen wüssten wir sicher mehr. Wissen wir nicht. Ich habe das schon hinter mir. Generell schlafe ich nicht in Schlaflaboren. Schlafen in einem Schlaflabor ist, als würden Sie versuchen in einem vollbesetzten Theatersaal auf der Bühne zu schlafen – unmöglich. Als ich zwei Nächte im Schlaflabor komplett durchwacht hatte, haben sie mir drei zusammenhängende Nächte dort gebucht. In der dritten Nacht war ich so erschöpft, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Es blieb alles friedlich. Selbstverständlich. Dass es im Schlaflabor nicht passiert ist, beweist gar nichts. Als würde es sich zeigen, wenn alle gucken!

Obwohl ich Sie sehr schweigsam finde, freut es mich, dass Sie mir nicht vorschlagen, dass ich mich fixieren lasse. Dr. Buchner war da nicht so zimperlich. Obwohl ich ihr in unseren Sitzungen mehrfach ausdrücklich gesagt habe, dass es für mich nicht in Frage kommt, mich an mein Bett fesseln zu lassen, standen eines dunklen Abends nach dem Abendessen zwei Pfleger mit einigen Riemen über der Schulter in meinem Zimmer. Wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe nicht geschrien. Ich habe nicht um mich geschlagen. Ich habe in meinem Leben lernen müssen, mich zu beherrschen. Wer hochkocht wird kaltgestellt. So war das früher, so ist das heute. Auch wenn das System ein anderes ist. Egal welche Regeln gelten, junger Mann, Sie sollten sie kennen. Nicht, um sich selbst zwangsläufig an jede einzelne zu halten, sondern auch, um es sich zu Nutze machen zu können, wenn andere dagegen verstoßen. Heutzutage ist ein richterlicher Beschluss nötig, um Patienten gegen ihren ausdrücklichen Willen an ihrem Bett zu fixieren. Die Pfleger ruhig mit Namen anzusprechen und sie freundlich darauf hinzuweisen, dass sie sich strafbar machen, wenn Sie mich anrühren würden genügte, um sie aus meinem Zimmer zu vertreiben.

Dr. Buchner versuchte anschließend noch einmal mir einzureden, dass dies alles nur zu meinem Besten geschehen wäre, nur um sicherzugehen, dass ich nicht schlafwandle. Aber ich schlafwandle nicht. Ich weiß, was ich tue, das wusste ich immer, auch, wenn manches, das ich tat heute nicht mehr zu leicht zu verstehen ist. Ich bot ihr an, einen Ring aus Glöckchen um mein Bett zu ziehen und morgens nachzusehen, ob alle Glöckchen noch an ihrem Platz seien. Wir wären hier nicht bei Hofe, erhielt ich zur Antwort, ich sei keine Prinzessin und sie würde sich nicht mit Glöckchen zum Narren halten lassen. Abgesehen davon, dass ich so noch nie habe mit mir reden lassen, habe ich nicht verstanden, was sie mir damit sagen wollte. Verstehen Sie das?

Ich sprach mit Pavel beiläufig darüber. Der erzählte mir, dass jetzt winzige Kameras erfunden worden seien, die sich im Zimmer aufstellen ließen und das Geschehen einer ganzen Nacht aufzeichnen könnten. Wissen Sie davon? Ist das nicht haarsträubend? Wie klein diese Dinger sein sollen? Wo sie sich überall verstecken ließen? Wissen Sie, ich wurde in einem Land geboren, in dem das Falsche zu denken zu ernsthaften Problemen führen konnte. Ich habe vielversprechende Karrieren scheitern sehen, weil Studenten die falschen Bücher lasen, Intellektuelle mit den falschen Leuten verkehrten, oder sich Professoren dazu hinreißen ließen, das Vervielfältigungsgerät in ihrem Büro zur Produktion von Flugblättern zur Verbreitung des falschen Gedankenguts zur Verfügung zu stellen.

Natürlich kann man darüber streiten, was richtig und falsch ist. Wenn Sie das mögen, verabreden Sie sich mit meiner Tochter, die sucht noch nach einem ambitionierten Gegenüber für diese Art von Zeitvertreib. Ich finde diesen Streit müßig. Was richtig und falsch ist, diktiert das System, die Zeit, die Gesellschaftsform. Das war früher so, das ist heute so. Wer will mir vorwerfen, dass ich mich an die Regeln gehalten habe?

Ich bin in der geschlossenen Abteilung gelandet, weil es mir nicht gelungen ist, mich an die Regel zu halten, nicht aufzufallen. Auch die gilt schon immer. Meine Tochter hatte mich mit einer Lungenentzündung einliefern lassen – keine große Sache bei Patienten mit meiner Diagnose – und ihre Kollegen im ersten Stock haben die kuriert. Alle waren sehr nett zu mir, außer dieser alte Mann, schräg den Gang rüber. Der hatte so eine lange Narbe den Hals entlang, das sah fürchterlich aus. Ich weiß nicht, was er gegen mich hatte, er sprach kein Wort mit mir, aber sein Blick – kalt, bitter – war beinahe durch die Wand zu spüren. Das Problem waren aber nicht die Mitpatienten, das Problem war Schwester Sabine. Anstatt sich um ihren Kram zu kümmern, hat sie besonders Acht auf mich gegeben, nachdem Sie beim Bettenmachen ein ausgerissenes Büschel Haare auf dem Kopfkissen gefunden hatte. Sie fing an, Fragen zu stellen. Ob das zu Hause auch passiert wäre – ist es nicht. Ob ich wisse, was genau passiert sei – weiß ich nicht. Ob ich wisse, wer das getan hat. Zuerst dachte Sie, meine Tochter würde mir die Verletzungen beibringen, was dazu führte, dass sie mich nicht mehr aus den Augen ließ, wenn meine Tochter mich besuchte. Mir kam das ganz gelegen, weil meine Tochter immer wieder mit den alten Geschichten anfängt, wenn wir allein sind; immer wieder mit den alten Kamellen, die sie nicht und nicht versteht, so oft ich sie ihr auch erkläre. Aber als die Schwester begriff, dass meine Tochter harmlos ist, jedenfalls was tätliche Übergriffe angeht, unterstellte sie mir, dass ich mich selbst verletzen würde. Der Arzt folgte ihr. Ich wurde hierher verlegt. Und hier sitzen wir nun. Sie in schweigsamer Ratlosigkeit. Und ich? Im redseligen Tanz um den heißen Brei.

Ach, ich würde Ihnen gern hinter die Stirn sehen. Was denken Sie von der Alten, die hier in Unterwäsche vor Ihnen sitzt? Nein, nein, sagen Sie nichts, Sie würden bestimmt etwas Nettes sagen, aber Sie sollen mich mit Floskeln verschonen. Vielleicht sind Sie religiös und halten meine Wunden für ein Wunder. Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, was diese beiden Worte miteinander zu tun haben? Wunde und Wunder? Ein Wunder ist es, wenn jemand unverwundet bleibt, soviel habe ich gelernt. Während manche Menschen am Ende ihres Lebens Engelerscheinungen haben, werden andere eben von Dämonen gebissen – klingt doch logisch, oder? Nein? Nein. Sie glauben nicht an Hokuspokus. Sie sind ein vernünftiger Mensch. Wie ich. Meine Vernunft war die einzige Ressource, auf die ich mich immer verlassen konnte.

Wahrscheinlich halten Sie mich für eine Hochstaplerin. Wahrscheinlich hätten Sie große Lust, meine Habseligkeiten zu durchwühlen auf der Suche nach einem dieser VampirGebisse aus Plastik, die man sich zur Faschingszeit in den Mund steckt, weil sie vermuten, dass ich mich damit nachts in die Schenkel beiße um mich ein bisschen interessant zu machen. Das aber habe ich nicht nötig.

Jetzt fange ich schon an, Ihnen die krudesten Gedanken zu unterstellen. Alles nur, weil Sie mich nichts fragen. Fragen Sie mich ruhig. Ich werde Ihnen ehrlich antworten. Ich habe immer ehrlich geantwortet, auch wenn das nicht immer nett war. Ich habe Ihnen ehrlich geantwortet, als sie vorhin idiotischerweise von mir wissen wollten, wie ich geschlafen habe. Und ich habe auch damals ehrlich geantwortet, als ich nach der Verwendung des Kopierers im Professorenbüro gefragt wurde.

Es gibt Menschen, die mir das später als Verrat vorgeworfen haben. Aber was ist Verrat? Verrat ist, das eine zu predigen und das andere zu tun. Ich habe nicht gepredigt, schon gar keine Prinzipien. Prinzipien sind Ideologien und von Ideologien sollte man sich fernhalten, das weiß ich nach 78 Lebensjahren. Ich habe lediglich ehrlich geantwortet.

Und die Konsequenzen? Die Konsequenzen konnte ich doch damals gar nicht abschätzen. Prognosen sind auch so eine Sache von der man sich fernhalten sollte. Im Rückblick erscheinen die Ereignisse gern folgerichtig und schlüssig sogar die unwahrscheinlichen. Und wenn die Konsequenzen für einige Menschen unangenehm waren, ist das dann meine Schuld? Man muss schon genau hinsehen: Was ist die Konsequenz woraus? Kann es jemals falsch sein, eine Frage ehrlich zu beantworten?

Entschuldigen Sie, ich schweife ab. Was denken Sie? Auch so ein merkwürdiges Wort: Entschuldigung. Als könnte man das einfach sagen und dann wäre alles wieder gut. Was denken Sie?

Veröffentlicht von

Korbinian

Korbinian Saltz wurde im November 1978 in Kapstadt geboren. Seitdem ist er unterwegs in Richtung Norden. Weil er ein miserabler Fotograf ist, versucht er alles, woran er sich erinnern möchte in Worten zu bewahren. Einige davon veröffentlicht er hier. Andere auf korbiniansaltz.de

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