Blinder Alarm

So, damit sie etwas zur Ruhe kommen, habe ich Ihnen den Fernseher angestellt. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich gebe Ihnen die Fernbedienung und dann können Sie sich einen Lieblingsender raussuchen. – Haben Sie Engegefühl in der Brust? Luftnot?

Das Herz hört auf zu schlagen. Sämtliche Organe werden nicht mehr mit Blut versorgt. Sauerstoff und Nährstoffe werden nicht mehr über das Blutkreislaufsystem transportiert.

Nein, im Moment nicht. Das tut alles mir leid, Frau Doktor, dass ich Sie wieder belästige. Aber mir ging es vorhin nicht gut. Wirklich, ich…. Und da hatte ich gedacht, ehe wieder etwas mit mir passiert und ich wie letztes Mal zwei Tage in der Wohnung liege und rufe…

Das Hirn wird nicht mehr durchblutet. Nach drei Minuten ist es dauerhaft geschädigt und es treten Enzyme aus, die die Hirnzellen auflösen.

Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab. Das kennen Sie ja. Und in zehn Minuten, wenn wir den Troponinwert haben, wissen wir mehr. Eine Grippe oder Ähnliches hatten Sie nicht in der letzten Zeit? Machen Sie den Arm lang und eine Faust! Das gibt jetzt einen Stich.

Nach dem Stopp der Blutzirkulation sinkt die Temperatur des Körpers.

Wissen Sie, Frau Doktor, mir war schlecht, die Finger waren kalt und ich habe am ganzen Körper gezittert.

Der Haut beginnt kühl und blass zu werden.

Das ist mir alles unangenehm. Seit gestern spielt mein Blutdruck verrückt. Ach, ich mache Ihnen wieder Arbeit. Aber ich, ich hatte auf einmal so ´ne Angst, das Herz klopfte ganz schnell und mir blieb die Luft weg. Ich habe mich gar nicht getraut anzurufen. Und die am Telefon haben zu mir gesagt, dass sie dieses Mal nicht kommen wollen und es sowieso wieder nur blinder Alarm ist. Und dann, dann habe ich all meinen Mut gesammelt und durchs Telefon gerufen, dass ich mir das nicht gefallen lasse.

Nach 15-30 Minuten sterben die Zellen des Herzens ab.

Frau Renner, machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt geben wir Ihnen Sauerstoff. Und eine Herzultraschalluntersuchung bekommen Sie auch noch. Strecken Sie mir den Zeigefinger entgegen! Ich lege Ihnen jetzt eine Klammer um den Finger, damit kann die Sauerstoffsättigung besser kontrollieren kann. Und einen weiteren Hub Nitrospray gebe ich Ihnen auch noch.

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Niere.

Wie war denn das mit dem Blutdruck, Frau Renner?

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Leber.

Ich habe wie immer meinen Blutdruck mit meinem Gerät von der Hausärztin gemessen. Und da habe ich gesehen, dass er sehr niedrig war. In der Nacht habe ich kaum geschlafen. Und morgens, da bin ich wie immer aufgestanden, nur etwas früher, weil ich nicht mehr schlafen konnte und habe Frühstück gemacht, aber nichts gegessen, nur Kaffee getrunken. Und dann bin ich schlagartig müde geworden und musste mich auf das Sofa legen.

Leichenflecken entstehen. Blut und andere Flüssigkeiten sinken durch die Schwerkraft langsam an die unteren Stellen des Körpers.

Nehmen Sie Ihre Medikamente regelmäßig ein, Frau Renner?

1-2 Stunden nach dem Tod sterben die Zellen der Lunge.

Ja. Alle 14 Tabletten über den Tag verteilt. Wissen Sie, früher wollte ich nie Medizin nehmen. Nachdem mein Mann von einer Bahn überfahren wurde, habe ich ein Jahr lang daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Die neugeborene Tochter hat mich aber davon abgehalten. Und jetzt, jetzt komme ich seit Jahren aller naselang als Heulsuse in Ihre Notaufnahme. Ich schäme mich. Eigentlich will ich das alles gar nicht mehr.

Nach 2-4 Stunden setzt die Todenstarre ein. Sie beginnt zuerst am Kiefergelenk und geht auf Hals, Nacken, Rumpf, Beine und Arme über. Nach ca. 6-8 Stunden ist sie voll ausgeprägt. Nach 1-3 Tagen löst sie sich wieder auf.

Dafür sind wir da, Frau Renner. Sie haben schließlich vier Infarkte in 30 Jahren überstanden. Ich hole den Oberarzt, er soll sich noch einmal das EKG ansehen. Sie sagten eben etwas von Ihrer Tochter. Haben Sie die Telefonnummer parat?

Nach 8 Stunden beginnen die Muskeln des Körpers abzusterben.

Muss ich hierbleiben?

Magen und Darm arbeiten noch bis zu 24 Stunden weiter. Danach beginnen sie sich selbst zu verdauen. Schließlich lösen sie sich auf. Der Körper beginnt zu verwesen.

Ja, Frau Renner. Es war dieses Mal eine gute Entscheidung, herzukommen. Ich denke, dass Sie bei uns bleiben werden. Ich bringe nur schnell Ihre Blutentnahme rüber und schaue danach gleich noch einmal zu Ihnen. Dann erzählen Sie mir ausführlich von dem Mut, den Sie damals nach dem Tod Ihres Mannes bewiesen haben.

Veröffentlicht von

Michael Elias

So wie er sich in politischen Dingen nicht festlegt - er hat zwei Systeme mit ihren Vor- und Hinterteilen kennengelernt - so ist auch seine Sprachform unentschieden. Er bleibt vielmehr auf der Suche nach den jeweiligen zusammengehörigen Sätzen. Er lebt über den Dächern von Leipzig; zwischen den Zeilen stürzt er sich mit offenen Augen ins Nachtleben.

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